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1. KAPITEL

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„Die Gärten, die Gärten müssen Sie gesehen haben, meine Herren. Sie sind wirklich wunderschön“, sagte Maria. Eine kleine Unsicherheit hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Für einen kurzen Augenblick hatte Rüdiger sogar den Eindruck, als schwanke sie leicht. Dabei erschien sie ihm sonst als ein Wunder an Standfestigkeit.

„War das jetzt eine Anspielung auf irgendetwas, Gnädigste?“, fragte Jan und bleckte für einen kurzen Augenblick die Zähne wie ein Raubtier. Anschließend leckte er sich in Zeitlupe einen Krümel von der Oberlippe.

„Hör bitte auf, Jan“, zischte Rüdiger seinem Freund zu.

„Genau“, flötete Fipp. „Rüdiger hat recht. Verschone uns mit deinen Fantasien, Jan. Das war ein völlig ernst gemeinter Vorschlag. Wir sollten dankbar sein für jeden Tipp.“

„Ich gehe dann mal wieder“, sagte Maria und machte Anstalten, sich umzudrehen. „Oder möchte vielleicht doch noch jemand einen Kaffee? Was ich hier drin spüre, langt noch mindestens für zwei Tassen.“ Sie wackelte ein wenig mit dem Tablett herum, das sie in der Hand hielt. Es wirkte ungeschickt und fahrig.

Irgendetwas stimmt nicht mit ihr, dachte Rüdiger. Sonst wechselte sie kaum ein Wort mit ihnen und jetzt biederte sie sich fast an.

„Ja, sehr gerne“, sagte Fipp und strahlte. „Der Kaffee bei Ihnen ist wirklich ausgezeichnet.“

„Das freut mich“, sagte Maria und lächelte müde.

Sie war die schönste Frau Südtirols, ohne jeden Zweifel. Oder wenigstens die schönste Frau, die sie seit Langem getroffen hatten. Blond, honigblond, grünäugig. Das Dirndl, das sie trug, war ihr wie auf den Leib geschneidert. Dass sie eine Kindheit zwischen blühenden Apfelbäumen erlebt hatte, ahnte man. Und doch schien es so, als habe sie seit Wochen kein Tageslicht mehr gesehen. Rüdiger spürte den Impuls, ihr helfen zu wollen, aber was sollte er tun?

Formvollendet hielt Fipp ihr seine Kaffeetasse mit Untersetzer hin. Rüdiger registrierte, dass Marias Hand leicht zitterte, als sie den Kaffee eingoss.

„Weißt du was, Schätzchen, mach mir doch auch noch einen“, sagte Jan. Er hielt ihr die Tasse hin, winkelte dabei aber seinen Arm so an, dass sich Maria über den Tisch beugen musste, um einzugießen. Rüdiger spürte, dass sie zögerte. Jans Absicht war eindeutig. Er wollte, dass sie sich zu ihm hinunterbeugte.

„Du kannst sie doch nicht einfach duzen und ‚Schätzchen‘ nennen.“ Fipp grinste und wischte sich eine Locke aus dem Gesicht. So aufgekratzt wie heute Morgen hatte Rüdiger ihn schon lange nicht mehr erlebt.

„Quatsch, Jungs, sie versteht mich schon richtig“, erwiderte Jan. „Los, mach mir jetzt endlich einen Kaffee!“

Maria streckte ihren Arm aus und goss. Nur ein Teil des Kaffees landete in der Tasse. Der Rest färbte die Tischdecke schwarz. „Ich lasse das in Ordnung bringen“, sagte Maria, drehte sich um und verschwand.

„Die braucht Urlaub“, sagte Fipp.

„Echt“, antwortete Jan und hakte seine Daumen unter den Hosenträgern ein. Gefährlich wippte er auf seinem Stuhl hin und her. „Oder einen Kerl. Ich glaube, sie steht auf mich.“

Der Frühstücksraum, in dem Rüdiger mit seinen beiden Freunden Jan und Fipp saß, trug den Namen eines berühmten Berges, der nicht weit von hier steil aus dem Nichts emporwuchs. Bei gutem Wetter konnte man die Spitze mit dem Gipfelkreuz deutlich sehen. Der Raum selbst war nicht sehr groß, ein paar Vierertische, ein paar Zweiertische. Die Wände waren in sanftem Lindgrün gestrichen, das von schlichten Schwarz-Weiß-Fotografien unterbrochen wurde, auf denen Pflanzen – oder genauer gesagt Teile von Pflanzen – in Detailaufnahme zu sehen waren. Versehen waren die Fotografien mit rätselhaften, esoterisch anmutenden, handgeschriebenen Untertiteln. „Rinde eines Ölbaumes, älter als Elefantenhaut“ stand unter einem der Bilder, was auch immer dies bedeuten mochte. Ein echter Stilbruch in dieser Welt der Schlichtheit war der fast lebensgroße, in grellen Farben auf südamerikanische Art bemalte Jesus aus Holz, der an der Wand festgemacht war. Vom Kreuz aus schien er den Tisch mit den Teigwaren zu bewachen. Er brachte eine gewisse Schwere an diesen Ort, der zwar nicht vor Lebenslust strotzte, aber bei aller Nüchternheit etwas Freundliches ausstrahlte. Doch heute hatte ein Sonnenstrahl den morgendlichen Dunst durchbrochen und ließ das Gesicht des Gekreuzigten erstrahlen. Jesus schien zu sagen: „Jungs, ihr seid in Ordnung!“

Rüdiger, Fipp und Jan hatten einen Vierertisch direkt am Fenster ergattert. Die Stimmung im ganzen Raum war heiter-gedämpft, ein sanftes Gemurmel, unterlegt von kleinen Jazzmelodien. Etwa jeder zweite Tisch war besetzt. Es roch nach Kaffee und frisch gepresstem Traubensaft. Die Berge lagen noch im Nebel.

„Die Feigenmarmelade schmeckt himmlisch“, sagte Jan, verschränkte die langen Finger im Nacken und gab sich keine Mühe, ein Gähnen zu unterdrücken. „Von der müssen wir unbedingt was mitnehmen. Am besten einen ganzen Laster voll.“

Wenn es die schöne Maria, ihre Hotelwirtin, nicht gegeben hätte, wären sie wahrscheinlich schon lange nicht mehr in Südtirol gewesen, sondern schon weiter im Süden, wo es vermeintlich sicherer war. Rüdiger wusste, dass sie auf der Flucht waren, auch wenn sie als Wanderreise und Herrenausflug getarnt war. Sie flohen vor der Polizei und vor ihren Gläubigern. Notgedrungen hatten sich die drei einen Anwalt nehmen müssen, der als Spezialist für Betrugsfälle galt. Dass sie sich selbst nicht als Betrüger sahen, interessierte niemanden. Wenigstens der Anwalt stand auf ihrer Seite. Er war offenbar wirklich ziemlich fähig, verschlang jedoch leider Unsummen. Es war zwar immer noch eine Menge an Geld auf den verschiedenen Konten vorhanden, aber die Zahlen schienen sich vor ihren Augen langsam, aber stetig in nichts aufzulösen. Ansonsten hätten sie sich auch niemals in so einem kleinen und vergleichsweise billigen Hotel einquartiert. Und unter gar keinen Umständen hätten sie sich zu dritt ein gemeinsames Zimmer genommen.

Doch der Morgen war einfach zu schön, um sich Sorgen zu machen. Es würde ein kristallklarer Tag mit gestochen scharfen Farben werden. Zum ersten Mal seit Langem fühlte Rüdiger wieder Tatendrang in sich. Er sprang auf und rannte fast in Richtung Saftpresse. Dort machte er sich einen wunderbaren Karotte-Apfel-Saft. Das Vibrieren der Maschine übertrug sanfte Schwingungen auf seinen Magen. Gierig trank er noch im Stehen ein paar Schlucke und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von den Lippen. Was für ein wunderbares Frühstück! Mit wie viel Liebe angerichtet! Es gab selbst gebackenen Kuchen, Törtchen, Käse aller Art, mit Weintrauben und Feigen kunstvoll garniert, eine Platte mit hauchdünn geschnittenem Südtiroler Schinken und tausend andere Dinge, die einen Menschen glücklich machen konnten. Vielleicht war es ein guter Gedanke, heute ausnahmsweise mal keine Bergwanderung zu machen, zumal Rüdiger die Berge aus der Ferne weit schöner fand als aus der Nähe.

„Hey, Leute“, sagte Rüdiger und stellte sein Glas mutig mitten auf den Frühstückstisch. „Vielleicht wäre es ja eine Idee, heute, zur Feier des Tages, mal etwas Neues auszuprobieren. Habt ihr eine Ahnung, was genau die Gärten sind?“

„Keine Ahnung“, meinte Fipp. „Wahrscheinlich aber etwas mit echten Pflanzen, vermute ich mal.“

„Warum sollen wir denn in Gärten abhängen …“, kommentierte Jan.

„Wo wir doch auf Berge wollen!“, ergänzte Fipp.

Anschließend lachten beide, bis ihnen die Tränen kamen.

Hotel Z

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