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Ich gestehe, dass mir Xaverias Vorschlag durchaus gelegen kam. Die Schittecks hatten uns noch längst nicht alle Geheimnisse offenbart.

Ob mir damals auch schon dämmerte, dass es ein Ende mit Schrecken sein würde, kann ich heutzutage nicht mehr sagen. Mein Gedächtnis hat etwas gelitten in den vergangenen Monaten.

Wie brachten sie es fertig, mit solcher Rücksichtslosigkeit alle Regeln des menschlichen Zusammenlebens zu verletzen?

Steckte vielleicht irgendeine Art von Ideologie dahinter?

Und wer war ihr "Chefideologe"?

Etwa Elvira, die Mutter? Oder sollte es wirklich Schittecks zahnloser alter Mund sein, der all die neuen Wahrheiten verkündete, mit denen man sich so mühelos über eine zweitausend Jahre alte Tradition menschlicher Verhaltensnormen hinwegsetzte?

Schitteck senior machte eher den Eindruck eines biederen Kleintierzüchters auf mich.

Ich ging ins Badezimmer, und während ich meine Hose für meine allmorgendliche Behandlung mit DDT-Pulver herabließ, warf ich einen Blick zum Haus der Schittecks.

Am Bootssteg dümpelte der flache Lagunenkahn, auf dem der alte Schitteck mit soviel Ausdauer im hohen Uferschilf herumzustaken pflegte, die brauenlosen Glubschaugen wie ein Fisch aufs Wasser gerichtet, als halte er nach Plankton Ausschau. Es war fünf Uhr morgens. Nebelschwaden standen über dem Uferschilf.

Das Wasser des Dr.-Clemens-Kleiberbachs aus Brookmanns wassertechnischem Kellerlabor umspülte malerisch unsere Verandastufen. Eine unnatürliche Ruhe lag über BIO-EINS. Das bleigraue Licht umschloss alles wie eine Faust. Es gab nur ein einziges Phänomen am gegenüberliegenden Ufer, das diese einförmige Lichtstimmung unterbrach: ein grüngelber Schein, der aus dem Schitteckschen Wohnzimmerturm fiel.

Die hohen Fenster projizierten drei perspektivisch verzerrte Vierecke auf das unbewegte Wasser, und wegen des unnatürlichen Lichts hinter den Scheiben war ich sofort davon überzeugt, bei den Schittecks werde eine Messe abgehalten. Je länger ich durch das offene Fenster zum Haus hinüberstarrte und mir die Reste des DDT-Puders aus der Schambehaarung klopfte, desto deutlicher meinte ich auch den Geruch von Räucherkerzen wahrzunehmen ...

Ich zog meinen grüngrauen Frotteebademantel an, der fast die Qualität eines Tarnanzugs hatte, und ging zum Ufer hinunter. Der Boden war sumpfig. Ich hätte lieber Schuhe statt Pantoffeln anziehen sollen, denn einer blieb nach ein paar Schritten im Schlamm stecken, und als ich ihn herauszuziehen versuchte, trieb er mit dem ablandigen Wind ins tiefere Wasser hinaus und versank ...

Ich warf den anderen hinterher und ging barfuß weiter. Vom Haus her war monotoner Gesang zu hören – so leise, als würde er durch dicke Mauern gedämpft.

Weil die Verandatüren abgeschlossen waren und kein Fenster aufstand, machte ich mich über die Kellerfenster her. Den frischen Schweißnähten der Gitter nach zu urteilen, hatte sich erst kürzlich jemand damit besondere Mühe gegeben. Brookmanns Haus war ein solider Backsteinbau aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, kein fragiles Gebilde aus Lehm-Knochenleim-Sägemehl-Mischung wie unsere Bungalows.

An den Gittern hingen handtellergroße Vorhängeschlösser, ein weiterer schlagender Beweis für die Richtigkeit der alten Regel, dass Diebesgesindel sich am besten vor Einbrechern schützt. Ich versuchte den Gesang zu verstehen. Weder die Melodie noch ihr Text waren eindeutig zu identifizieren. Es klang nicht wie Kirchenmusik. Ich summte probeweise ein paar Takte mit – aber in diesem Augenblick erklang hinter mir ein Knurren.

Es war ein glänzender schwarzer Rottweiler mit braunroten Abzeichen – größer als ein Pony. Seine Stummelrute deutete nach unten wie ein abwärts gerichteter Daumen.

"Mach, das du wegkommst", sagte ich in einem Tonfall, der jeden verständigen Haushund sofort gewarnt hätte. "Geh mit Frauchen Gassi ..."

Doch er machte keine Anstalten, meinem gutgemeinten Ratschlag zu folgen, sondern fletschte nur die Zähne und kam knurrend näher. Ich wich langsam zurück, bis ich an der Veranda war. Als ich meinen Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, machte er einen Satz nach vorn und fixierte mich mit drohendem Blick.

"Braves Hundchen, Gassi, Gassi ...! Wo, verdammt noch mal, ist dein Frauchen?"

Das hätte ich nicht sagen sollen. Vielleicht fasste Rottweiler Schitteck es ja als Beleidigung auf (ein Hund seiner Größe und Klasse konnte seine Notdurft auch allein verrichten, er war sein eigener Herr und brauchte keine Hilfe). Er schnappte blitzschnell nach meiner linken Hand. Ich spürte einen rasiermesserscharfen Biss und stolperte gegen die Verandascheibe.

Das Untier stieß eine Art Triumph- oder Freudengeheul aus. Zumindest scheint mir diese vermenschlichende Ausdrucksweise in der Erinnerung als die einzig angemessene Bezeichnung für das, was er von sich gab. Dann richtete er sich vor mir auf und begann mein Gesicht zu lecken.

Ich versuchte eine Zeit lang vergeblich seiner langen Zunge zu entgehen.

Doch sobald es mir gelang, den Kopf unter meinen erhobenen Armen zu verbergen, signalisierte mir sein drohendes Knurren, dass seine Kieferkräfte ausreichen würden, um mit einem einzigen Biss meinen Unterarmknochen zu zertrümmern.

Ich ließ hilflos die Arme sinken.

Er arbeitete sich langsam von meinem schütteren Kopfhaar über Stirn, Augen und Wangen zum Kehlkopf vor, und als er dort angelangt war – als ich seinen säuerlichen Atem roch und das Funkeln in seinen besessenen Augen entdeckte –, begriff ich endlich, welche Art von Liebkosung das war.

Genau die gleiche, die man einer Hähnchen- oder Hammelkeule angedeihen lässt, bevor man sie in Stücke reißt. Er nahm mit seiner Zunge Maß. Er war auf meinen Kehlkopf scharf. Er zögerte den Augenblick des Zubeißens nur hinaus, um den Genuss zu steigern ...

Ich schlug mit der Faust gegen die Verandascheibe. Einmal, zweimal, dreimal ... während seine funkelnden Augen keinen Blick von mir ließen!

Das Singen hinter den Mauern verstummte für einen Moment. Aber anstatt die Pause beherzt zu nutzen, brachte ich nur einen einzigen, kläglichen Hilferuf heraus. Dann verstopfte mir die feuchte Zunge der Bestie auch schon den Mund, und ich sank würgend in mich zusammen, kauerte ohnmächtig auf dem kalten Stein.

Das schien meinen Freund mit dem Stummelschwanz königlich zu amüsieren. Er hatte mich auf seine eigene Körpergröße verkleinert. Sein Selbstbewusstsein wuchs ins Unermessliche, er umsprang mich (oder das, was von mir übrig war) so begeistert, als treffe er einen alten Bekannten wieder.

Warum ging man ohne Klappmesser vors Haus?

Was brachte einen aufgeklärten Menschen mit zwölf Semestern Philosophiestudium dazu, sich schutzlos, barfuss und im Bademantel vor die Haustür zu wagen?

"Mistvieh ..."

Anscheinend beherrschte er die deutsche Sprache auch nicht viel schlechter als mancher Einheimische, denn die Antwort, die er mir knurrend und zähnefletschend zukommen ließ, war unmissverständlich:

"Ein einziger Biss in die Kehle, mein Lieber, und all deine Arroganz entpuppt sich als das, was sie ist: als menschlicher Allmachtswahn, als erfolglose Verdrängung des Gedankens, dass wir sterblich sind – ein armseliger Haufen Moleküle und durch eine einzige scharfe Zäsur unwiderruflich in den letzten, den endgültigen Aggregatzustand zu überführen ..."

Ein vorüberhoppelndes Kaninchen rettete mir an diesem Morgen das Leben!

Es kam aus dem Uferschilf wie jener gute Schutzengel, auf den nur die wahrhaft Gläubigen hoffen dürfen. Der Lohn eines gottgefälligen Lebens. Wäre das Tier weiß statt braun gewesen und ein gleißender Lichtstrahl über ihm in den Himmel gestiegen, hätte man es als wunderbare Erscheinung bezeichnen können.

Der Jagdinstinkt der Bestie erwachte. Sie versuchte mich in Schach zu halten und sich zugleich den hübschen dunkelbraunen Gevatter Plüsch einzuverleiben.

Das Kaninchen saß mit gespitzten Ohren auf der Wiese und äugte neugierig herüber, als erwarte es jeden Augenblick den Auftakt der Jagdsaison ...

Aber uns beide zu fressen, war für Rottweiler Schitteck eine Rechnung, die nicht aufging. Die Gier hat schon manchen um den Erfolg gebracht.

Als ich frierend, mit blutender Hand und zerschundenen Füßen an meiner Verandatreppe angelangt war, flog drüben eines der Fenster auf, und Elviras erboste Altfrauenstimme rief: "Schitteck, sofort bei Fuß! Wirst du wohl gehorchen ..."

Die Kreatur gehorchte. Sie wusste, wer ihr Herr und Meister war. Einer solchen Stimme widersetzt man sich nur einmal.

Schwarzer Freitag

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