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Er war überrascht, wie wenig Notiz eine Umgebung von ihm nahm. Die Leute hatten vollauf mit sich selbst zu tun. Von der rheinischen Wesensart schien im hektischen Straßenverkehr und Einkaufsrummel wenig übrig zu bleiben. Iven konnte das nur recht sein. Er wurde von niemandem angesprochen und sprach selbst niemanden an.

Unter dem Eigelsteintor war Markt, und Iven ersetzte Karwels Socken, die ihm um einiges zu groß waren, an einem Textilstand durch drei kleinere Paare. Das städtische Treiben außerhalb des Zentrums erinnerte ihn ein wenig an Berlin.

Die Zeitungen waren unerhört offen, aber die Leute schienen sich daran gewöhnt zu haben.

Er genoss es, sich treiben zu lassen …

Seit Monaten, seit der Tretmühle der Abteilung, nächtlichen Sitzungen, eintreffenden Depeschen, die entschlüsselt und beantwortet werden mussten, den kleinen täglichen Siegen und Niederlagen, die nicht weniger Nerven kosteten als die großen, war er kaum zur Ruhe gekommen.

Von hier aus kam ihm seine Arbeit beinahe unwirklich vor. Die kleinen Leute um ihn her sahen keinen “Klassenfeind“. Für sie war er nicht mehr als ein Phantom. Die Rede vom „Sieg des Proletariats“ wäre ihnen nur eine hohlklingende Phrase gewesen. Wenn sie schimpften, dann so, wie man überall in der Welt schimpft.

Wenn sie unzufrieden waren, dann wegen ihrer ganz persönlichen Ängste und Sorgen – Beulen im Kotflügel, Ansteigen der Ölpreise waren ihnen wichtiger.

In den nächsten Tagen erledigte er verschiedene Wege.

Er hob von Karwels Bank einen größeren Geldbetrag ab, der ihm durch den Holländer überwiesen worden war, kaufte in den umliegenden Geschäften ein, beim Krämer an der Ecke wurde er diskret auf eine offenstehende Rechnung hingewiesen, brachte Kleidung in die Wäscherei und verhielt sich wie er glaubte, dass sich ein arbeitsscheuer Stempelgeldempfänger verhalten hätte.

Der Aufforderung des Arbeitsamtes zur Meldung kam er nicht nach, das schien ihm zu gefährlich. Er riskierte lieber eine Sperrfrist.

Auf Karwels Geld war er ohnehin nicht angewiesen. Die eigenen Leute – und erst recht die Russen – knauserten nicht, wenn es um wichtige Projekte ging. Da Karwel sein Spielchen schon über einen längeren Zeitraum trieb, würde er den Berufsberatern zur Genüge bekannt sein. Eine einzige falsche Bemerkung konnte ihn verraten.

Niemand nahm Notiz von ihm, niemand schien ihn vermisst zu haben. Nicht ein einziges Mal sprachen ihn Nachbarn im Haus an.

Er wurde höflich gegrüßt, doch im übrigen gingen sie ihm aus dem Weg. Iven gewann den Eindruck, dass Karwel zwar gut bekannt in dem Viertel, aber nicht sonderlich gern gesehen war. Es traf auch keine weitere Post ein.

Bei der Bank teilte man ihm mit, dass er sein Konto um neunhundert Mark überzogen hatte. Nach der Überweisung des Holländers, die vom Konto einer Scheinfirma in Krefeld stammte, und der Anrechnung der Überzugszinsen sah man den Fall als erledigt an. Karwels Unterschrift bestand aus einem “K“ mit angehängter Schlangenlinie – sie war kinderleicht zu fälschen und hatte ihn nicht mehr als drei Versuche auf dem Küchentisch gekostet.

Iven gewöhnte sich an seine neue Rolle. Er überstürzte nichts. Das erste Zusammentreffen Hannes mit Mehnert sollte Anfang Juli sein, wenn sich aus organisatorischen Gründen eine günstige Gelegenheit bot. Der Abteilung war auch bekannt, dass der Parteivorsitzende danach eine Reise plante.

Ivens Plan sah vor, zunächst die “Operationsbasis“ zu sichern. Er bewegte sich immer unbekümmerter in der Umgebung. Nur die Kneipen, in denen Karwel womöglich verkehrt hatte, mied er lieber.

Ein alter Zechkumpan hätte ihn zu leicht erkennen und sein Spiel entlarven können …

Da er nichts von Billard verstand, würde man sich auch wundern, wenn er jede Einladung zu einer Partie ablehnte. Um dem vorzubeugen, besorgte er sich in der Apotheke ein Pflaster, das er in seine linke Handfläche klebte. Notfalls konnte er immer noch behaupten, er sei Karwels Zwillingsbruder und habe die Wohnung während nur seiner Abwesenheit übernommen.

Der Apotheker, ein dickbauchiger Mann mit verschwitzten Händen, nahm ihn beiseite. Besorgt versuchte er ihn davon zu überzeugen, dass Karwel in Zukunft auf seine Dienste verzichten müsse. Bei der Kasse sei bereits eine Untersuchung eingeleitet worden – er habe einen Hinweis bekommen.

Iven musste ein paar verdeckte Fragen stellen, bis er verstand, worum es sich handelte. Der Andere schüttelte deswegen den Kopf, als hielte er ihn nur für ein wenig zerstreut.

Immerhin war jetzt klar, dass Karwel von ihm Valeron bezogen hatte, ein starkes Schmerzmittel. Offenbar ohne Rezept.

„Gehen Sie zu einem Arzt! Lassen Sie sich das Zeug um Himmels willen legal verschreiben“, beschwor er ihn. “So starke Analgetika haben auch ihre Nachwirkungen. Sie tun sich keinen Gefallen damit.“ Er wirkte ziemlich nervös.

Schließlich ging er doch noch an ein Regal und drückte ihm eines der blauetikettierten Fläschchen in die Hand.

Als Iven ohne weiteres darauf einging, war er sehr erleichtert.

„Wie viel bekommen Sie?“, fragte Iven. “Wie immer?“

„Nein, nein.“ Er hob abwehrend die Hände. “Betrachten Sie es als ein …“ Dabei sah er ihn fast flehentlich an.

Iven nickte. “Verstehe … schon gut. Machen Sie sich keine Sorgen.“

Als er den Laden verlassen hatte, bemerkte er von der anderen Straßenseite aus, dass der Apotheker ihm in seltsam starrer Haltung nachblickte.

Das alles bestätigte seinen Verdacht. Mit Karwel hatte die Abteilung keinen glücklichen Griff getan. Er war nicht gerade das, was man ein unbeschriebenes Blatt nannte. Aber sie brauchten in Hannes Nähe eine überprüfbare Kontaktperson – und dafür war er immer noch eine akzeptable Lösung.

Ein Kerl, der wie Karwel mit einem Bein in der Unterwelt stand, würde unter Umständen sogar weniger Verdacht erregen. Gewöhnliche Agenten verhielten sich unauffälliger.

Soviel er wusste, benutzten Süchtige Valeron gegen Entzugserscheinungen. Einige spritzten es, obwohl es nur zum einnehmen war. Aus dem Grund ersetzte man es neuerdings durch eine abgewandelte Version, die weniger spezifisch wirkte.

Als er in Karwels Wohnung ankam, durchsuchte er den Apothekenschrank und die Schubladen, fand jedoch keine Spur, auch keine leere Packung des Medikaments.

Falls Karwel süchtig war, trug er es bei sich. An der Grenze war es nicht so gefährlich wie Heroin. Weder den Grenzern noch den Beamten in der Untersuchungshaft würde es wichtig erschienen sein – Karwel war bereits verurteilt, ehe er tschechisches Staatsgebiet betreten hatte.

Er konnte vorgetäuscht haben, an chronischen Schmerzen zu leiden.

Man hatte ihm Kleidung und Papiere abgenommen, ein Scheinverhör durchgeführt und ihn – mit der Vertröstung auf ein gerechtes Verfahren oder ein mildes Urteil – in irgendein Provinzgefängnis abgeschoben.

Da er unschuldig war und alles als einen Irrtum betrachtete, würde er an seine baldige Entlassung glauben.

Iven war kein Freund solcher Methoden. Aber da man sie nicht um ihrer selbst willen anwandte, sondern um den politischen Gegner zu treffen, schienen sie ihm gerade noch gerechtfertigt. Die Gegenseite arbeitete mit denselben Mitteln. Der sogenannte “freie“ Westen und die BRD mit ihren drei Geheimdiensten waren keine Waisenknaben, was die Anwendung gewisser Praktiken jenseits oder am Rande der Legalität anging. – Er beschloss, dem Vorfall nicht mehr Bedeutung beizumessen als unbedingt nötig. In der Praxis zeigte sich oft, dass scheinbar nebensächliche Details plötzlich einen unverhältnismäßigen Stellenwert gewannen; er rechnete Karwels Süchtigkeit noch nicht dazu.

Immerhin bestätigte das, was er bisher vom Westen gesehen hatte, die Kritik in der östlichen Presse:

Sie verbreitete kaum Propagandagräuel, wenn sie die BRD als einen Sumpf aus Profitgier, Perversionen und schrankenlosem Materialismus beschrieb. – Keine Zeitung, ohne auf eine Kette von Morden, Bandenverbrechen, Schiebereien, Wirtschaftsbetrug, Vergewaltigung und Drogensucht zu treffen.

Ein anderes beliebtes Thema war die Diffamierung der sozialistischen Gesellschaftsreform.

Das Feindbild vom roten Gegner im Osten grenzte fast an Hysterie. Zumindest glich es einer – manipulierten – Zwangsvorstellung. Dabei bewies die Geschichte, dass der sogenannte“ Aggressor“ kaum jemals einen Angriffskrieg geführt hatte.

Fast immer waren es die Russen gewesen, die von Mitteleuropa aus angegriffen wurden.

Er argwöhnte auch, dass die beabsichtigte Nachrüstung der BRD mit Pershing-2-Raketen und Cruise Missiles nur ein Trick der Amerikaner war: Europa sollte zum Schlachtfeld eines eingeschränkten Atomkriegs werden, aus dem sie – trotz aller gegenteiligen Bündnisbeteuerungen – ihr eigenes Territorium heraushielten.

Iven war kein Bildungsapostel, seit Jahren beschränkte er sich auf Arbeitsberichte und Tageszeitungen. Selten, dass ihm einmal ein Buch unterkam. Aber der Durchschnittsbürger hier war von erstaunlicher politischer Naivität.

Er besaß in etwa die Urteilsfähigkeit eines DDR-Schülers der vierten Klasse.

Doch Iven gab zu, dass sich in diesem Sumpf leben ließ. Für einige Zeit. Er nahm an, nach wenigen Jahren, fünf, höchstens zehn, würde jeder Sinn für irgendeine klassenkämpferische Betätigung erstickt sein. Aber er war ehrlich genug, sich einzugestehen, dass seine Tätigkeit am Schreibtisch in Ost-Berlin denselben Effekt haben musste …

Abends stand er am Fenster und beobachtete rauchend die Huren. Im Sommer saßen sie nicht nur hinter den rot- und blau-beleuchteten Fenstern, sondern promenierten hinternwackelnd durch die Gasse.

Iven hatte einige Stangen Westzigaretten in der Wohnung entdeckt und sich das Kettenrauchen angewöhnt.

Er freundete sich mit der Nachbarin an, einer kränkelnden Frau, die allein lebte. Zunächst war es eine Art Übermut gewesen, eine Neugier, wie weit sich sein Spiel als Doppelgänger treiben ließ. Dann merkte er, dass diese Beziehung ihren Nutzen hatte.

Sie war um die Siebzig und überrascht, in Iven einen gesprächsbereiten Nachbarn zu finden. Sie habe ihn nie für einen schlechten Kerl gehalten – was die Leute auch immer reden mochten! Nur einmal erkundigte sie sich, wo denn seine vielen Freunde geblieben seien. Und warum er sie früher nie gegrüßt habe.

Iven wich aus, er lebe jetzt recht zurückgezogen. Auch seine Freundin komme nicht mehr.

Beim Wort “Freundin“ horchte die Alte auf, sie war sehr erstaunt. Da Karwels Hausklingel schon seit Monaten defekt sei (der Hauswirt zögere die Reparatur hinaus, weil die Flurwand aufgerissen werden müsse), hätten Karwels Besucher immer bei ihr geläutet – aber ein Mädchen habe sie nie gesehen. Sie erkundigte sich, ob er denn nun bald heirate und ob es das Mädchen aus Prag sei.

“Einmal ist versehentlich eine Postkarte in meinem Briefkasten gelandet“, erklärte sie verlegen. “Solche Mädchen legen es meist nur darauf an, durch ihre Heirat in den Westen zu kommen.“

„Nein“, sagte Iven. “Meine Freundin hat einen eigenen Schlüssel.“

Sie nickte, damit gab sie sich zufrieden. Am nächsten Tag lud sie ihn zum Essen ein. Sie war ein wenig schwerhörig und sah nicht mehr gut. Aber die Graupensuppe, die sie nach altem Rezept für ihn kochte, schmeckte ausgezeichnet.

Iven holte ihr Kohlen aus dem Keller und machte sich durch Einkäufe nützlich. Auf diese Weise erfuhr er wichtige Dinge über Karwel. Obwohl die alte Frau Kinder besaß und ihnen zwei Häuser vererbt hatte, lebte sie hier zur Miete in einer schäbigen kleinen Wohnküche. Ihre Kinder besuchten sie einmal im Monat mitsamt dem Nachwuchs, immer abwechselnd.

“Meine Kinder haben genug zu schaffen mit ihren Häusern und Autos …“ Irgendwie schien sie sich mit ihrer Einsamkeit abgefunden zu haben.

Iven betrachtete ihr großes, faltiges Gesicht. Ihre Haare waren zu einem altertümlichen Knoten zusammengebunden, den ein graues Netz hielt, und ihre Hände, raue, abgearbeitete Hände, zitterten unmerklich, wenn sie von der Vergangenheit sprach.

„Ich kann nicht verstehen, Frau Kulka, dass man Sie in diesem Loch hausen lässt“, sagte er.

„Ich bin ja daran gewöhnt“, erwiderte sie, wobei sie ihr eisgraues Haar zurechtstrich.

„Warum ziehen Sie nicht in eine der grünen Wohnsiedlungen am Stadtrand, wo es keine Prostituierten gibt und die Betrunkenen nicht in den Hauseingängen liegen?“

„Ach das …“, sagte sie und winkte ab.

Nach allem, was er hier sah, fragte er sich ernsthaft, wozu man an einem Projekt arbeitete, das, falls sich die schwache Hoffnung bestätigte, zwar eine Wende in der Abrüstungspolitik herbeiführte, ihnen aber als Folge dieselben materialistischen Auswüchse bescheren würde.

Er fand, es war besser, nicht darüber nachzudenken und einfach seine Arbeit zu tun …

Am sechsten Tag, als er beinahe sicher war, weder erkannt zu sein noch beobachtet zu werden, legte er Markierungen an Türen, Schubladen und den Schränken aus und verließ die Wohnung, um den Zehn-Uhr-dreißig-Zug nach Bonn zu nehmen.

Er löste eine Fahrkarte bis Sinzig.

Die Abteile waren schwach besetzt; als habe er es sich anders über legt, stieg er am Bonner Bahnhof aus und ließ sich mit einer Taxe zur Bundesgartenschau bringen.

Den Mittag über trieb er sich scheinbar ziellos in den Anlagen umher, besuchte den Gehölzgarten, das Bienenhaus, den Brückenmarkt und fuhr mit einem Ausflugsboot vom Anleger “Gronau“ über die Seenplatte.

Morgens hatte noch die Sonne geschienen; später war der Himmel glasig geworden; jetzt schob sich Dunst wie eine Glocke über das Land.

Es wurde schwül. Man spürte, dass ein Gewitter in der Luft lag. Er aß am holländischen Stand ein Käsesandwich und flüchtete vor dem aufziehenden Gewitterregen in den Eingang des Parkrestaurants Rheinaue.

Er kaute abwartend an dem Rest des Brotes und sah auf den “Langen Eugen“, hinter dem sich das Bonner Regierungsviertel ausbreitete. In seinen Scheiben spiegelten sich die Wolken, die nach und nach eine violette Färbung annahmen.

Während des Spaziergangs durch den japanischen Garten war die dunkle Wolkenwand östlich des Hochhausturms immer näher gekommen. Mit dem noch fernen Gewittergrollen und den ersten dicken Tropfen füllte sich das Lokal.

Er setzte sich an einen Tisch beim Mittelpfeiler, den Rücken zur Fensterseite. Von hier aus hatte er die Theke und die Essensausgabe vor sich. Schwarzbefrackte Kellner, die wegen des geringen Publikumsandrangs in der Küche herumgealbert hatten, sahen neugierig in den Saal.

Iven studierte die Speisekarte. Er würde abwarten. Wenn es noch voller wurde, konnte er sich im Gedränge unauffällig nach hinten begeben. Der Oberkellner war durch die Schwingtür hereingekommen und machte den Kellnern Beine. Draußen wehte eine Regenböe über den See.

Das Restaurant war ein Spitzdachgebäude in modischer Pavillonarchitektur. Zur Rückseite hin gab es Konferenz- und Festräume, die durch eine den Saal in ganzer Länge teilende Schiebefalttür abgegrenzt waren. Die linke Halbseite der Tür stand offen.

Von seinem Tisch aus sah Iven, dass die Handwerker das Podium montierten.

Es würde ein Ball fürs Parteifußvolk und die Unteren des Regierungsapparats werden: die namenlosen Mitarbeiter, Sekretärinnen, Schreibhilfen, Boten, das Wachpersonal, die Hauswarte – alle jene, die in der großen Politik nicht in Erscheinung treten, für deren Funktionieren aber unentbehrlich sind.

Und eine dieser Sekretärinnen war Hanne; seit Anfang des Jahres sogar Parteimitglied (man hatte vorgearbeitet in Ost-Berlin). Der Ball würde zwar erst in eineinhalb Wochen steigen, doch die Arbeiter hämmerten und sägten jetzt schon, als ginge es um den Bundesparteitag.

Die Idee dazu stammte angeblich von Mehnert höchstpersönlich; doch nach Störtes Ermittlungen war sie das Verdienst einiger Werbestrategen. Man beabsichtigte, sein im Tete-à-Tete mit der Bonner Damenwelt zerschlissenes Image in so etwas wie honorigen Sinn für die Basis umzumünzen.

Und es funktionierte!

Das Fußvolk bekam einmal im Jahr Gelegenheit, mit der Parteispitze zu schwofen – um die Kunde vom menschlichen Oberen in alle Welt zu tragen.

Der Saal füllte sich. Es gab kaum noch freie Tische. Eine ältliche Blondine lamentierte mit Sopranstimme vor der Theke, weil man ihrem Zwergpudel den Einlass verwehrte. Der Oberkellner war ausgesprochen zuvorkommend. “Haben Sie doch ein Einsehen“, bat er; aber sie ließ sich nicht beruhigen.

Iven nutzte die Gelegenheit; er stand auf und ging zur Toilette. Als er herauskam, schlenderte er hinter dem Stützpfeiler, der ihn gegen das Lokal abschirmte, in den Konferenzraum hinein. Er setzte sich an den Tisch beim Podium; die Arbeiter nahmen keine Notiz von ihm.

Nach der augenblicklichen Tischordnung würde man an seinem Platz vorüber müssen, wenn man auf die Tribüne wollte.

Er begann, den Grundriss und die Anordnung der Tische auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Dabei fluchte er einmal leise vor sich hin, worauf einer der Arbeiter zu ihm hinübersah.

„Bleiben die Tische?“, fragte Iven.

Der Arbeiter, der einen Mikrophonständer auf das Podium trug, zuckte die Achseln. “Handke“, rief er einem Monteur mit rabenschwarzem, in der Mitte gescheiteltem Haar zu – er erinnerte Iven an einen Stummfilmstar der zwanziger Jahre –‚“bleibt die Tischordnung?“

Der Angesprochene hatte gegessen, er knüllte sein Butterbrotpapier zusammen und warf es hin.

„Daran wird nichts geändert“, sagte er, wobei er breitbeinig, leicht wippend, die Treppe herunterkam.

„Es ist wegen der Blumenbuketts.“

„Aha.“

„Kannmeyer und Co. – macht Blumenfreunde froh.“

„Nie gehört“, sagte der Schwarzhaarige.

„Aus Deutz.“

„Was Sie nicht sagen.“

„Wir liefern für jeden Tisch ein Bukett, jeweils in anderen Farben, und das Podium erhält eine umlaufende Bande. Ich schlage vor: Hyazinthen.“

„Kommt nicht infrage.“

„Wie?“ Er blickte von der Zeichnung auf.

Der Monteur hatte sich auf den Tisch gesetzt, er hakte die Daumen hinter den Trägern seines Overalls ein.

„Na, hören Sie mal!“ sagte Iven mit gespielter Entrüstung. Der andere lächelte nur süffisant. Anscheinend war er jetzt in seinem Element. Er legte mit den Fingern beider Hände den Mittelscheitel zurecht und sah sich nach seinen Kollegen um.

Iven begriff, dass er sich nur produzieren wollte. – Nicht auffallen, dachte er. Zum Rückzug war es zu spät.

„Wollen Sie, dass ich den Geschäftsführer hole?“

„Von mir aus.“

Iven machte Anstalten, sich zu erheben – er war sehr umständlich dabei.

„Sitzen bleiben.“

„Was, zum …?“

„Aufs Podium dürfen keine Blumen“, erklärte er plötzlich. “Anweisung von Krausmann. Sie würden überhängen. Es bekommt ein Transparent – über die ganze Breite, verstehen Sie. Da bleibt kein Platz.“

Na also, dachte Iven, das klang schon eine Spur verbindlicher.

„Und die Tische?“

„Bleiben wo sie sind.“

„Gut, das wär‘s dann.“

Er stand auf, faltete die Skizze zusammen und steckte sie in die Tasche. “Sie erhalten demnächst ein Angebot von uns. Fünfzig Buketts, aber ohne Bande.“ Der Monteur sah ihm unschlüssig nach.

„Werde Krausmann ausrichten, dass Sie eine große Hilfe waren“, sagte Iven und ging hinaus.

Das Gewitter war abgezogen. Er ging zum See hinunter. Auf der Vogelinsel flogen Stockenten auf.

Hanne musste frühzeitig da sein, wegen des Platzes an der Treppe. Er hoffte nur, dass es keine Tischkarten gab. Wenn Mehnert vom Podest kam – und irgendwann verließ er es, entweder um zu tanzen oder auch nur, um auf die Toilette zu gehen –‚ würde es passieren. Dann oder nie, das war der Augenblick

Von da an hatten sie noch eine knappe Woche Zeit, ehe er auf die Reise ging. Er würde zu einem Treffen mit alten Sozis nach Frankreich fahren.

Tut mir leid um Mehnerts Sekretärin! dachte Iven. Sie war ein altmodisches Geschöpf, das in einem grauen Haus in der Bonner Innenstadt lebte. Er war kein Freund von Gewalttätigkeiten, doch in diesem Job ließen sie sich nicht vermeiden. Das übernahmen die Leute des Holländers.

Als Kind war ihm bei jeder kleinen Prügelei übel geworden.

Erst später hatte er erkannt, dass es sozusagen am ‚Missverhältnis von Einsatz und Gewinn’ lag. Für einen annehmbaren Zweck war er durchaus bereit, sein Leben zu riskieren – wohl eine Folge des Drills, dem man seine Generation im sozialistischen Deutschland nach dem Kriege unterzogen hatte, auch in der FDJ.

Allerdings ließen sich solche “Zwecke“ immer seltener ausmachen. Die meisten waren offenbar bloße Hirngespinste. Mit der Zeit hatte er sich an Prügeleien gewöhnt …

Störte schloss aus, dass ein Parteivorsitzender jemals ohne Sekretärin verreiste. Darauf baute ihr Plan auf. Iven war das von Anfang an nicht überzeugend erschienen.

Er hielt es für wahrscheinlich, aber nicht für sicher. Er dachte an Mehnerts Alleingänge, an seinen ausgeprägten Hang, sich irgendwann selbständig zu machen.

Das Treffen war ein trautes Beisammensein von alten Sozialisten und Parteifreunden, die aus ganz Europa angereist kamen. Austauschen von Erinnerungen, Auffrischen von Bekanntschaften.

Gewiss gab es bei solchen Gelegenheiten auch politische Gespräche; die eine oder andere Weiche wurde gestellt. Man hatte eigens ein schloss ähnliches Gebäude in Traenheim bei Straßburg angemietet.

Hanne würde Mehnerts Sekretärin während der Reise ersetzen. Das bot genügend Gelegenheit für ein Tete-à-Tete, eine “tiefe“ Beziehung. Notfalls musste man umdisponieren. Eine kritische Phase war überwunden, wenn Hanne, ohne aufzufallen, durch die Überprüfung ging. Sekretärinnen von Parteioberen wurden besonders sorgfältig überprüft. Vielleicht bog Mehnert das ab.

Kam darauf an, wie stark er sich in sie verknallt hatte. Ein Mann, der liebt, tut eine Menge närrischer Sachen. Aus einem unerklärlichen Grund –einer Art sechstem Sinn – zweifelte Iven keinen Moment daran, dass es klappen würde.

Mehnerts Fall

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