Читать книгу Das Veteranentreffen - Peter Schmidt - Страница 6
Zweites Kapitel
ОглавлениеUNRUHIGE NÄCHTE
1
Als mein Mietwagen durch die Bahnunterführung rumpelte – regennass glänzende Pflastersteine aus Kaiser Wilhelms Zeiten, so groß wie Kinderköpfe –‚ erinnerte der Murellenberg mit seinem düsteren Nadelwald und den aufsteigenden Nebeln eher an ein verwunschenes Märchengehölz.
Und so kam ich mir auch vor: wie der Zauberer im Märchen, der durch Alchemie und magische Sprüche all die zu Fichten und Sträuchern erstarrten Schemen in menschliche Wesen zurückverwandelte…
Dass mir diese Rolle zufallen würde, daran zweifelte ich keinen Augenblick. Agenten in fortgeschrittenem Alter leiden oft an Potenz-Problemen (angespannte Nerven, die jetzt den Dienst versagen, und ein Leben voller Sublimierungen, denn all die Ränkespiele, Täuschungen und Hinterfotzigkeiten haben auch ihre erotische Dimension).
Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, ihre Waden wegen eines unheilbaren Venenleidens einzucremen – und so auf ziemlich handgreifliche Weise mit ihrer angeschlagenen Gesundheit konfrontiert werden –‚ trauern sie gern verpassten Gelegenheiten nach.
Jede über die Straße hüpfende Bluse stürzt sie in den unlösbaren Konflikt, all die kribbelnde Alterslüsternheit mit den beschränkten Möglichkeiten ihres Wasserhahns in Einklang zu bringen.
Das macht sie hochgradig empfänglich für obszöne Scherze und Zoten der derbsten Sorte. Aber auch so unausstehlich wie ein gelangweiltes Theaterpublikum – als warteten sie nur darauf, dass ihnen jemand von der Bühne ein passendes Stichwort zuwirft …
Sie lieben es, ihrem Zynismus Luft zu machen, und wenn eben möglich, ist das Opfer ihrer Attacken die hohe Politik oder das weibliche Geschlecht.
Alles Weitere – eigene und gegnerische Dienste, Pferdetoto und Gesundheitskost – kommt erst später.
Sie singen das Pommernlied mehr recht als schlecht, aber immer voller Inbrunst, sammeln alte Volkslieder und feiern Kaisers Geburtstag mit verdünntem Aquavit (wegen der angeschlagenen Leber). Doch ein Treffen wie dieses würde sie unweigerlich dazu verführen, dem staunenden Publikum ihr ganzes Repertoire an nationalen Schmähungen und geschlechtsbezogenen Gemeinheiten darzubieten.
Ich galt in ihren Kreisen als einer, der die Kunst des passenden Stichworts beherrscht, deshalb machte ich mich auf ein paar unruhige Abende und Nächte gefasst.
Die Schilder ‚Zum Waldhof’ waren drei verbogene Bleche, etwa so unleserlich wie Regenschleier auf einer schmutzigen Fensterscheibe; das letzte stand unmittelbar vor der Einfahrt in den Waldweg – oder besser gesagt:
Es lehnte mit seinem Pfahl an der überhängenden Felswand.
Vielleicht war es von einem Lastwagen erwischt worden, oder der örtliche Märchenwaldriese hatte es aus purem Übermut aus dem Pflaster gerissen.
Mir blieb nicht viel Zeit, darüber nachzugrübeln, denn unter dem Schild winkte mir eine schiefe Gestalt mit Schlapphut und Lodenmantel zu, beide Arme warnend ausgebreitet, als lauere hinter der nächsten Straßenbiegung der sichere Tod.
Bertrand …
Ein Gefühl der Trauer überkam mich, wenn ich daran dachte, wie viel Ruhe und seelischen Gleichmut mich seine Gesellschaft noch kosten würde.
„Frank – teuflisch!“, raunte er, als ich die Beifahrertür aufdrückte.“ Haben Sie wieder Kieselsteine geschluckt, um Ihr Aussehen zu verändern? Oder ist’s das gute Essen?“
Er war nie sehr sparsam mit seinen Komplimenten umgegangen, was mein Übergewicht anbelangte, und ich konterte mit der Frage, ob er seine Pension als Vogelscheuche aufbessere; aber das veranlasste ihn höchstens zu einem nach Knoblauch und Joghurt riechenden Rülpser.
„Politische Lage ziemlich mies, was?“, erkundigte er sich vorgebeugt.
„Mies? Nein, wieso?“
„Heiße Luft … Luftblasen“, fuhr er im Telegrammstil fort. “Diese Fellows im Westen zeigen ihre wahren Absichten. Genosse Gorbatschow reißt ihnen die Maske vom Gesicht. Bewegen sich bloß noch, wenn ihnen auf die Füße getreten wird. Kräftig auf die Füße, Frank. Abrüstung, Vollbeschäftigung, Umwelt und so weiter.“
„Hat Ihnen unser lieber Asch das Ei ins Gehirn gelegt, Bertrand – ach, was sage ich – muss ja ein ganzes Nest voll gewesen sein? Sie klingen wie sein Megaphon.“
„Nun passen Sie mal auf, Frank. Wir sind vielleicht ausrangiert, stehen auf dem Abstellgleis und so weitet Aber alte Waggons kann man schließlich wieder flott machen, oder?“
„Ich denke, um Ihr Chassis zu schweißen, Bertrand, muss man mehr Eisen mitbringen, als die Karre hergibt.“
Er warf mir einen säuerlichen Blick zu. „Sie spielen auf die Berner Sektion an, was? Hab ich nur verloren, weil ein paar Parlamentarier wieder mal zu genau wissen wollten, wie der Laden läuft. Geheimhaltung gleich Null.
So was gilt in unserem Gewerbe als der sichere Untergang. Parlamentarismus, Frank, ist eine schleichende Krankheit. Gefährlicher als jede Attacke auf das Immunsystem. Damit leben Sie noch gut und gern ein paar Jährchen. Aber ein verbrannter Agent wird drüben an die Wand gestellt.“
„Nun übertreiben Sie mal nicht. Dies ist der freieste und wohlhabendste Staat, den wir je auf deutschem Boden hatten. Nicht mal die da drüben stellen enttarnte Agenten noch an die Wand.“
„Sie reden wie der Kanzler, Frank.“
In der Hotelhalle musste ich einen Moment lang verschnaufen, um mich an den Anblick der Wände und des Treppenhauses zu gewöhnen …
Ich setzte meine Reisetasche ab und steckte mir einen von ‚Mayers sauren Krümeltürken’ zwischen die Lippen.
Sein kalter Tabakgeschmack gab mir das Gefühl, weniger weit und verloren in der Fremde zu sein.
Alles sah genauso übel aus, wie Aschs nekrophile Veranlagung es hätte vermuten lassen können.
Die weinrote Wandbespannung hing in schlaffen Beulen aus den dünnen Holzrahmen – die Decke war ein braunfleckiger Baldachin aus undefinierbaren Zutaten, vielleicht Pappe, Kleister und Papier – im schwarz lackierten Holz des Treppengeländers klaffte ein Riss, so breit, dass man zwei geballte Fäuste darin versenken konnte, und über den ausgetretenen Stufen verteilt lagen zusammengerollte Läufer und Teppiche – die stockfleckigen Unterseiten nach oben.
Das Schlimmste aber war der über dem ganzen Szenario schwebende muffige Geruch.
„Hier nicht rauchen“, flüsterte Bertrands Stimme hinter meinem Rücken. „Das alte Zeug brennt wie Zunder. Qualmen Sie meinethalben auf dem Zimmer, Frank. Oder drüben in der Toilette.“
Er deutete in die dunkle Nische an der Rezeption, wo die schief in den Angeln hängende Tür eines Westernsaloons zu erkennen war.
„Sie wissen wohl nicht, dass ich nikotinsüchtig bin, Bertrand? Nach zwanzig Minuten ohne Zigarillo zittern mir die Knie … dann dresch ich auf jeden ein, der mir zu nahe kommt.“
„Beste Gelegenheit, um sich’s abzugewöhnen“, feixte er.
Meine Drohung ließ ihn aufblühen wie eine lange nicht gegossene Topfpflanze. Wenn es zwei Dinge gibt, die diese alten Halunken wieder zum Leben erwecken, dann ist eines davon – neben ihrem Sinn für politische Zoten – die Aussicht, eins aufs Maul zu bekommen. Selbst auf die Gefahr hin, dass es nur eine nicht ganz ernst gemeinte Drohung war.
„He, Frank, hat Sie der Schlag im Stehen getroffen? Sie wirken ja ganz abwesend …“
„Riecht nach feuchten Aufnehmern, finden Sie nicht?“
„Bloß die Wandverkleidung“, winkte er ab. „Wenn Sie nach ein paar Wochen wieder zurück sind, wird’s Ihnen so vorkommen, als seien Sie hier zu Hause.“
„Klingt ja, als wenn Sie geradezu süchtig danach wären?“
„Ja, macht süchtig“, bestätigte er. „Fast wie unser Job. Ich will Ihnen was flüstern, Frank. Asch hat den Laden hier angemietet, um was ganz Großes in Szene zu setzen. Das dickste Ding seit Kaisers Geburtstag und den Zeiten des Kalten Krieges. Sie werden staunen!“
2
„Sie denken vielleicht, wir seien bloß ‘n Haufen alter Narren, die sich wichtig machen wollen?“, fuhr er fort, während er die Tür aufschob.
Er setzte meine Reisetasche ab und witterte wie ein misstrauischer alter Ziegenbock im Zimmer umher. Offenbar fiel das Klima zu seiner Zufriedenheit aus, denn sein Daumen deutete elegant über die Schulter.
„Von den beiden Amerikanern mal ganz abgesehen – die haben sich darauf verlegt, unsere Biervorräte zu dezimieren, und fühlen sich pudelwohl dabei –‚ sieht’s ganz scheußlich für uns aus.
Karlsbeck stirbt an Langeweile. Kuben büffelt Mathematik und Latein, und Falkner hat sich wahrhaftig darauf verlegt, alte Artikel über die Geheimdienstarbeit zu sammeln. Sein Zimmer ist übersät davon.
Treten Sie ja nicht drauf, wenn Sie ihn besuchen! Dann wird er zum brüllenden Löwen. Sie sterben alle an Langeweile, Frank. Und das im besten Mannesalter.“
„Na ja, wie man’s nimmt“, sagte ich.
„Zweiundsechzig ist kein Alter für mich“, sagte er und schlug sich treuherzig dreinblickend mit der Hand auf die Brust.
„Meines Wissens sind Sie dreiundzwanzig geboren. Also legen wir lieber noch fünf drauf, Bertrand.“
„Drei – drei ist das höchste, was mir meine biologische Uhr zubilligen würde. Nach meinem inneren Rhythmus bin ich sogar unter sechzig.“
„Sie sind alt und abgetakelt, Bertrand! Ein Haufen verbogener Knochen. Mit Gelenken, die lauter quietschen als mein Garagentor. Ich kenne Ihre Krankengeschichte. Bewahr sie schließlich in meinen Karteikästen auf.“
„Und Sie sind ein Ungeheuer, Frank.“
„Nur wahrheitsliebend, Bertrand.“
„Ein Zyniker.“
„Wir sind alle Zyniker. Unverbesserliche, neunmalkluge, gelangweilte Zyniker“, sagte ich und warf mich aufs Bett; Geruch von Matratzengras und verwaschenem, zerfallendem Leinen stieg als Wolke um mich her auf. Ich schob mir eines der eingebeulten Kissen unter den Nacken, die so hart und fest wie Sandsäcke beim Boxtraining waren. „Das ist nun mal unsere liebste Beschäftigung, ehe wir gehen müssen. Können’s nicht lassen, wenigstens mit Worten Katze jagt die Kirchenmaus zu spielen, obwohl unsere Krallen längst stumpf geworden sind. Und unsere Mägen nur noch Dosenkost vertragen. Sehen immer noch jeden abweichenden Ideologen als leicht zu erlegendes Wild an, Bertrand, als Jagdbeute.
Dabei brauchte man nur noch ein paar Jährchen abzuwarten – ruhig dazusitzen und Tee zu trinken –, bis der Osten wie der Westen und der Westen wie der Osten geworden ist. Alles gleicht sich einander immer mehr an.“
„In hundert Jahren nicht.“
„Dann werden Renegaten wie Sie ganz einfach zu Friedensrichtern ernannt.“
„Zyniker, Sie gottverdammter alter Zyniker“, sagte Bertrand und warf laut die Tür hinter sich ins Schloss.
Oh, er hasste mich wirklich. Er würde eine Nacht voller wilder Verwünschungen zubringen. Die Augen starr zur Decke gerichtet, das Gebiss auf der Nachtkonsole.
Wahrscheinlich hatte Asch den ganzen Hotelkomplex samt Nebengebäuden und Personal für einen Spottpreis angemietet. Weil die Bruchbude sonst keiner haben wollte. Aus meinem Fenster sah ich in die dunklen Tannenwipfel. Aber ein paar Meter tiefer war die Natur abrupt zu Ende:
Dort gähnte ein schwarzes Loch, in dem der Hausmüll verschwand.
Bertrand hätte mich leichten Herzens ebenfalls darin verschwinden lassen (die Rubrik ‚Müll’ fand er sicher ganz passend für mich), das wusste ich aus unserer langen Bekanntschaft. Bloß hatte es ihm dazu schon immer an Kräften gemangelt.
Während ich noch die Baumwipfel musterte, sah ich Green, den Engländer, über einen schmalen Fußpfad vom Murellenberg kommen. Er trug einen dünnen, durchsichtigen Regenmantel mit Kapuze gegen den Nieselregen und nickte mir unmerklich zu.
„Kommen Sie runter in die Halle, Sander. Hab mit Ihnen zu sprechen“, rief er in akzentfreiem Deutsch hinauf.
Ich erinnerte mich gut an ihn, weil er einmal der Schrecken der Londoner Population gewesen war. Nicht so katastrophal erfolglos wie Bertrand; aber dafür einer von der Sorte, die ihre politischen Ambitionen offen zur Schau trugen.
Keine Woche, die verging, ohne dass er irgendeine Eingabe an Downing Street Nr. 10 gesandt hatte, um sich mit klugen Kommentaren zur Weltpolitik zu Worte zu melden.
Ich glaube, er hatte es glänzend verstanden, den Laden vom untersten Regierungsmitarbeiter bis hinauf zum Außenminister und zur Regierungschefin in Atem zu halten.
Seine Eingaben waren etwa von der Sorte:
Denken Sie nicht, gnädige Frau, dass uns ein schnelles Zuschlagen bezüglich der Falklands – ich meine, ein Faustpfand gegen die Übergriffe der Argentinier kann unmöglich schaden – in eine günstigere Verhandlungsposition versetzen würde? Mein Vorschlag:
Mit drei Kanonenbooten Ihrer Majestät die Nordspitze des Hafens von Buenos Aires besetzen (leicht zu verteidigen wegen des unwegsamen Flussdeltas). Angesichts der dauernden Übergriffe der Argentinier nur legitim. Und dann lassen wir uns die besetzte Zone in monatelangen Verhandlungen gegen politische Zugeständnisse oder Abtretungserklärungen für die Falklands abkaufen.
Was halten Sie davon? Bitte lassen Sie mich recht bald Ihre Meinung dazu wissen, gnädige Frau!
Ihr sehr ergebener Mitarbeiter von M15, Abteilung ostasiatische Schecküberweisungen
gez. Albert Green
Ein prächtiger Abenteurer alten Schlages, hätte man meinen können (und so nahe dran am Schauplatz seiner machtpolitischen Fieberphantasien! – Bereich Ostasien, Schecküberweisungen … genauer gesagt: Taiwan und die Kurilen – das sind nur mal eben zehntausend Seemeilen). Wenn auch ein wenig närrisch, was sein politisches Urteilsvermögen anbelangte. Und von diesem Schlage war – eher knapp gerechnet – wohl mehr als die Hälfte in Aschs illustrem Agentenpanoptikum.
Green kam gerade aus der Toilette, leicht hüstelnd und mit bebenden schneeweißen Nasenflügeln von der Feuchtigkeit draußen. Ich hörte förmlich schon seine krachenden Nieser.
Aber noch unerträglicher waren jene Explosionen seiner Atmungsorgane, die er mit aller Gewalt und verrenkten Händen und Armen zu unterdrücken versuchte.
Als er mich entdeckte, nahm er mich hinter die Säule an der Rezeption beiseite.
„Also, Sander, ich denke, wir verplempern hier bloß unsere Zeit. Dieser Asch hat mich wahrhaftig gefragt, ob ich bereit sei, alles auszupacken, was ich über M15 weiß.“
„Tatsache? Nein – Sie machen Scherze?“
„Ein streng vertrauliches Gespräch unter vier Augen“, beteuerte er.
„Und? Was haben Sie ihm geantwortet?“
„Na, ob wir hier ‘n Veteranentreffen veranstalten würden oder eine neue Art von Fragestunde.“
„Darauf er …?“, fragte ich.
„Scheint mächtig viel Langeweile zu haben, der gute alte Asch. Er sagte, einzeln seien wir vielleicht bloß ‘n Haufen altes Eisen. Aber wenn wir unser Wissen in einen Topf würfen, könnte daraus …“
„Ja?“
„Tja … dann ließe sich daraus noch manches politische Süppchen kochen.“
„Er führt also irgendwas im Schilde?“, fragte ich.
„Na, Sie waren doch immer einer seiner engsten Vertrauten, Sander. So was wie ‘n guter Freund, wenn ich das richtig sehe. Sie müssten doch am ehesten wissen, was Asch mit uns vorhat?“
„Nein, keinen Schimmer. Ich dachte, wir würden hier ‘n bisschen Ringelpiez mit Anfassen veranstalten. Aber bis jetzt hab ich außer den beiden Zimmermädchen noch nichts Weibliches zu Gesicht bekommen. Und die gehen auch schon locker auf die Fünfundsechzig zu.“
„Arbeiten halbtags …“
Er nickte wehmütig und strich sich resignierend durch die Mundwinkel. Der Gedanke an junges Gebein (Hotelfachschule und so weiter), das ihn umhegte und pflegte und ihm die Zigarettenasche vom Hosenbein klopfte, schien ihn für einen Augenblick seiner Fassung zu berauben.
Die eine passt nachmittags auf ihre Enkelkinder auf, bei der andern machen’s die Gelenke nicht mehr. Wenn Sie sich abends eine Flasche aufs Zimmer kommen lassen wollen, müssen Sie dem Portier schon ‘n hübsches Scheinchen avisieren. Für Silbergeld macht er nicht mal den kleinen Finger krumm. Ich meine: immer vorausgesetzt, dass Sie ihn mit dem Telefon wach bekommen.“
„Vielleicht sollte man rechtzeitig für Vorrat sorgen? ‘ne kleine Spritztour in die Stadt?“
„Im Vertrauen gesagt …“ Green schob mich noch ein wenig weiter in den Schatten der Säule. „Asch zahlt unsere Rechnungen. Er sagt:
‚Macht euch hier ein paar schöne Tage auf meine Kosten. Freu mich riesig, die ganze alte Garde wiederzusehen.’ Und das allein, Sander …“ – Green hielt krampfhaft seine Hand vor den Mund, aber die Explosion blieb aus – „ist für mich schon ein Grund dafür, anzunehmen, dass mehr dahintersteckt als bloß dieses läppische Veteranentreffen. Wann haben wir Asch jemals so spendabel erlebt?“
„Hat er denn gar nichts weiter verlauten lassen?“, fragte ich.
„Doch. Er will beim Abendessen eine kleine Ansprache halten. Denke, dann wird er endlich mit der Sprache herausrücken.“
„Na also“, sagte ich. „Dann warten wir’s doch einfach ab.“
3
Einige von ihnen waren zweifellos Heilige – beseelt von ihrer Mission. Und darunter verstanden sie wie in alten Zeiten: den freien Westen zu stärken, das liberale Lager in Schuss zu halten. Es gegen verknöcherte orthodoxe Marxisten und Leninisten zu verteidigen, die es auch nach den Reformen in der DDR immer noch gab … selbst wenn sich der Sozialismus jetzt so überaus jung und reformwillig gebärdete wie unter Gorbatschow.
Ich sah Falkner in seinem chromglänzenden Rollstuhl um die Hallensäulen fahren, in der Mulde zwischen seinen Knien, die eine dünne beigefarbene Wolldecke bildete, zwei in Fettpapier eingeschlagene Bücher, und durch das durchsichtige Papier konnte man unschwer erkennen, dass er sich noch immer mit denselben Themen herumschlug wie ehedem:
„Ist der Marxismus ein Humanismus?“ – Oder: „Lenin – Der gegenwärtige Stand der Dinge in der russischen Sozialdemokratie.“
Er legte seinen ganzen Ehrgeiz darein, all die volltönenden Versprechungen und Prognosen mit alten Geheimdienstanalysen abzugleichen.
Und Kuben war ein wandelndes Konversationslexikon der ehemaligen ostdeutschen Innenpolitik unter Honecker.
Er wurde langsam wunderlich, seine Beine und Augen versagten den Dienst. Seine Stimme erinnerte frappierend an die Geräusche aus einer verstopften Wasserspülung. Aber ein Zitat wie:
„Von großer Bedeutung waren auch die Beratungen des XII. Bauernkongresses, dem in allen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, sowie volkseigenen Gütern (VEG) Jahreshauptversammlungen und Rechenschaftsablegungen sowie Kreisbauernkonferenzen vorausgegangen waren“ ging ihm noch immer leichter von den Lippen als die Antwort auf die harmlose Frage, wo er sein gestreiftes Jackett gekauft hatte (bei Spandam’s, London, wie alle seine Jacketts).
Er trug keine blauen Wollsocken mehr, sondern feine englische Strümpfe. Alles Englische war ihm ein Synonym für Gediegenheit, Lebenskultur, vor allem aber für Fairness. Natürlich zitierte er nur so glänzend, um sich anschließend hämisch darüber zu verbreiten, wie nichtssagend das alles war.
Seitdem ihn ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ziemlich unsanft aus dem Dienst befördert hatte, trauerte er voller nie versiegendem Trotz den alten Zeiten nach. Seine Belesenheit diente ihm als Rechtfertigung, damit bewies er sich jeden Tag aufs Neue, dass er noch auf der Höhe war.
Sein kleiner grüner Melonenkopf, viel zu unscheinbar für seine massige Gestalt, sann immer auf ein Comeback – sogar ganz ernsthaft, nach meinem Gefühl.
Aber um ihn mit einer wichtigen Aufgabe zu betrauen, war er schon zu alt. Und man würde niemals vergessen, wie dreist und eigenmächtig er das politische Klima vergiftet hatte.
Durch meine Arbeit als Arzt kannte ich seine Vergangenheit genauer als jeder andere, ich war mit der Untersuchung seines Falls beauftragt gewesen. Kuben hatte – ohne Auftrag und Rückendeckung – über seinen Hamburger Agentenring ein medizinisches Präparat in den Osten schmuggeln lassen – mit verheerenden Folgen in Moskauer Kliniken.
Eigentlich hatte es nur jene Medikamente neutralisieren sollen, die Dissidenten und Andersdenkenden in den psychiatrischen Abteilungen der Sowjetunion unter dem wohlfeilen Signum ‚geisteskrank’ verabreicht wurden. Bis sich herausstellte, dass die Biochemiker wieder einmal zu früh grünes Licht gegeben hatten – dass es das Immunsystem schädigte.
Kuben hatte versucht, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben.
„Sander …“, sagte eine Stimme hinter mir, die mich sofort an den Hindu erinnerte. Ich nannte ihn ‚den Hindu’, weil er sich von Müsli und Körnern ernährte und um jede Ameise am Boden einen weiten Bogen machte. Nichts Lebendes durfte zertreten werden.
Die albern-freundschaftliche Art, wie er mir auf den Rücken zu klopfen pflegte, stand in krassem Gegensatz zu seinen rüden Methoden. Er trug einen Zwicker wie ein ostpreußischer Gutsbesitzer (sicher, um damit besser die Kleinstlebewesen auf dem Fußboden durchmustern zu können), dazu Knickerbocker und hohe Wollstrümpfe. Seine Wanderschuhe waren voller gelber Erdklumpen vom Murellenberg.
Ich wandte mich zögernd nach ihm um.
„Kommen Sie. Das Spektakel soll gleich beginnen – im Speisesaal.“
„Spektakel, wieso?“
„Wir werden mit Aperitifs abgefüllt, gefüttert und dann seelisch weich geklopft.“
„Anscheinend wissen Sie mehr darüber als ich, Laflöhr?“
„Ach was, Sie waren doch schon immer der am besten informierte Mann auf dem Planeten, Sander.“
Wir versuchten im Gedränge all der Klapprigen und Zittrigen und von knurrenden Mägen Geplagten einen Stuhl zu ergattern. Aber das schien ein fast aussichtsloses Unterfangen zu sein. Wie die Liegen auf einem Musikdampfer bei Sonnenaufgang, und jedenfalls lange vor dem Frühstück, waren bereits alle Stühle mit irgendwelchen Utensilien belegt: Handtüchern, Hüten, Brillenetuis …
Von der Decke des Saals hing ein zerbrechlich wirkendes Gebilde aus Draht und blau gefärbtem Papier. Man musste schon genau hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um die stilisierte Nachbildung einer Friedenstaube handelte. Irgendetwas in ihrer Haltung – vielleicht die komisch verkrampfte Art, wie sie ihre Flügel hielt – suggerierte einem unwillkürlich, dass sie an chronischen Blähungen litt. Der Appetit der Versammlung schien auf mehr als eine halbe Tonne taxiert worden zu sein, den aufgebauten Tellern nach zu urteilen. Unsere Tischanordnung hatte die Form eines großen U, und an der offenen Seite ballte sich der Verkehr sofort wie minderwertiger Baumwollfaden in einem Nadelöhr.
Einige alte Kerle – vor allem jene, die an Stöcken gingen – sahen ihre Behinderung offenbar als Freibrief an. Es brauchte keine scharfe Beobachtungsgabe, um zu erkennen, dass sie die größten Rüpel waren und ihre Prothesen ohne Skrupel als Waffe einsetzten:
Mitleid, das als soziale Pflichtübung gilt, ist im Gedränge ein mindestens ebenso bewährtes Mittel wie ein unbeabsichtigt wirkender Tritt ans Schienbein.
Als ich schließlich doch noch einen freien Stuhl gefunden hatte, war ich nicht böse darum, dass mir Laflöhr bedauernd vom anderen Ende der Tischreihen aus zuwinkte.
Er machte eine fragende Gebärde und fuhr sich mit gespreizten Fingern die hohlen Wangen entlang; wahrscheinlich wirkte ich leicht erschöpft und zerstreut. Dann gab es noch einmal einen tumultartigen Aufruhr, als Bertrand in den Saal kam – einen Korb voller Namensschilder mit genauem Sitzplan in der Hand – und kategorisch verkündete:
„Jeder hat während der Tagung seinen festen Platz … ich darf doch sehr bitten, meine Damen und Herren.“
Ich suchte vergebens nach den angesprochenen Damen. Vielleicht waren ja einige der alten Knaben insgeheim Transsexuelle? Die Antwort kam wenige Augenblicke später in Gestalt eines uralten Schlachtschiffs mit matronenhaftem Ungetüm von blauem Federhut – und dahinter – ich wollte meinen Augen nicht trauen! – fast jugendlich schüchtern zwischen all den in die Jahre gekommenen Egozentrikern wirkend – eine uralte Freundin aus längst vergangenen Zeiten …
Ihre sanften, taubengrauen Augen ließen noch ein wenig von der einstigen Faszination ahnen, die sie einmal auf junge Männer ausgeübt hatte (ich glaube, sie war die einzige Frau der Welt mit taubengrauen Augen).
Jetzt standen dem wohl ihre mehr oder weniger barocken Formen im Wege: der winzige, aber immer deutlich sichtbare Ansatz zum Doppelkinn; aber auch ihr nicht mehr so gepflegtes, hell-blond gelocktes Haar, das etwas zu viel Wasserstoff abbekommen hatte. Ein wenig erinnerte mich ihr Aufzug an eine alte Porzellan-Puppe, die in einem selten benutzten Wohnzimmer auf dem Sofa vergessen worden war.
„Elvira …“, sagte ich (ihr Namensschild stand neben meinem), „was in aller Welt treibt Sie denn bloß in diese morbide Gesellschaft?“
„Und Sie, Frank?“
„War mal schrecklich in Sie verliebt – erinnern Sie sich noch?“
„Aber natürlich, Frank, das ist lange her.“
„Unendlich lange, ja.“
„Und wir sind beide nicht jünger geworden.“ Ihr Blick, während sie skeptisch meine Nasenspitze musterte, sagte alles. Wahrscheinlich hatte ich wieder jene tiefen dunklen Augenränder, die irgendetwas Schreckliches ahnen ließen. Schatten der Vergangenheit, ein Drama auf der inneren Bühne. Als verrieten sie nur zu deutlich meinen lockeren Lebenswandel. Dabei lebte ich schon seit Jahren ganz solide. Sexuelle Exzesse verbot mir einfach mein angeschlagener Kreislauf.
Er war zwar nicht derart in Unordnung, dass ich befürchten musste, jeden Augenblick vom Stuhl zu fallen. Aber auch nicht so in Form, dass ich noch wie einst ohne Spuren von Ermüdung die Nachtpferdchen in den frühen Morgen geritten hätte.
„Aber Sie sind immer noch die alte, Elvira.“
„Schmeichler …“
„Sehen Sie sich doch bloß die lüsternen alten Böcke an“, sagte ich und deutete unmerklich in die Runde. „Alle Augen hängen an Ihrem Gesicht, Elvira – vorsichtig ausgedrückt. Die ganze Räubergarde mit aufgeklapptem Taschenmesser in der Hose.“
„Das bin ich gewohnt, Frank.“
„Sie sollten niemals ohne meine Begleitung in den Park gehen, Elvira. Diese alten Kerle sind zu allem fähig. Vergehen gegen Recht und Gesetz waren mal ihr Geschäft.“
„Und Sie sind immer noch der gleiche schlimme Charmeur und Spötter, Frank“, stellte sie nüchtern fest.
Das Ungetüm mit blauem Federhut – wie aus einem alten Gemälde entsprungen, bei dem der Meister eine leicht karikative Haltung bevorzugt hatte – war keine geringere als ihre ältere Schwester Mona.
Härter im Nehmen und durchtriebener als jede andere Agentin nach dem Zweiten Weltkrieg, gestand mir Elvira.
Es klang, als müsse man sich besser vor ihr in Acht nehmen. Ich hatte von ihren Taten noch nicht das geringste gehört, was mir sofort Elviras abschätzigen Blick eintrug. Familienbande bedeuteten ihr mehr als eigene Erfolge, erst recht, weil sie ehelos geblieben war. Sie hatte immer nur ihre Pflicht getan.
Das Verblüffendste an dieser Darbietung war, dass Asch – der Meister, der Organisator, das Genie des Ganzen – sich plötzlich entschuldigen ließ.
Heute wäre sein großer Abend gewesen, die Galavorstellung, in der er sich den bewundernden Blicken seiner alten Kameraden aussetzen durfte. Lob und Anerkennung en gros. Segen über sein Haupt … wann durfte man schon einmal eine ganze Karaffe Kronberger Michelsporter auf das Tischtuch gießen, die Flasche zu neunundachtzig fünfzig, ohne später für die Rechnung aufkommen zu müssen?
Er hatte ein paar Tausender von dubiosen Stellen losgeeist, einer ‚Stiftung’, die allerdings ungenannt bleiben wollte, um uns allen dieses Treffen zu ermöglichen.
Bertrand, der sich immer mehr als sein treuer Adlatus entpuppte, kam mit einem Zettel in der Hand herein und verkündete düster:
„Asch ist aufgehalten worden. Bitte fangen Sie schon an – essen Sie. Er kommt später.“
Wir waren beim dritten Gang, und es begann hübsch ausgelassen und ordinär zu werden. Seine Aufforderung war mehr als bloß eine Frechheit. Sie entlarvte uns alle als ausgehungerte Almosenempfänger.
Aber Bertrands Bedürfnis nach Feinfühligkeit oder vornehmer Zurückhaltung war noch nie sehr ausgeprägt gewesen.
Jemand ließ die Gabel gegen ein Glas knallen – rief „Prost …“‚ und sofort folgte eine ganze Salve von klirrenden Feuerwerkskörpern.
Die eine oder andere Karaffe ging dabei zu Bruch. Immerhin veranlasste ihn das, mit eingezogenem Schwalbenschwanz Leine zu ziehen, die Linke verlegen am Frackrevers.
„Auf Bertrand“‚ rief jemand. – „Und auf Meister Asch“‚ ein anderer. – „Ja, zum Teufel, trinken wir alle darauf, dass wir diese grässlichen Jahre glücklich überstanden haben …“
Irgendwann, ich glaube kurz nach Mitternacht, stahl ich mich weg, um ein wenig Schlaf nachzuholen. Asch war noch immer nicht erschienen. Ich sagte mir, so wichtig würde das, was er uns zu eröffnen hatte, nun auch wieder nicht sein.
Das Licht eines Autoscheinwerfers an der Zimmerdecke weckte mich – oder waren es zuschlagende Wagentüren? – und ich hörte Aschs befehlsgewohnte Stimme, sagen:
„Nicht vor dem Frühstück, Bertrand. Denken Sie immer daran, dass diese alten Knaben ihre Nachtruhe brauchen …“
Ich zog meinen Morgenrock an, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen, sah aber nur noch Aschs wehenden, schwarzglänzenden Ledermantel durch den Hintereingang verschwinden.
Sein Anblick vermittelte mir immer das Gefühl, etwas von dem tranigen Robbenöl zu riechen, mit dem er sein Mantelleder pflegte (er schwor darauf – der obligate ‚Geheimtipp’; seiner Meinung nach war es das einzige Mittel, Leder in unserer mitteleuropäischen Witterung weich und geschmeidig zu erhalten), und weil die Entfernung viel zu groß war, um wirklich etwas riechen zu können, wurde mir plötzlich bewusst, wie stark wir auf alte Sinnesreize reagieren und wie viele plastische Erinnerungen, die fast schon Halluzinationen gleichkommen, durch sie ausgelöst werden.
Während meiner Arbeit hatte ich mich lange mit den Biographien und Lebensläufen östlicher Politiker beschäftigen müssen.
Ich hatte alte Fotos und Filme gesehen, Krankenberichte analysiert und dabei gefunden, dass die Konfrontation mit einem Zeitungsfoto einige Jahre später unvermittelt den Eindruck erzeugen konnte, man habe den Betreffenden nicht nur aus der Ferne, sondern auch persönlich gekannt. Tschernenko zum Beispiel, die Hinfälligkeit seiner Gebärden, kurz bevor er – so das öffentliche Bulletin – einem Lungen- und Leberleiden erlegen war, die Art, wie man ihn stützen und aus dem Zimmer geleiten musste, hatte mir beim ‘Anblick alter Fotos noch Monate später das Gefühl vermittelt, er sei ein guter alter Bekannter gewesen …
Ich fragte mich, was diese Assoziation – von Lederfett und russischen Politikern – so plötzlich wachgerufen haben könnte – vermutlich die nachtschlafende Stunde –‚ und strich mir leicht verwirrt mit den Fingerspitzen über die Stirn.
Dann zog ich den Gürtel meines Morgenrocks enger und machte mich auf den Weg in die Hotelhalle.
Asch stand am Treppenabsatz, als er mich erblickte. Seine vorgebeugte, krumme Valentingestalt unter dem weiten Mantel erinnerte auf bizarre Weise an eine Vogelscheuche – so ausgehöhlt und klapprig, dass sie nicht einmal mehr die Stare ganz ernst nehmen würden.
Aber sein Blick zeigte noch immer jenes besessene, ja fast schon hasserfüllte Brennen, das einem signalisierte, man nehme sich besser vor ihm in Acht. Ich fand seine Lider noch ein wenig geröteter als sonst. Die Augen eines Wahnsinnigen.
Er verzog nicht einmal das Gesicht, sondern deutete nur stumm zum ersten Stockwerk. „Kommen Sie, Frank, da hinauf …“
Die erste Tür im Gang war ein Besprechungszimmer. Fünf, sechs hölzerne Stühle, im Halbkreis aufgestellt, an der Wand dahinter ein kahler Tisch.
„Ich werde morgen nach dem Frühstück eine historische Ansprache halten“, eröffnete er mir, kaum dass wir uns gesetzt hatten. „Sie sollen der erste sein, der davon erfährt. Erinnern Sie sich noch an unsere Nacht auf dem Bahnhof Friedrichstraße? Damals vertraute ich Ihnen an, die Welt dürste nach Verständigung. Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit statt Kaltem Krieg. Glasnost, Transparenz und so weiter …?“
„Ja, ich erinnere mich.“
„Nun ist es so weit, Frank.“
„Es ist so weit? Was meinen Sie?“
„Ich brauche Ihre Hilfe, Frank.“
„Gern – wenn ich meinem guten alten Freund Asch einen Gefallen tun kann?“
„Tun Sie’s lieber im Namen der internationalen Verständigung.“
„Meinethalben auch im Namen Albert Schweitzers oder Mutter Theresas. Aber was, zum Teufel, soll ich tun? Worum geht es eigentlich? Sie wissen, dass ich von all dem Verständigungsgesäusel nie viel gehalten habe, Karl? Irgendein kluger Kopf hat mal vorgeschlagen, mehr Kriminalromane zu lesen, weil uns das dazu brächte, unsere schwarzen Phantasien zu kontrollieren. Die Politiker ändern sich nicht. Nach wie vor lesen sie zu wenig Horrorgeschichten – und setzen lieber selber welche in Szene.“
„Ja, Sie sind der alte Zyniker geblieben, Frank.“ Er nickte bekümmert. „Ein kalter Krieger ohne Schwert. Es hat Ihnen noch immer mehr Vergnügen bereitet, die paar positiven Impulse in den Dreck zu ziehen, die große Taten beflügeln, als auch nur einen davon zu unterstützen oder zu bestärken. Aber diesmal bitte ich Sie als Freund.
Sie sind Experte für Verhörfragen. Sie verstehen es wie kein anderer, Geheimdienstberichte zu analysieren. Und vor allen Dingen: Sie sind Mediziner.“
„Ehrlich gesagt – vielleicht ist es ja nur die vorgerückte Stunde“, erwiderte ich und massierte blinzelnd meine Schläfen mit den Fingerspitzen, „aber Ihre Ausführungen überfordern mich etwas.“
„Ja, natürlich. Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, weswegen wir hier sind.“
„Man munkelt viel darüber, aber keiner weiß Genaues. Bertrand behauptete, es sei das dickste Ding seit Kaisers Zeiten?“
„Dieser Bertrand, ja, ja …“, meinte er versonnen. „Neigt immer zu Übertreibungen. Aber ein wenig ist schon dran an dem, was er sagt, Frank.
Haben Sie jemals darüber nachgedacht, was mit dem Wissen alter ausgemusterter Geheimdienstler passiert?
Einige sind verbrannt, andere verlassen den Dienst, weil sie die Altersgrenze erreicht haben. Wegen Schwerhörigkeit, Herzschwäche oder weil die Augen nicht mehr mitmachen. Und die Nerven natürlich. Sie gehen in Pension und sind zum Schweigen verurteilt, aber jeder Journalist würde sich nach ihren Informationen die Finger lecken.“
„Na und?“, fragte ich.
„Das alte Wissen, Frank … es ist nicht wert- oder bedeutungslos. Einst wurde damit Politik gemacht.“
„Schnee von gestern“, sagte ich.
„Nicht immer, Frank. Manchmal, ja. Aber es gibt genug, das erst auszuloten wäre. Diese Leute sind schließlich Geheimnisträger. Man hat ihnen Auflagen erteilt, die sie zum Schweigen verpflichten – aber was, wenn jemand käme und ihr altes Wissen als Kapital betrachtete?“
„Ehrlich gesagt, Karl, ich verstehe noch immer nicht, worauf Sie eigentlich hinaus wollen?“
„All die alten, nutzlos dahinvegetierenden Knaben könnten ihre Kenntnisse, ihre früheren Kontakte und Beziehungen in die Waagschale werfen.“
„Und wozu, Karl?“
„Um ein wenig Glasnost in die Ost-West-Politik zu bringen.“
„Glasnost, aha.“
„Und um Druck auszuüben. Um durch gezielte Informationen Politik zu machen. Im guten, im besten Sinne, Frank.
Die gegenwärtige Situation ist besonders günstig dafür. Nie standen die Zeichen der Zeit so deutlich auf Verständigung und Abrüstung wie jetzt. Niemals vorher seit dem Zweiten Weltkrieg gab es so viel Bereitschaft, den Karren aus dem Dreck zu ziehen.
Was, wenn wir dabei ein wenig nachhelfen, Frank? Wenn wir die Erzkonservativen, die Renegaten und Desillusionierten, die Bremser und ewig Gestrigen im rechten und linken Lager ein wenig auf Trab brächten?
Würde uns das keinen Platz in der Geschichte sichern, Frank? Das wäre doch eine lobende Erwähnung wert?“
Ich kramte in der Tasche meines Morgenrocks nach einem von ‚Mayers sauren Krümeltürken’, zündete ihn an und blies den Rauch gedankenverloren zum Fenster … Also darauf war Asch aus: Von seiner eigenen Bedeutungslosigkeit erfüllt, trieb es ihn jetzt kurz vor Toresschluss dazu, sich ein wenig bemerkbar zu machen, Spuren zu hinterlassen. Wenn ich richtig sah, hatte er weder Frau noch Kinder. Sein Werk würde alles sein, was blieb. Asch als historische Gestalt, als heimlicher Lenker der Politik …
„Die lange Enthaltsamkeit vom Dienst scheint Ihnen gar nicht gut bekommen zu sein, Karl“, sagte ich so vorsichtig wie möglich.
„Keinem von uns bekommt so etwas gut, Frank. Ausgeschlossen zu sein, mit dem Rücken zur Wand und vor Ihnen nur noch das Altersheim. Weder Ihnen noch mir.
Sehen Sie sich doch diese wandelnden Leichname an. Ordenbehängte Haudegen, bewährte Kämpfer von einst, die jetzt ihr Gebiss in den Schubladen verlegen.
Werden vergesslich. Grübeln über ihre Hämorrhoiden und Verdauungsbeschwerden nach. Weicher Stuhlgang? Harter Stuhlgang? Und ob die Stationsschwester ihnen das Taschengeld kürzen darf. Wer will schon ein so bedeutungsloses Pensionärsdasein führen?“
„Und wie?“, fragte ich. „Wie wollen Sie das bewältigen, Asch?“
„Indem wir einen Klub gründen, Frank – den Klub der Veteranen, der die politische Erneuerung auf seine Fahnen geschrieben hat. Ein bisschen Indoktrination muss natürlich schon im Spiel sein. Moralische Aufrüstung, wenn Sie so wollen. Falls Ihnen der Ausdruck nicht zu hochgestochen vorkommt.“
„Ist das wirklich Ihr Ernst?“
„Mir war es nie ernster mit irgendetwas, Frank.“
„Ziemlich riskant, oder?“
„Weil wir viele Feinde haben? Ja. Wir werden im Verborgenen arbeiten müssen. Und über Mittelsmänner agieren.“
Ich dachte nach und versuchte auf den Punkt zu kommen, ohne ihn durch das Wort ‚Erpressung’ unnötig herauszufordern. „Sie wollen Politiker mit vergangenen Verfehlungen unter Druck setzen, nicht wahr?“
„Mit allem, was Erfolg verspricht, Frank. Nach dem Motto:
‚Entschuldigen Sie die Störung. Aber Sie erinnern sich sicher eines gewissen Vorfalls damals in den Zeiten des Kalten Krieges?’ Sieht man sich an, was seit dem Zweiten Weltkrieg hinter den Kulissen getrieben wurde – und wer wüsste darüber mehr zu sagen als wir? Man braucht das alte Wissen nur zu aktivieren, Frank –, dann müsste ein großer Teil der bekannten Geschichte neu geschrieben werden. Daran haben wir natürlich kein Interesse. Die Geschichte den Historikern.
Wir wollen nur, dass man sich all der schäbigen kleinen Klüngel, der Komplotte und Einflussnahmen erinnert, der Gefälligkeiten, des Stimmenkaufs, der Rücksichtnahme auf Parteifreunde und politisch Gleichgesinnte – dass man uns gegenüber jetzt die gleichen politischen Konzessionen macht, wie andere einst, die damals klein beigeben mussten.“
„Hm … gar nicht mal so übel, Ihre Idee, Karl. Vielleicht funktioniert’s ja sogar. Eine Zeit lang, meine ich. Ich frage mich bloß, wie Sie das mit den Fahnen der moralischen Erneuerung vereinbaren wollen?“
„Vergleichen Sie’s ganz einfach mit dem Klaps aufs Hinterteil, den Ihnen ein wohlmeinender Erziehungsberechtigter versetzt. In der Erziehung geht’s nun mal nicht immer friedlich und mit sanften Mitteln zu.“
„Und wie wollen Sie das Ganze finanzieren? Dazu braucht man Mitarbeiter und Büros, Datenbanken. Vom Telefon bis zur Portokasse, von kleinen Gefälligkeiten und Schmiergeldern gar nicht zu reden – das alles wird ein Vermögen kosten.“
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Frank. Wir haben großzügige Förderer gefunden.“
„So? Und wen, wenn ich fragen darf?“
„Darüber möchte ich jetzt nicht sprechen.“
„Wer so lobenswerte Absichten hat, der sollte sich nicht verstecken müssen, Karl.“
„Von verstecken kann gar keine Rede sein“, sagte er aufgebracht. „Gegenwärtig konstituiert sich hier in Berlin eine Stiftung für Ost-West-Verständigung, die unsere Arbeit finanzieren wird. Ich möchte nicht in laufende Verfahren eingreifen. Das würde bei den Stiftungsmitgliedern und Förderern nur zu Irritationen führen.“
„Und Bertrand? Sie haben Bertrand doch sicher eingeweiht, Karl?“
„Er weiß nicht mehr als Sie. Noch bin ich zum Schweigen verpflichtet. Ich möchte, dass Sie den Dritten im Bunde spielen, Frank. Als Triumvirat könnten wir es schaffen – Sie, Bertrand und ich. Was halten Sie davon?“
„Ich werde darüber nachdenken.“
„Wir fangen übermorgen mit den Befragungen an. Lassen Sie den alten Knaben noch ein paar Tage Zeit, um sich einzugewöhnen. Vorträge, gesellige Abende, gutes Essen und Trinken, in Erinnerungen schwelgen – das wird sie bei Laune halten. Ich habe ein paar hübsche Einlagen arrangiert, Überraschungsgäste.“
„Und so ganz nebenbei …?“
„Nein, gezielt, ganz offen. Mit Hinterm-Berg-Halten ist uns nicht gedient. Man muss sie ausdrücklich für die Sache gewinnen, Frank. Sie werden nicht so ohne Weiteres mitarbeiten wollen. Zu Anfang vielleicht. Wenn die Wellen der Begeisterung hochschlagen … aber dann? Das Gefühl, nicht mehr bloß zum alten Eisen zu gehören, wird sich schnell abnutzen. Deshalb gründen wir einen Verein mit eindeutigen Zielsetzungen. Die Aufgabe jedes einzelnen Mitglieds ist klar definiert. Jeder hat seine Rechte und Pflichten.
Oberste Pflicht ist die Preisgabe aller Informationen.
Uneingeschränkt, Frank – ohne Wenn und Aber. Wir brauchen von jedem einzelnen verwertbare Informationen, die sich in konkrete Politik umsetzen lassen. Das wird nicht so ganz leicht sein. Viele lange, vielleicht sogar quälende Stunden, die mehr Verhören als wohlmeinenden Gesprächen gleichen dürften.“
„Und wenn die Sache auffliegt?“, fragte ich. „Wenn einer aussteigt und redet?“
„Unsere Absichten sind nicht unmoralisch, Frank.“
„Aber die Methoden, nicht wahr?“
„Was wir mit ihren Informationen machen – wie wir sie einsetzen – ist unsere Sache. Und glauben Sie wirklich, dass einer von denen seine alten Kameraden vor der Presse so leichten Herzens bloßstellen wird? Sie der Geheimbündelei bezichtigen? Dazu überblicken sie auch das Ganze gar nicht.“