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Drittes Kapitel
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1
Ein Blinder, der in einem stockfinsteren Zimmer nach Dingen sucht, die nicht existieren, hätte mein alter Freund Richards gesagt. Aschs Sendungsbewusstsein musste irgendwann so weit abgehoben haben, dass seine Zehenspitzen schon längst nicht mehr den Boden der Realität berührten, dachte ich, während ich mich ins Bett zurücklegte.
Nun gut, damit konnte ich leben. War schließlich sein ganz persönliches Problem, was er aus seinen verrückten Einfällen machte.
Ich saß an der Quelle, ich hatte das Privileg, alles aus nächster Nähe verfolgen zu können – als das eine Drittel des Triumvirats. Sicher gibt es wenig Unterhaltsameres als einen Haufen Verrückter mit moralischen Prinzipien.
Irgendwann in der Nacht wurde ich vom Lärm des unter mir auf das Wellblechdach trommelnden Gewittergusses geweckt. In diesem Teil der Stadt schien endgültig die Regenzeit angebrochen zu sein, die lange, melancholische Zeit voller Dunst und Düsternis.
Da ich nicht mehr einschlafen konnte, spülte ich mir den Mund mit einem halben Glas stark verdünnter Zahnpasta aus, zog mich an und ging hinunter, um ein wenig Hotelluft zu schnuppern.
Die Halle war leer, aber vor dem Eingang – draußen im Nieselregen auf den unebenen Plastersteinen der Zufahrt – saß Lothar Laflöhr und meditierte im Schneidersitz, die Arme abgespreizt, seine Handflächen dem Regen zugekehrt.
Ich musterte ihn eine Zeit lang durch die regenverschmierten Scheiben. Sein Oberkörper war nackt. Er trug eine helle, grobe Leinenhose, die völlig durchnässt war, und neben ihm auf dem Pflaster lag sein Zwicker.
Nun gut – auch damit konnte man leben!
Als ich eines der beiden Frühstückszimmer passierte, hörte ich drinnen Stimmen. Jemand sagte: „Sander wird sich kaum auf ein so dubioses Unternehmen einlassen.“
Darauf die Antwort: „Warten wir’s ab. Ich sage schon jetzt: Bei der Sache werden sich schnell Fraktionen bilden. Dann kommen die Macht-, die Diadochenkämpfe. Und Sander ist noch das Beste, was uns in so einem Verein passieren kann. Er hat Erfahrung.“
Ich ging weiter – nicht weil es mir peinlich gewesen wäre, eine so wohlmeinende Einschätzung meiner Person zu hören –‚ sondern weil sich unten im Gang eine Tür öffnete. Für halb vier Uhr morgens bemerkenswert viel Betrieb. Bertrand betrat in Begleitung Elviras die Szene, und ich brachte es gerade noch fertig, mich mit einem nervösen Sprung in eine Schranknische zu retten.
Als sich ihre Schritte näherten, verstummten auch die Stimmen im Frühstückszimmer: Ich trat – den Rücken zum Gang – noch tiefer in den Schatten. Doch das bewahrte mich nicht davor, entdeckt zu werden.
„Frank …“, sagte Elviras Stimme neben mir. „Um Gottes willen, ist Ihnen nicht gut? Sollen wir den Arzt rufen?“ Dann legte sich Bertrands schwere, feuchte Affenhand auf meine Schulter.
„Bin selber Arzt, falls Ihnen das entgangen sein sollte“, meinte ich verdrießlich.
„Kommen Sie, lassen Sie uns einen kleinen Spaziergang durch den Park machen. Sauerstoff und Bewegung. Das bringt Sie wieder auf die Beine.“
„Ich glaube nicht, dass ich …?“
„Wir haben mit Ihnen zu reden.“
„Ja, zu reden“, bestätigte Bertrand.
„Außerdem regnet es“, wandte ich ein.
„Gehen wir doch ins Gartenhäuschen, da sind wir vor dem Regen geschützt“, schlug Elvira vor.
Das Gartenhäuschen war ein auf dünnen hölzernen Säulen ruhendes Spitzdach, in dessen Gestühl ein leerer Vogelkäfig hing. Am oberen Ende der beiden Holzstufen standen zu einem Dreieck angeordnete eiserne Parkbänke.
Elvira steuerte mit entschlossener Miene darauf zu. Ich setzte mich so in die Mitte, dass Bertrand mit dem Platz links außen vorlieb nehmen musste. Er registrierte es schnaufend und mit allen Anzeichen bohrenden Ärgers; vermutlich hatte er sich wie jeder ernstzunehmende Mensch auf der Stelle in Elvira verliebt.
Ich nahm ihre Hand und fragte: „Also?“
„Ein klares Ja oder Nein, Frank – das ist alles, was wir von Ihnen wollen.“
„Und wozu, wenn ich fragen darf?“
„Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind.“
„Also wirklich … ich weiß nicht …?“
„Haben Sie nun versucht, unser Gespräch zu belauschen, oder nicht?“
„Ganz im Gegenteil, ich wollte nur unbemerkt bleiben.“
„Der Lauscher an der Wand …“, sagte sie und drohte scherzend mit dem Zeigefinger. „Glauben Sie, es sei möglich, einen Menschen so zu töten oder zum Schweigen zu bringen, dass es wie eine ganz gewöhnliche Erkrankung aussieht? Ich frage Sie als Experten, als Arzt.“
„Nun … das ist nicht gerade mein Fach – damit habe ich mich noch nicht näher beschäftigt“, erwiderte ich verblüfft. „Aber was in aller Welt bringt Sie denn bloß auf so abwegige Spekulationen?“
„Wir unterhielten uns über neuere Entwicklungen in der Politik, Frank. Bemerkenswert viele bedeutende Politiker sind unerwartet schnell verstorben. Herzattacken, Lungenleiden. So etwas dürfte doch rechtzeitig zu diagnostizieren sein, oder? Erst recht bei Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit stehen. Ich meine: beim gegenwärtigen Stand der Medizin? Gestern, während des Essens, äußerte jemand den Verdacht, Alfons Zapata, der mexikanische Revolutionspolitiker, sei nicht einfach nur so einer Leberinfektion erlegen. Dahinter stecke mehr. Seine politischen Gegner – verstehen Sie?“
„Ehrlich gesagt, nein.“
„Gütiger Himmel, sind Sie wirklich so naiv?“
„Wer verbreitet denn solchen Unsinn?“, fragte ich.
„Sie haben schon verstanden, Frank.“ Elvira entzog mir ihre Hand, und ich roch ein wenig von dem Parfüm, mit dem sie vergeblich versuchte, die Verlockungen ihres körpereigenen Hormons und die Anstrengung ihrer Achselhöhlen durch ein schales Industrieprodukt zu ersetzen.
Die frühe Morgenstunde schien Elviras Anziehungskraft noch zu verstärken. Meine Begierde nahm seltsame Proportionen an. Erst ein kräftiges Knurren ihres leeren Magens riss mich wieder in die Wirklichkeit zurück.
„Was ist los mit Ihnen Frank?“
„Wir sind alle ganz verrückt nach Ihnen, Elvira. Sehen Sie sich bloß Bertrands seibernde Lippen an. Ich glaube, Asch hat Sie eingeladen, um etwas Schwung in den Laden zu bringen – um uns allen den Kopf zu verdrehen?“
„Wenn Sie wollen, gehen wir alle rauf in mein Zimmer und vertreiben uns die Zeit mit ‘nem flotten Dreier?“, meinte sie. „Ernsthaft, Bä-ä-r-tra-nd! – brächten Sie das fertig? Ich meine, wozu ist Ihr Rohr sonst gut?
Sie müssen sich nur darauf gefasst machen, dass mein Zimmer wie eine Scheune voller Seegras riecht. Scheint schon seit ein paar Jahren nicht mehr gelüftet worden zu sein. Aber die Matratze ist in Ordnung.“
Bertrand musterte sie ungläubig, die personifizierte Fassungslosigkeit. Sein Blick wanderte zwischen mir und Elvira hin und her, als hätten wir ein entsetzliches Komplott gegen ihn in Szene gesetzt. „Danke“, murmelte er schließlich. „Ein andermal vielleicht. Ich bin leider zum Frühstückmachen verdonnert – Büfett und so weiter. Karl hat nicht genug Personal angemietet, um den Laden zu schmeißen. Außerdem ist um zehn Uhr Klubgründung.“
Damit verschwand er, nicht ohne mir einen Blick zuzuwerfen, der bedeuten sollte: Ich krieg dich schon noch zu fassen, Frank Sander. Und dann gnade dir Gott!
„‘n bisschen arg altmodisch, unser Bertrand, was, Frank?“
„Sie hätten ihn nicht so vor den Kopf stoßen sollen, Elvira. Die Gefühle alter Kerle sind was Kostbares, man muss pfleglich mit ihnen umgehen.“
„Er klebt seit gestern Abend an mir. Wie am Fliegenfänger, Frank. Als ich heute Morgen meine Zimmertür aufmachte, stand er mit einem Besen davor. Ich glaube, er hat die ganze Nacht den Korridor gefegt und darauf gewartet, dass ich meine Schuhe vor die Tür stellen würde.“
„Um sie zu putzen?“
„Er hatte Lappen und Bürste dabei.“
„Ja, er ist sehr ordentlich, der geborene Lakai. Als er noch die Berliner Sektion leitete, achtete er immer streng auf die Kleidung seiner Agenten.“
„Mehr als auf die Strategie seiner Gegner, Frank.“
„Es war eine jener zahllosen Marotten, die ihm schließlich das Genick brachen.“
„Haben Sie schon gehört, welche Aufgabe Asch ihm bei unserem Treffen zugedacht hat?“
„Nein, welche?“
„Er ist sein Stellvertreter.“
Ich betrat den Frühstücksraum mit gemischten Gefühlen. Die Atmosphäre knisterte vor Erwartung wie zur Weihnachtsbescherung einer vielköpfigen Familie.
Den Christbaum ersetzte dabei das kleine erhöhte Rednerpult an der Frontseite des Saals. Es sah aus, als sei es aus irgendeiner nahe gelegenen Grundschule entwendet worden: glanzloses, bleiches Limbaholz, auf dem zahllose Schülergenerationen mit Bleistift, Tinte und Taschenmesser ihre Schmähungen hinterlassen hatten.
Asch saß – nein, man musste schon sagen, residierte – am festlich gedeckten Tisch vor der Rednertribüne und betrachtete mit sichtlichem Vergnügen das Getrampel um sich her.
Er hatte sich nicht mit dem kargen kontinentalen Frühstück begnügt, das hier üblich gewesen wäre, sondern ein langes Büfett auffahren lassen.
Vor den Pfannen und Töpfen spielten sich Szenen ab, die lebhaft an das Gedränge auf dem Jahrmarkt oder beim Schlussverkauf erinnerten.
Eine bekannte Stimme rief mir zu:
„Sander … die gebratenen Champignons, exzellent …“‚ doch ehe ich mehr als den Rücken und Ausschnitt seiner Schulter wahrnehmen konnte, verlor ich ihn wieder aus den Augen, weil mir jemand den Ausgießer einer eisernen Kaffeekanne in die Seite rammte.
Ich entschloss mich, das Tohuwabohu lieber aus der sicheren Deckung des Säulenrundgangs zu beobachten. Dort waren zwei Türen mit der Aufschrift ‚Notausgang’.
Eine unbestimmte Furcht, die ich immer beim Anblick eines so unkontrollierbaren Haufens von Wirrköpfen empfinde, sagte mir, dass, wenn jetzt ein Feuer ausbräche, die Hälfte aller Frühstücksgäste zu Tode getrampelt würde.
Die Gaskocher unter den Töpfen und Schalen sahen nicht so aus, als hätten sie seit Kaiser Wilhelms Zeiten jemals die Gnade irgendeiner Wartung oder Pflege erhalten. Außerdem war mir beim Anblick des Gedränges der Appetit vergangen.
Aschs Rede, als das Klappern der Tassen und Teller nach dem endlosen Zug der Lemminge halbwegs verstummt war, mutete ein wenig an wie die Beschwörungen und düsteren Zukunftsvisionen eines frühchristlichen Propheten. Ich wusste, worauf er hinauswollte, aber sein Anliegen bekam durch das neue, ungewohnte Gewand seiner Worte unverhofften Glanz. Ich glaube, niemand hatte gewusst, dass er ein so begabter Redner war. Er begann taktisch klug mit einem Exkurs über die Langeweile. Kein Krebs, kein Herzleiden sei von so schleichender, zerstörerischer Heimtücke wie ein Leben ohne Aufgabe. Das beifällige Gemurmel, das sich über den von satter Müdigkeit gezeichneten Gesichtern erhob, zeigte an, dass er einen Nerv getroffen haben musste.
„Die Teilhabe“, rief er, „die Teilhabe an allem, was uns politisch angeht – ist das etwa eine vermessene Forderung, Freunde? Und sind wir nicht dank unserer erfolgreichen Arbeit und langen Erfahrung für gewisse Aufgaben geradezu prädestiniert? Wo stände das freie Europa heute ohne uns?“
Dann folgte eine verblüffend genaue Analyse vergeudeter Kräfte und Fähigkeiten. Im Grunde sei alles noch so wie früher. Auch wenn ein paar Ignoranten in den Diensten das niemals einsehen würden.
Jeder Gerontologe bestätige, wie leistungsfähig der Verstand selbst noch im hohen Alter bleibe, wenn man ihn nicht durch überflüssige Ruhigstellung hemme.
Er rate niemandem, sich wie einst die Tage und Nächte an irgendwelchen zugigen Grenzübergängen um die Ohren zu hauen und mit dem Nachtglas nach verloren gegangenen Agenten Ausschau zu halten.
„Keine nervenaufreibenden Beschattungen in feindlichem Territorium, Freunde, kein Nahkampf mit dem Messer. Das erledigen andere für uns. Wir leisten nur die geistige Arbeit, mehr verlangt man nicht von uns …“
Danach kam er auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen. Er redete von politischer und moralischer Erneuerung, von der Notwendigkeit eines Klubs, den er dazu ins Leben rufen wolle – den Klub der Veteranen.
Ein „Gremium der Alten und Weisen“, wie er mit beschwörender Stimme erklärte, das – seit langem überfällig – nun endlich in die Entwicklung eingreifen werde. Als er beim Thema Druck angelangt war – Druck durch gezielte Informationen –‚ verließ ich den Saal und ging hinauf in das umbaute Verandacafé von dem aus man das Hotelportal und die Zufahrt überblicken konnte.
Ich bestellte Kaffee und Cognac, zündete mir einen ‚sauren Krümeltürken’ an und harrte der Dinge, die da kommen würden.
Ich versuchte, grobe Schätzungen darüber anzustellen, wer nach dieser Offenbarung politischen Schwachsinns sofort abreisen würde. Zwei Drittel? Die Hälfte? Oder nur lumpige zehn Prozent?
Ich wartete lange – und vergeblich. Im Haus schrillte eine Klingel zum Zeichen für das gemeinsame Mittagessen, als ich mich endlich erhob, gähnend ein paar alte Illustrierte in die eingesessenen Ledersessel beim Kamin zurückwarf und mich auf mein Zimmer begab.
2
Green hinterließ immer eine Spur feuchten Lehms vom Murellenberg – in gesunder Luft zu wandern war seine große Leidenschaft. Er sagte, im Niemandsland zwischen den Fronten – das war West-Berlin für ihn – sei die Atmosphäre von besonderer Spannung.
Wenn man seine innersten Regungen beobachte, fühle man die unüberbrückbaren Gegensätze. Niemand schien Aschs Ansinnen der Klubgründung als Anlass für seine unverzügliche Abreise anzusehen. Im Grunde ihres Herzens waren sie alle Rebellen. Die bestehende Ordnung zu stützen anstatt sie zu stürzen – bedeutete das nicht auch die Fortsetzung der Langeweile und des Überdrusses?
Man musste abwarten, was passieren würde, sich auf gar keinen Fall von der Quelle entfernen. Erst recht nicht, wenn der Aufenthalt – Zimmer, volle Verpflegung, Nebenkosten und Veranstaltungen – großzügig von einer Stiftung für ‚Ost-West-Verständigung’ getragen wurde. („Schon mal gehört den Namen?“ – „Nein, aber wer hat denn den ganzen Katalog privater und staatlicher Stiftungen im Kopf?“) Erholung und Kurzweil im Namen der Völkerverständigung. Kein Fragebogen, keine Eintragung in Anwesenheitslisten. Nicht mal Extrazuschläge für die Minibar.
Man hätte bis nach Japan telefonieren oder seiner schwerhörigen alten Tante in Neuseeland per Telegramm herzliche Grüße übermitteln lassen können, vorausgesetzt der Portier, der auch den Telefonisten spielte, war aus seinem komaähnlichen Tiefschlaf zu wecken.
Falkners chromglänzender Rollstuhl quietschte unablässig durch die Gänge und Laflöhr zog es vor, sein Mantra nur noch beim Gehen zu murmeln, anstatt draußen am Hotelportal ein Verkehrshindernis zu bilden.
Die Anwesenheit der beiden Amerikaner war eher dem Zufall zu verdanken. Asch hatte sie kurz vor ihrer endgültigen Rückkehr in die Staaten nach Portland an der Kneipe beim Flughafen aufgegabelt. Seine enthusiastische Einladung, ihre Wiedersehensfreude, vor allem aber die Aussicht, oben im Bundesstaate Washington nun den Rest ihres Lebens nichts anderes als dünnes saures Reisbier von der Sorte Budweiser trinken zu müssen, das eher Ähnlichkeit mit harntreibender Gesundheitslimonade als einem alkoholhaltigen Getränk auch nur mäßiger Rasse und Klasse besaß, war genügend Anlass gewesen, den Rückflug auf die nächste Woche umzubuchen.
Nun saßen sie an der Bartheke und nahmen sich ein Fass nach dem anderen vor. Sie tranken ausschließlich Schultheiss-Bier, und das Thema, das sie für das Wichtigste hielten, schien die Feinporigkeit des Schaums zu sein, die Zeit, die eine Pilsblume mindestens halten musste, wenn sie von einwandfreier Qualität war.
Man sah ihnen nicht an, dass die Klubgründung sie sonderlich beeindruckt hätte. Als ich vorüberging, fragte einer: „Sie sind doch früher schon mal in Langley, Virginia, gewesen? Oder täusche ich mich da?“
„Ja, wahrscheinlich“, sagte ich. „Sie müssen sich täuschen. Ich war noch nie in Virginia.“
Während ich weiterging, spürte ich seine Feindseligkeit im Rücken – den missbilligenden Blick, den enttäuschte Neugier hervorruft. Aber Fragen nach privaten Dingen waren mir schon immer suspekt gewesen.
Selbst wenn ich jemals dort gewesen wäre – vermutlich meinte er das Hauptquartier der CIA –‚ hätte ich keinen Grund gesehen, ihn darüber aufzuklären. Ich denke, die Vergangenheit ist es meist nicht wert, wie ein Haufen faulenden Unrats gewendet oder immer wieder auf- und zugedeckt zu werden.
Jemand, den ich nicht kannte und der sich breit lächelnd als Ronald vorstellte (ausgerechnet Ronald), versuchte mich in ein Gespräch zu verwickeln:
„Was halten Sie von der Annahme, dass Gorbatschows Pläne nur ein großes Ablenkungsmanöver sind?“
„Ein Ablenkungsmanöver? Wovon?“
Er lächelte sibyllinisch. „Von seinen wirklichen Motiven. Die alte Garde – Breschnew, Andropow, Tschernenko – war zu konservativ.
So kam man nicht weiter. Wirtschaftlicher Niedergang, Aufrüstung – eine Rüstungsspirale, bei der Mütterchen Russland über kurz oder lang den kürzeren ziehen musste.
Das Land war in latentem Protest. Schiebung statt Ideologie, Sander. Jetzt versucht man es einfach andersherum: Der Wolf hat Kreide gefressen …“
Ich ging achselzuckend weiter. Im ‚Blauen Zimmer’ konnte man einem Vortrag aus der Reihe ‚Weltanschauliche Gespräche’ lauschen, Titel: Unterlassene Hilfeleistung in der Politik.
Mir schien es, als sei das ein Gemeinplatz. Die Politik besteht aus nichts anderem, einmal davon abgesehen, dass die Politiker das große Spiel des gemeinschaftlichen Absahnens betreiben; aber die Veranstaltung war so gerammelt voll, als würden dort weltanschauliche Neuigkeiten verkündet.
Hinten stand man bereits auf zwei ausrangierten Kapellenbänken, die Bertrand in unermüdlichem Beschaffungsdrang aus der Sakristei einer nahe gelegenen Kirche besorgt hatte.
Ein smartes Kerlchen vom Politischen Seminar der hiesigen Universität – dunkelblauer Zweireiher, feinster Nadelstreif – zog Vergleiche zwischen unterlassener Hilfeleistung im privaten und politischen Bereich. Der Begriff, auf gesellschaftliche Verhältnisse angewendet, sei zwar ungewohnt, aber nichtsdestoweniger in der Sache zutreffend. Was unterscheide denjenigen, der einem Ertrinkenden im kalten winterlichen Fluss seine Hilfe versage, eigentlich von jemandem, dem es an politischem Verantwortungsgefühl mangele? Der seine Möglichkeiten zum Nutzen der Gesellschaft nicht voll wahrnehme?
Er vermied es, die Worte ‚alternde Agenten’ oder ‚pensionierte Geheimdienstler’ auch nur im Nebensatz zu streifen, aber jeder wusste, dass er nicht von irgendwelchen nebulösen Fähigkeiten, von Parteieintritten, Eingaben an Abgeordnete oder Protestkundgebungen sprach.
Asch hatte eine gute Wahl getroffen. Ich bewunderte die Geschicklichkeit, mit der er seinen neuen Verein zu indoktrinieren wusste.
Es gab praktisch keine Möglichkeit, seinen Ideen zu entgehen.
Selbst eine so harmlos erscheinende Nachmittagsveranstaltung wie „Wir spielen Schach mit lebenden Figuren im Gelben Salon“ geriet ihm schon nach wenigen Zügen zur politischen Werbeveranstaltung.
„Seht euch die Bauern an, das arbeitende Volk, Freunde. Vergleicht man ihre zahlenmäßige Stärke, so sind sie den Adeligen gegenüber keineswegs in der Minderheit – aber was bedeutet der herrschenden Klasse schon das Opfer eines Bauern?
Allein die Tatsache, dass es genug von ihnen gibt und dass ihre Kräfte und Einflussmöglichkeiten begrenzt sind, macht sie zu Figuren minderen Werts. Wir wollen Gleichberechtigung, Freunde, wahre Gleichberechtigung. Keine Lobby der Privilegierten. Das ist unsere verdammte Aufgabe in dieser Welt – wenn wir überhaupt noch etwas zu bestellen haben.“
„Klingt verdammt noch mal nach Sozialismus“, flüsterte Kuben in meinem Rücken.
„Ja, unser Sozialreformer redet sich langsam warm. Ist gerade dabei, die rhetorische Trickkiste zu öffnen. Sehen Sie sich nur seine fanatischen Augen an.“
„Und Sie wollen da wirklich mitmachen, Sander?“, fragte er skeptisch, aber mit verhaltener Stimme. „Die Versammlung hat Sie in den Vorstand gewählt.“
„So? Davon weiß ich noch gar nichts.“
„Bei der Klubgründung.“
„Dann muss ich vor der Abstimmung hinausgegangen sein.“
„Sie haben den Schmarren nicht mehr länger ertragen können, stimmt’s?“
„Warum sind Sie eigentlich hier, Kuben, wenn Sie das Ganze für einen so ausgemachten Blödsinn halten?“
„Und Sie?“, fragte er. „Wir können alle ein paar Tage Abwechslung und Entspannung gebrauchen.“
Ich ging weiter, denn im Kellergeschoss gab es die sogenannte ‚Nachmittagspizza’, ein Stück harter Teig, mit Tomatensoße und zerlaufenem Käse beschmiert, und das Gedränge in der Schlange war sicher einen Blick wert. Man musste kein Prophet sein, um voraussagen zu können, dass sich die Wölfe wegen der letzten Stücke die Kehlen durchbeißen würden.
Ein Blick in das Allerheiligste des Vernehmungsbüros lenkte mich jedoch davon ab, diesem Genuss in angemessener Weise nachkommen zu können. Die weißlackierte Eisentür stand offen, und ich sah Bertrand an einem hellen Limbaschreibtisch unter den Neonröhren des Heizungskellers sitzen.
Er trug einen grauen Anzug, und sein Hemdkragen mit der rotkarierten Krawatte war weit geöffnet. Seine Haltung – vorgebeugt und misstrauisch – erinnerte auf frappierende Weise an einen Vernehmungsbeamten der amerikanischen Einwanderungsbehörde. Der Mann vor ihm, ein über und über von rosigem Flaum bedeckter Endsechziger, musste aus seiner ehemaligen Westberliner Sektion stammen.
Ich erinnerte mich, anlässlich eines Skandals, bei dem es um den sexuellen Missbrauch Minderjähriger in einem grenznahen Jugendcamp gegangen war, von ihm gehört zu haben. Ein paar Meter entfernt und hintereinander angeordnet, gab es noch zwei weitere Schreibtische der gleichen Sorte. Ich nahm an, dass sie für Asch und mich reserviert waren.
„Kommen Sie, kommen Sie …“, sagte er, als er mich erblickte, und erhob sich eilig. Wir gingen hinter eine Trennwand, wo eine gemütliche Sitzgruppe war. „Asch möchte, dass Sie schon heute mit den Befragungen anfangen.“
„Nanu“‚ sagte ich. „Er wollte den armen Opfern doch noch ein paar Tage Zeit lassen, um sich einzugewöhnen? Was treibt ihn denn plötzlich zu so außerplanmäßiger Eile?“
„Wir liegen ausgezeichnet im Rennen, Frank. Die Resonanz auf unseren Vorschlag war hervorragend. Also bloß keine Zeit verschwenden, die Stimmung im Klub kann jeden Moment umschlagen.“
„Neue Order von der Gesellschaft für Ost-West-Verständigung?“
„Das alles hier kostet ‘ne Menge Geld, Frank.“
„Nun sagen Sie bloß, sie hätten plötzlich entdeckt, dass der Pizzateig nicht reicht?“
„Also, Ihren Sinn für Scherze hab ich noch nie teilen können, tut mir leid.“ Er zog mit leidender Miene ein doppelt gefaltetes Blatt aus der Innentasche seines Anzugs. „Hier ist die Namensliste.“
Ich warf einen Blick darauf. „Sie haben Elvira für sich behalten, Sie alter Gauner“, sagte ich.
„Gehen Sie behutsam mit den alten Haudegen um. Niemals insistieren. Führen Sie dieselbe Frage wieder durch die Hintertür ein, wenn Sie ausweichende Antworten bekommen. Flexible Strategie, Vorwärtstaktik, aber mit genügend Zeit, um auf rührselige Reminiszenzen einzugehen. Das alles soll ja ein Vergnügen bleiben, Frank.“
„Klingt, als hätten Sie den Text von Asch auswendig gelernt, Bertrand?“
„Es sind sterbende Clowns, Frank. Man muss einfühlsam mit ihnen umgehen.“
„Also gut, spielen wir mal für ‘n paar Tage den Seelsorger.“
„Lassen Sie bloß keinen merken, wie Sie darüber denken, Frank.“
„Werden unsere Gespräche mitgeschnitten?“
„Mitgeschn …? Nun, ich glaube nicht, dass das notwendig sein wird. Schließlich vertrauen wir einander – unserer Loyalität und Erfahrung …“
„Werden sie oder werden sie nicht, Bertrand?“
„Das wäre die Ausnahme. Genaue Notizen genügen völlig, Frank.“
„Aber es gibt fest installierte Einrichtungen dafür?“, fragte ich mit leicht erhobener Stimme, so dass man uns an Bertrands Schreibtisch hören konnte.
„Psst …!“ Er legte erschrocken seinen Finger vor den Mund. „Bringen Sie uns nicht in Teufels Küche.“
„Ändert nichts daran, dass ich gern über die Hintergründe informiert sein möchte. Für den Fall, dass man mich einmal deswegen zur Rechenschaft zieht, vor irgendeinem Untersuchungsausschuss. Dann will ich nicht als dummer August dastehen.“
„Was soll schon passieren, Frank? Ein Tonband in der Schublade und ‘ne Wanze unter der Lampenfassung, mehr nicht.“
„Na also, das ist doch schon was.“
„Machen Sie bloß kein Aufhebens davon, Frank.“
„Also gut, Bertrand, dann werde ich jetzt mal meinen ersten Gesprächspartner aufsuchen und sehen, ob ich ihn vom Schachspiel oder von seiner Nachmittagspizza loseisen kann.“
Meine plötzliche Folgsamkeit ließ ihn misstrauisch aufblicken. Er war jetzt so weit, dass er sofort irgendeine hinterfotzige Provokation witterte. Aber ich nahm artig den Zettel zur Hand, studierte den ersten Namen und murmelte „Laflöhr, Zimmer acht …“ Vielleicht bewog ihn das, noch eine wohlwollende Anmerkung nachzuschieben. Er sagte: „Sie wissen ja, dass Sie für Ihre Arbeit honoriert werden, Frank?“
„So? Nein, ich dachte, mit Zimmer und Vollpension sei alles abgegolten?“
„Und gar nicht mal so schlecht honoriert. Pro Befragung dreihundert, außer Spesen natürlich. Dann kommt noch Ihr Erfolgshonorar hinzu.“
„Sie meinen, wenn ich etwas finde, das sich für Ihre Zwecke verwerten lässt, Bertrand?“
„Für unser aller Zwecke“, betonte er. „Die Ziele des Klubs sind durch gemeinsamen Beschluss zustande gekommen.“
„Finden Sie nicht, Bertrand, dass wir leicht als senile alte Spinner in die Geschichte der Geheimdienste eingehen könnten? Ich meine:
Niemand zwingt Sie oder mich, sich in unserem Alter ohne echte Not solche Bürden aufzuladen.
Gut, wir wissen alle, wie es um die internationale Politik steht. War immer ein schmutziges Geschäft und bleibt es auch. Skandale an der Tagesordnung und so weiter.
Mag ja sein, dass die Bremser in beiden Lagern seit Gorbatschow ihre Aktivitäten verstärkt haben.
Und mag auch sein, dass wir sie mit ihren eigenen unsauberen Methoden zum Einlenken bewegen können.
Das alles erinnert mich ein wenig an junge Hunde, die dadurch stubenrein gemacht werden, dass man ihre Schnauze in den Kot drückt. Aber unter den Burschen, denen Sie zu Leibe rücken, sind ein paar uralte Füchse. Denen wird’s gar nicht gefallen, dass sie stubenrein werden sollen. Scheißen viel lieber auf den Teppich, wenn’s bequemer ist. Ich weiß wirklich nicht, ob wir da ganz ungeschoren herauskommen, Bertrand. Vielleicht sollte ich besser abreisen.“
„Hat Karl Ihnen denn nicht gesagt, dass wir über Mittelsmänner arbeiten werden?“
„Sie sehen ja, wie zuverlässig das Strohmannprinzip ist. Selbst einen so raffiniert getarnten Mord wie den der Ostküsten-Zirkel an John F. Kennedy könnte das FBI mittlerweile auf seine wahren Urheber zurückverfolgen. Vorausgesetzt, es wäre daran interessiert.“
„Hier geht es nicht um Gewaltverbrechen, nicht um Mord oder politische Attentate, Frank. Hier geht’s schlicht und einfach um Verständigung.“