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ОглавлениеDer Bus nach Kladow schien sich zu dehnen und länger und länger zu werden – die Länge eines Personenzugs zu erreichen –, durch dessen Mittelgang ich weit entfernt und winzig den Mann am Steuer sehen konnte …
Aber in Wirklichkeit war das Ganze, jetzt erkannte ich es immer deutlicher, eine Raupe mit grünlich schimmernder Haut, die sich, ein verwelktes Blatt im Maul, durch die Straßen wand …
Ihre Scheiben vibrierten, die Türen zischten, die lange Röhre verformte sich wie ein Schuhkarton, während der Fahrer mit dem Rücken zur Fahrtrichtung beruhigende Worte an die Passagiere richtete …
… und als eine Bodenwelle meinen Sitz über der Achse hochwarf, glaubte ich für einen Moment, durch das transparente Lüftungsfenster in der Decke hinausgeschleudert zu werden …
Ich segelte über die Oberleitungen, spürte den Luftzug an Armen und Beinen und sah mich zugleich dort unten am Fenster sitzen: vorgebeugt, das Kinn auf der Lehne des Vordersitzes – ein untersetzter Mann mit dünnem Hals und ausgeprägter Hakennase. Doch das Merkwürdigste daran war, dass seine rechte Gesichtshälfte zu lachen schien, während die linke, als ich zur anderen Fensterseite herabstieß – es bestätigte meine Ahnung –, eher trübsinnig, weinerlich dreinschaute …
Ich schlug von außen mit der flachen Hand gegen die Scheibe, um ihn zu warnen, aber der Mann auf dem Hintersitz schien mich nicht zu sehen.
Er blickte mich mit leeren Augen an.
Dabei stürzte der Bus durch die abschüssige Straße auf das größer und größer werdende Menschenpünktchen an seinem Ende zu, in dem ich mit Entsetzen Leo Kofler erkannte …
Er stand in der Mitte der Kreuzung, beide Arme ausgebreitet, als empfange er einen guten Freund. Ich sah das Kreuz in ihm, das Symbol, das Opfer, das Lamm – und ich versuchte mich von meinem Sitz zu erheben …
Das Ampheton, durchfuhr es mich siedendheiß – zu hohe Dosis!
Doch meine Muskeln reagierten nicht mehr. Etwas, über das ich keine Gewalt hatte, hob meinen Arm und verscheuchte das bizarre Spiegelbild draußen vor der Scheibe, dessen Hakennase sich in den Rahmen krallte, während die Beine wie eine heraushängende Gardine im Fahrtwind flatterten …
Noch immer sprach der Fahrer – den Rücken zur Fahrtrichtung und gegen das Lenkrad des rasenden Wagens gewandt – beruhigende Worte. Er war völlig haarlos, ohne jeden Flaum – es war F., ja, tatsächlich F.! –, wie ich jetzt erkannte, als er die Mütze abnahm und sich über den glänzenden Nacken wischte.
Dann endlich erwachte ich – langsam, unendlich langsam – aus meiner Starre. Aber nicht ich war es, der sich erhob, sondern irgend etwas anderes in mir, eine unbekannte, fremde Kraft. Ich sah so deutlich, als stände ich neben mir, die Trennung meiner Gedanken, meines Entschlusses von der Kraft, die meine Muskeln bewegte. Ich winkte, gestikulierte – die Kreuzung, der Mann auf ihr … Ein Unglück würde geschehen.
Doch immer, wenn ich annahm, der Fahrer entdecke mich endlich, entschwand das Ende des Busses durch eine Biegung meinem Blick.
Ich versuchte mich zu ihm vorzuarbeiten. Vergeblich! Alles schien eine runde Form anzunehmen: die sich unaufhörlich verformende Röhre, die Fenster der Häuser draußen, selbst der Gehsteig wölbte sich auf (es war, als blicke man durch ein Fish-Eye-Objektiv), das Licht hatte die schlierig verzerrende Transparenz eines unreinen Glasstücks.
Es dämmerte, doch nur wenige Fenster waren beleuchtet. In einem dieser Fenster entdeckte ich, unwirklich, als sei es eine Sinnestäuschung, Pysiks Hinterkopf mit dem kreisrunden Loch, das die Kugel der Schwarzpulverwaffe bei ihrem Austritt in seine Schädeldecke gerissen hatte.
Und sofort wurde mir wieder übel. Nicht schon wieder! dachte ich. Es war ein erbärmlicher Zustand – die Übelkeit, die das Schaukeln des Busses noch verstärkte, die rasende Fahrt der Kreuzung entgegen (neben der mein Wille nur wie ein belangloser, machtloser Gedankenblitz erschien, die Selbsttäuschung, dass er mehr bewirke, als mit ihm und durch ihn bewirkt werde – als stünde es wirklich in meiner Macht, Koflers Leben zu retten), und F., der immerfort seine Mütze abnahm und sich den Schweiß abwischte von seinem runden Schädel.
Und dann erkannte ich plötzlich meine Chance: Der Bus hielt unversehens, die Falttüren vor mir zischten – zwei, drei unsicher tastende Schritte, und ich taumelte hinaus auf den Gehsteig an der Haltestelle. Vorbei der Spuk!
Benommen blickte ich dem abfahrenden Wagen nach. Seine Länge war auf das gewöhnliche Maß zusammengeschrumpft. Ich lehnte mich an die Hauswand und schloss die Augen. Tief durchatmen, die Aufmerksamkeit zur Nasenspitze … es war das einzige Mittel, wenn ich eine zu hohe Dosis geschluckt hatte. Ein Psychiater hatte mir irgendwann den Rat gegeben – zusammen mit der Warnung:
»Wenn Sie Ihre Krisen weiterhin mit dieser Rossmethode kurieren, garantiert ich für nichts«.
Die Halluzinationen würden jetzt bald nachlassen. Wahrscheinlich noch ein wenig Übelkeit, ein Kribbeln in den Beinen und Fingerspitzen, dann setzte die Phase der Stabilität und der inneren Sammlung ein. Und sie würde zwei, vielleicht sogar drei Tage anhalten …
Ich tastete mich an der Hauswand entlang. Noch waren meine Knie weich, und die Beine wollten nicht gehorchen. Das Kribbeln in den Fingerspitzen wurde unerträglich, griff auf den ganzen Körper über. Die Ruhe nach dem Sturm wurde nicht etwa künstlich erzeugt – wie bei einem Schlaf- oder Beruhigungsmittel –‚ sondern beruhte auf der vorangegangenen »Geröllabfuhr« aus dem Nervensystem.
Sie entstand nach einer erzwungenen Traumphase, die von den Schlacken des Unterbewusstseins befreite, ganz ähnlich unserer alltäglichen, gewöhnlichen Verrücktheit, die vielleicht nichts anderes ist als ein in den Tag verlegter Traum.
Ich war ein paar Haltestellen zu früh ausgestiegen: an der Kreuzung Gatower- und Heerstraße. Diese Gegend kannte ich nur flüchtig. Der Straßenbelag hatte sich in die alte Ebene zurückgewölbt. Rechts vor mir lag das Postamt. Seine Pforte war bereits geschlossen. Ich sah durch das Gitter in den erleuchteten Vorraum. Dann ging ich weiter. Einige Schritte an der frischen Luft würden mir gut tun. Die Straße geradeaus führte in den Stadtteil Kladow. Eine magere alte Dame mit einem Handtäschchen am Arm kam mir entgegen; ich stieß sie unsanft an. »So ein Stoffel …«, beschwerte sie sich, als ich weiterging, ohne mich zu entschuldigen. Sie blieb stehen und blickte mir lange nach. Ich sah es aus den Augenwinkeln, ohne darauf zu reagieren. Ich kam mir vor, als hätte ich den unsicher tappenden Schritt eines jungen Hundes. Doch meine Zunge war schwer – zu schwer zum Bellen –, und ich war alt, unendlich alt, und das Ampheton ließ mich noch schneller altern.
In einer Schaufensterscheibe betrachtete ich das Spiegelbild meiner gedrungenen Gestalt, den überlangen, dünnen Hals, und überlegte, welche Chancen ich mir bei F.s Mädchen hätte ausrechnen können ohne die Lügen, die er ihnen erzählte. Dann ging ich weiter (ich verzichtete großzügig, mir selbst eine Antwort darauf zu geben).
An der nächsten Straßenecke kaufte ich ein Päckchen Zigaretten und eine Zeitung (ich war Nichtraucher, aber wenn sie Raucherin war, würde es einen guten Eindruck machen, vorgesorgt zu haben; außerdem war es lästig, wenn sie nachts noch einmal mit dem Vorwand aufstanden, sich unbedingt vom Zigarettenautomaten unten an der Ecke eine Schachtel ziehen zu müssen – die meisten waren ausgehungerte Wölfe wie mich nicht gewohnt, es schockierte sie). Ich blätterte die Zeitung flüchtig durch; über Kofler stand nichts darin. Auch in der Zeitung, die er morgens von seinem Spaziergang mitgebracht hatte, war kein Hinweis gewesen.
Als ich an einer leeren Telefonzelle vorüberkam, zögerte ich kurz. Ich hatte F. noch nicht wegen des Zwischenfalls vor der Bäckerei angerufen; doch dann verschob ich das Gespräch auf später. Gewöhnlich lähmte das Ampheton für eine Weile meine Zunge, das Sprechen wurde schwerfällig, die Wortflüssigkeit ließ nach, und F. würde merken, dass ich eine zu hohe Dosis geschluckt hatte. Er würde fuchsteufelswild werden – vermutlich zu Recht.
Es war Koflers Ausflug gewesen, der mich ein wenig aus dem Konzept gebracht hatte. Genauer: seine Rückkehr. Denn seine Flucht hätte mich mit einem Schlage des Problems entledigt, ein weiteres Urteil fällen zu müssen.
Ich warf die Zeitung in einen Abfallkorb und ging weiter bis zur Bushaltestelle. Auf dem Fahrplan las ich, dass der nächste Wagen in zehn Minuten fuhr. Der Kladower Damm, in den hier die Gatower Straße einmündete, war lang – ich wusste nicht wie lang, aber sicher mehr als zwei Kilometer –‚ und ich fühlte mich noch zu schwach auf den Beinen, um ihn zu Fuß zurückzulegen. Außerdem musste ich mich beeilen, wenn ich rechtzeitig dort sein wollte. Es war Viertel vor sieben.
Sie saß an einem der Fenstertische links vom Eingang – genau wie F. es angekündigt hatte. Jedenfalls nahm ich an, dass sie es war, denn sie blickte fragend auf, als ich den Laden betrat. Es war eines dieser kleinen, gemütlichen Speiselokale, die jetzt überall wie Pilze aus dem Boden schießen: mit abgeteilten Sitzecken, dunklen Holzbalken, viel Messing und dekorativer Täfelung. Die Lampen waren englisch – oder sahen wenigstens so aus.
Sie hatte ein volles Glas vor sich stehen. Ich nahm an, dass es Martini war. Ihre Haltung schien mir ein wenig zu gerade, kerzengerade (Betschwester, dachte ich), und sie trug eine jener geschwungenen goldenen Brillen mit nach oben gezogenen Spitzen – verlängerten Augenbrauen – wie die amerikanischen Filmdivas der fünfziger und sechziger Jahre, wenn sie nicht erkannt werden wollten.
Das Gesicht hinter der Brille allerdings war beinahe klassisch schön. Kein Dummerchen, wie F. behauptet hatte. Eher der kühl distanzierte Cathérine-Deneuve-Typ als das verheißungsvolle Gesicht einer Marilyn Monroe. Ihre Gestalt war klein, zierlich, und ich verspürte sofort einen ausgeprägten Beschützerinstinkt.
Mit einem freundlichen Kopfnicken steuerte ich auf sie zu, und während ich mich in die Mahagonibank zwängte, sah ich, dass ihre Knie – makellose weiße Knie – sich unter dem Tisch schlossen: schlechtes Zeichen (Versagungsomen) und eine unbewusste Reaktion, die mehr aussagte als Worte. Vermutlich war ich nicht ihr Typ.
»Ich nehme an, F. hat Ihnen …«
»Sie haben sich verspätet.«
»Ich stieg unterwegs aus – um Luft zu schöpfen – und nahm den nächsten Bus.«
»Den Bus …?«, fragte sie ungläubig. »Ah, richtig, Leute Ihres Schlages benutzen öffentliche Verkehrsmittel. Aus Sicherheitsgründen.« Sie reichte mir achselzuckend ihre kleine Hand herüber. »Barbara Falkner. Ich nehme an, Sie sind ein wenig überrascht, oder?«
»Überrascht? Nein, wieso?«
»Nun, weil ich – « Sie musterte mich erwartungsvoll.
»Weil Sie‘s kaum erwarten konnten?«, fragte ich.
Sie errötete weder, noch sah sie mich sprachlos an. Ihre eigentümlichen Augen musterten mich nur ruhig – sekundenlang –‚ dann trat ein kaum merkliches Lächeln in ihren Blick. Sie sah der Deneuve so verteufelt ähnlich, dass ich ganz schwach wurde. Es war das feine, schon fast aristokratische Spiel ihrer Mimik, das mich mit einem Male wie versteinert dasitzen ließ. Sie hatte mittelblondes Haar – etwa die Tönung, die ich als Farbe meiner Wahl bezeichnen würde. Die Falle, die uralte Falle, hatte wieder mal zugeschnappt!
Herrgott, dachte ich, nicht noch mehr Probleme. Ich schüttelte ihren Eindruck ab wie der Elefant die junge Raubkatze, die auf seinen Rüssel gesprungen ist, und winkte dem Kellner.
Ihre Brille war ausgesprochen hässlich. Ich versuchte mich auf die Hässlichkeit dieser Brille zu konzentrieren. Bisher hatte ich durch sie hindurchgesehen.
»Ich konnte ja nicht ahnen, dass Sie nichts davon wissen«, meinte sie. »Ich dachte, Sie suchen sich Ihre Mädchen nach den Bildern im Personalkatalog aus.«
»Nicht wissen – was?«
»Dass ich nicht Regina bin. Regina ist meine Freundin, ich vertrete sie nur.«
»Sie sind …?«
»Als Ersatz gekommen«, bestätigte sie.
Das machte mich hellhörig. »Personalkatalog? Wieso?«
Ich hatte vergessen, F. nach der Rolle zu fragen, die ich diesmal spielte. Wie meistens, ließ ich es einfach auf mich zukommen. Sie würden mich schon früh genug darüber aufklären, ob ich russischer Überläufer, ein noch zu bekehrender Angehöriger des tschechischen Außenministeriums oder ostdeutsches ZK-Mitglied war.
»Regina hat … sie ist – ich meine, sie fühlt sich etwas unpässlich. Offen gestanden, sie wurde von ihrem Freund verprügelt und sieht im Augenblick nicht gerade ansprechend aus. Wir wollten es aber vermeiden, Sie zu enttäuschen. F. ist immer so ungehalten, wenn etwas dazwischenkommt, er legt es gleich als Unwilligkeit aus und bringt einen Vermerk in der Personalakte an. Natürlich habe ich von dem Tausch nichts erwähnt, weil …«
»Lenken Sie nicht ab.«
»Ablenken, wovon?«
»Vom Personalkatalog.«
Der Kellner kam an unseren Tisch, er neigte sein früh ergrautes Haupt.
»Möchten Sie etwas essen?«, fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Suppe? – Omelett? Das gehört zu Ihren Pflichten als Gesellschafterin.«
»Dann nehme ich Civet de Iangouste«, sagte sie, »und vorher Tourain bordelais. Auch etwas Wein dazu – einen Vouvray neunzehn-zweiundfünfzig.«
Der Kellner nickte und lächelte zufrieden. Vermutlich, weil das Teuerste war, das die Küche zu bieten hatte.
»Also?«, erkundigte ich mich, als er gegangen war. »Wie war das mit dem Bilderbuch?«
Zwei langbärtige Heinzelmännchen kamen herein und setzten sich in die Bank hinter mir, junge Kerle, vermutlich Studenten. Offenbar interessierte meine neue Liebe sich mehr für die neuen Gäste als für mich, denn sie sah mehrmals zu ihnen hinüber. Dann legte sie bedeutungsvoll den Zeigefinger vor die Lippen.
»Sie müssten es doch selbst am besten wissen«, flüsterte sie über den Tisch gebeugt.
»Knoblauch –?«, fragte der Kellner. Er war plötzlich vor uns aus dem Boden gewachsen. »Tourain bordelais mit Knoblauch?«
»Ja, Knoblauch«, kicherte sie.
Ich wartete, bis er gegangen war. »Jetzt spannen Sie mich aber auf die Folter.«
»Sie sind nicht der, für den Sie sich ausgeben.«
»Wer ist das schon?«
»Wollen Sie wirklich wissen, ob wir‘s herausbekommen haben?«, fragte sie abschätzig. »Natürlich sind Sie nicht der österreichische Konsul Bredeney, der den Russen Konstruktionsunterlagen der SS20 abgeluchst hat und deswegen eine Weile im Untergrund leben muss.«
»Sondern?«
»Sie sind C. – der Chef.«
»Ich bin also der Wolf mit der Kreidestimme, der auf F.s Geißlein scharf ist?«
»Nun wollen Sie mich aber wirklich auf den Arm nehmen.« Ihre Hand suchte nach dem Glas, griff daneben, tastete ein wenig, ehe sie es fand; dann nippte sie eine Winzigkeit von ihrem Martini. »Die ganze Firma weiß es – ich meine: natürlich nur die Mädchen, sie tauschen ihre Erfahrungen aus. Es ist amüsant, zu hören, welche Rolle sie ihnen gerade vorspielen. – Oder hätte ich Ihnen das nicht sagen dürfen? Ich habe Ihnen das Konzept verdorben. Das war geschmacklos von mir. Jetzt sind Sie wohl eingeschnappt? – Werden Sie F. deswegen entlassen?«
»Entlassen?«, fragte ich geistesabwesend.
»Ja, weil wir herausbekommen haben – weil wir wissen, dass Sie C. sind, der legendäre Drahtzieher hinter allem. Ich weiß ja, dass F. alt ist und dass er manchmal Fehler macht, aber im Großen und Ganzen hat er doch immer zu Ihrer Zufriedenheit gearbeitet, oder?«
»In welcher Abteilung sind Sie?«, fragte ich.
»Rückholung.«
»Und Sie und F. und der ganze übrige Laden arbeiten für mich, habe ich das richtig verstanden?«
Sie nahm die goldene Brille ab und betrachtete mich missbilligend und so genau, als zähle sie meine Hemdenknöpfe und die Bartstoppeln an den Wangen (wegen Koflers Ausflug hatte ich versäumt, mich zu rasieren).
»Sind Sie etwa nicht der Mann, mit dem sich Regina heute Abend …«
»Doch, doch – schon«, beruhigte ich sie. »Nun wissen Sie also, dass ich die Firma leite und dass ich C. bin, der legendäre Drahtzieher, wie Sie sagen. Haben Sie jemals ein Papier mit meiner Unterschrift zu Gesicht bekommen?«
»Mit dem C.? Ja.« Sie nickte.
Plötzlich stand sie auf, um zu telefonieren – es war dringend! Angeblich, wie sich dann herausstellte, weil ihre Freundin ganz krank vor Sorge war, zu erfahren, ob ich den Tausch akzeptiert hatte, oder ob es deswegen Ärger geben würde. Sie sei schon zweimal wegen unentschuldigten Fehlens verwarnt worden, und es ginge das Gerücht um, dass ich noch strenger sei als F., »unberechenbarer«, wie sie sagte, und »launischer«.
Als sie die Telefonkabine ansteuerte, stieß sie zweimal an – einmal überrannte sie einen Stuhl, dann streifte sie eine Tischkante. Ich nahm an, dass es ihre Brille war. Sie musste sie sich von jemandem geliehen haben, um mich abzuschrecken, und kam nicht mit den Gläsern zurecht.
»Was soll ich nun mit Ihnen anfangen?«, fragte ich, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte. »Im Osten wie im Westen bleiben die Bosse in diesem Geschäft meist im Hintergrund, sie scheuen die Öffentlichkeit, es ist gefährlich für sie, sich zu erkennen zu geben – ich meine die wirklichen Planer, nicht die vorgeschobenen, die der Regierung gegenüber ihre Rechenschaftsberichte ablegen.«
»Ich kann schweigen«, beteuerte sie.
»War es F., der durchblicken ließ, wer ich bin?«
»Oh, nein, nein. Daran, ist er völlig unschuldig. Es war für die Mädchen leicht, sich das zusammenzureimen. Schließlich musste es auffallen, dass in ihren Abenteuern immer von demselben Mann die Rede war. Und wer sonst außer dem Chef hätte F. dazu bewegen können, seine Mädchen für eine solche Aufgabe zu opfern?«
»Völlig einleuchtend«, bestätigte ich. »Nur eines würde mich noch interessieren. Warum schützen Sie F.? Ihre Bemerkung eben, dass er alt sei und Fehler mache …«
»Das wissen Sie nicht? Nein, natürlich – Sie können schließlich nicht die Familienverhältnisse aller Mitarbeiter kennen. Er ist mein Vater.«
»Ihr Vater? Richtig, dass ich nicht gleich darauf gekommen bin – ‘F.’ für Falkner, hab ich recht?«
Nach dem Essen – sie aß langsam und sah öfter auf die Uhr dabei – war sie durch nichts zu bewegen, noch ein weiteres Glas zu trinken. »Es macht mich beschwipst«, wehrte sie ab. »Zwei Gläser werfen mich um …«
Ich flüsterte ihr ins Ohr, das störe niemanden, nicht einmal den Martini-Fabrikanten (meine feuchten Lippen an ihre Ohrläppchen, fand sie, kitzelten so, und sie drehte den Kopf zur Seite, dass ich ihr duftendes Haar roch und ihren weißen Nacken sah). Womöglich hätten zwei spitze, überlange Eckzähne mein Problem mit einem Schlage gelöst; ihr Blut in meinem, mein morbides Inneres durch eine Radikalkur erneuert; ein völliger Austausch, danach stand mir der Sinn – und hinter allem wohl der alte Kannibalenglaube, dass mit dem Körper des anderen auch die Seelenkräfte überwechselten.
In ihre Wohnung wollte sie mich partout nicht mitnehmen, Regina sei krank, sie brauche Ruhe (sie bewohnten gemeinsam ein Apartment; erst später stellte sich heraus, dass es insofern eine Lüge war, als sie zwar zusammenlebten, jedoch ein breiter Korridor ihre Zimmer trennte.
So landeten wir in einem der letzten Chaplin-Filme, in dem die Loren mitwirkte. Obwohl Barbara heftige Tränen vergoss (es war ein Rühr-, aber kein Kunstwerk), unterbrach sie mich zweimal während der Vorstellung:
»Erzählen Sie F. um Himmels willen nichts davon, dass ich für Regina eingesprungen bin!«
»Werde mich hüten«, gab ich zur Antwort und versuchte meinen Arm um ihre Hüfte zu legen.
Aber sie hielt ihren Rücken steif gegen die Lehne gepresst. Schöne Unberührbare, dachte ich, ich habe andere Sorgen, als um deine Gunst zu buhlen …
Nach einer Weile versuchte ich es mit dem Knie.
Darauf beklagte sie sich: »Machen Sie mir nicht die Strümpfe kaputt …«
Erst als wir wieder auf der Straße standen, taute Barbara ein wenig auf. Sie hatte zwei Semester Philosophie studiert, ehe sie von F. in die Firma geholt worden war (sicherlich, weil er es für das kleinere von zwei Übeln hielt), und als ich ganz unabsichtlich eine Bemerkung über das betrunkene Wrack fallenließ, das gerade auf der anderen Gehsteigseite einen Laternenpfahl umarmte, wurde sie regelrecht aufgeregt und fragte:
»Sie glauben also, er kann nichts dafür? Freier Wille und so – alles Unfug?«
Ich erwiderte, es spreche mehr dafür als dagegen, dass er ein von Neuronen, Nervenverdrahtungen, Sinnesimpulsen, Gefühlen und Instinkten geleiteter Automat sei; von den sozialen Bedingtheiten ganz abgesehen.
»Aber welcher Instinkt kann einen Menschen dazu verleiten, sich so zu betrinken? Und wie kann man mit Ihrer Anschauung noch leben?«, fragte sie und zog mich in eine dunkle Seitenstraße, wo ich wieder versuchte, sie zu umarmen.
»Später vielleicht«, wehrte sie ab. »Ich weiß wirklich nicht, was ich von Ihnen halten soll. Es gibt keine Schuld ohne Freiheit – also ist es wahrscheinlich nur eine Masche, Ihre unbewusste Masche, um sich der Verantwortung zu entziehen …?«
Sie schob die Brille hoch und forschte in meinem Gesicht (offenbar, ob sich dort die Spuren verdrängter Schuldkomplexe entdecken ließen).
»Nehmen Sie doch endlich das lächerliche Ding ab! Es gehört Ihnen nicht«, sagte ich und küsste sie flüchtig auf die Stirn.
»… weil Sie ohne diese Lüge nicht leben können«, fuhr sie grüblerisch fort.
Ich nahm ihr die Brille ab und steckte sie in das Handtäschchen an ihrem Arm.
Wir standen im Schatten eines Hauses, dessen Fenster völlig unbeleuchtet waren. Der Lärm, das Licht der Neonreklamen und Autos von der Hauptstraße drang wie ein lästiger Eindringling in die ruhige Straße. Ich hatte plötzlich Lust, sie in die Wohnung mitzunehmen, ihr den Mann zu zeigen, für dessen Tod ich verantwortlich sein würde. Ich hatte das kaum noch bezwingbare Verlangen, mein Wissen mit jemandem zu teilen. Schon der Gedanke daran erleichterte mich.
Doch natürlich war es unmöglich. Es würde der Organisation schaden, es würde Barbara schaden, es würde F. schaden, und es würde mir schaden.
Immerhin war es ein aufschlussreicher Abend gewesen – auch ohne dass sie mich in ihre Wohnung mitgenommen hatte. Ich grübelte darüber nach, woher das Gerücht stammte, ob F. es gezielt in die Welt gesetzt hatte – eigentlich hielt ich ihn nicht für so schlecht – oder ob die unter den Mädchen ausgetauschten Erlebnisse nicht genügend Material für den Verdacht abgaben, der Mann, der dahinterstecke, könne nur der Chef sein.
Andererseits wäre es ein raffinierter Schachzug gewesen, das Gerücht auf diese Weise auszustreuen, denn so ließ sich vermeiden, dass er eine anfechtbare Behauptung schon vor dem Ernstfall aufstellte.
Wenn er es darauf anlegte, die Schuld dadurch von sich abzuwälzen – falls es überhaupt jemals dazu kam –, dass er mich als Verantwortlichen präsentierte, war es zweckmäßiger, das Ganze genauso zu arrangieren, wie es sich jetzt darstellte.
Aber noch immer zögerte ich, diese Version zu glauben. Alles konnte bloßer Zufall sein. Selbst wenn F. nichts dergleichen beabsichtigte, lag der Verdacht für die Mädchen nahe, denn sie wussten nichts von meiner Isolierung, sie konnten nicht ahnen, warum er auf mein leibliches und seelisches Wohl bedacht sein musste.
Während ich noch darüber nachsann, kam mir plötzlich der Gedanke, dass Barbara so etwas wie eine Entlastungszeugin für mich sein könnte (immer den unwahrscheinlichen Fall angenommen, dass unsere Arbeit überhaupt einmal aufflog). Wenn ich sie nämlich von meiner tatsächlichen Rolle überzeugte, wenn ich sie ins Vertrauen zog (schließlich blieb das Geheimnis in der Familie). F. würde fuchsteufelswild werden – und sich damit abfinden müssen, denn die lästige Mitwisserin war schließlich seine Tochter. Das war dann meine Art der Vorsorge. Und wenn sich das Ganze als eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme herausstellte – um so besser!
Aber nicht schon heute … dachte ich. Dazu kannten wir uns noch zu wenig. In einigen Tagen vielleicht.
Statt der gewohnten Ausgeglichenheit nach den Tabletten fühlte ich mich aufgekratzt. Ich hätte Barbara gern dazu überredet, mit mir gemeinsam zwei, drei Kapseln Ampheton zu nehmen.
»Warum gehen wir nicht zu Ihnen hinauf und plaudern ein wenig über ‚philosophische Probleme’?«, erkundigte ich mich scheinheilig.
»Oh – der Geist ist schwach und das Fleisch ist willig …«, wehrte sie ab – und lächelte über ihr Wortspiel. »Ich denke, wir bleiben doch lieber noch an der frischen Luft.«
Also spazierten wir ein paar Mal die dunkle Straße hinauf und hinunter. Dann bogen wir in die schmale Zufahrt zu einem Innenhof ein. Beim Näherkommen sah ich, dass es ein kleiner Park mit Pappeln, verwachsenen Hecken und einem Spielplatz war. Rund um den Sandkasten standen Bänke. Die hohen alten Häuser des Innenhofs waren dunkel, in keinem der Fenster war Licht.
Barbara schien auf seltsam abwesende Weise völlig in den Anblick des blauschwarzen Himmels über den Dachkonturen zu versinken – im Nordosten stand eine Wand grauen Lichts, das von der Hauptstraße heraufstrahlte …
»Nehmen wir einmal an«, begann ich, »Ihre Freundin würde Sie hintergehen, also belügen, betrügen, bestehlen, gegen Sie intrigieren, wie auch immer. Doch Sie hätten keine rechtliche Handhabe gegen sie, keine dem Gesetz nach überzeugenden Beweise. Aus irgendeinem Grunde – vielleicht, wegen einer testamentarischen Verfügung, ohne die sie Ihr Leben lang verschuldet und finanziell ruiniert wären – käme jedoch keine Trennung in Frage. Und nun ergäbe sich plötzlich die Gelegenheit, sie auf leichte und unauffällige Weise loszuwerden.
Sagen wir es offen – durch Mord!
Sie wüssten, dass Ihnen ohne diese Handlungsweise in ihrem ferneren Leben unabsehbarer Schaden zugefügt würde.
Auch das Gesetz rechtfertigt schließlich die Strafe, und je nachdem das Todesurteil, durch ein Schaden-Nutzen-Verhältnis und nicht etwa nur durch den Sühnegedanken.
Was Ihre Handlungsweise von einem gewöhnlichen Richterspruch unterscheiden würde, wäre nicht die Schuld und deren Folgen, sondern vor allem die Norm, die wir zur Erkennbarkeit der Schuld gesetzt haben.
Sie persönlich sind völlig überzeugt«, fuhr ich fort. »Aber es gibt keinerlei Beweise im Sinne der Gerichte …
Es ist Ihre Erkenntnis, ganz allein Ihre Einsicht, und sie ergibt sich aus scheinbar belanglosen Zufällen, Winzigkeiten, achtlos hingeworfenen Bemerkungen, aus dem Mienenspiel und jenen nur erfühlbaren Gesten, die uns größere Gewissheit verschaffen als irgendein Beweis vor Gericht.
Es ist die Gewissheit der Ehefrau, betrogen worden zu sein, noch ehe ihr Mann in flagranti ertappt wurde, die Überzeugung der Mutter, dass ihr Kind lügt, lange bevor sie den eigentlichen Anlas der Lüge entdeckt hat –wäre das ein zwingender Grund für Sie, das äußerste Mittel zu rechtfertigen?«
Barbara schien nicht zugehört zu haben. Ich folgte ihrem Blick, der noch bei dem blauschwarzen Himmel und der Silhouette der Häuserdächer verweilte.
»Es ist ein liegender Riese«, meinte sie nachdenklich. – »Was sagen Sie? Ein zwingender Grund? Nein, es gibt immer eine Wahlmöglichkeit.«
»Ich denke, das ist eine faule Alternative, ein philosophisches Hirngespinst. Nicht auf Wahlfreiheit kommt es an«, erklärte ich mit Nachdruck, »sondern auf Leiden und Glück. Gegenüber dem
Schmerz und dem Leiden überhaupt ist das Prinzip der Wahl völlig indifferent, es ist kalt und abstrakt …
»Übrigens läßt sich aus den Konturen der Dächer am Abendhimmel das Schicksal bestimmen«, sagte sie. »Sicherer als aus der Stellung der Gestirne. Astrologie ist Unfug.
Dieser Riese zum Beispiel«, sie legte ihren Kopf schief, » – es bedeutet, dass ein großer Mann zwischen uns steht. Ja, er ist von großer Statur. Und man kann noch mehr über ihn sagen. Seine Nasenspitze weist nach Osten, das heißt, er stammt aus Polen, vielleicht auch aus der DDR.«
Ich musterte sie ungläubig.
»Aber das Ungewöhnlichste ist – « Sie hielt inne. »Sehen Sie den Dachbogen hinter seinem Kopf? Woran erinnert Sie das?«
Ich folgte ihrem ausgestreckten Arm und betrachtete die Konturen der Dächer. Tatsächlich konnte man mit einiger Phantasie darin eine große, kauernde Gestalt erkennen, einen Mann, wenn man so wollte. Der hellere Bogen über seinem Haupt erinnerte an einen Kranz.
»Sieht aus wie ein Heiligenschein.«
»Richtig. Phantastisch, dass Sie das sofort erkannt haben. Sie sind ein Medium!«
»Medium – wo haben Sie bloß diesen Unfug her?» fragte ich.
»Das Schattenlesen? Von meiner Zimmerwirtin. Es ist kein Unsinn, sie hat damit den Tod ihres Mannes und die Krankheit ihres Sohnes vorausgesagt.«
»Erklären Sie mir, warum es nicht der Häuserblock gegenüber ist?«
»Es ist der, auf den Sie zuerst kommen, den Sie als erstes wahrnehmen, wen Sie sich umschauen.«
»Und er steht also zwischen uns – der Mann mit dem Heiligen-
schein?«
Sie nickte heftig, fast kindlich überzeugt, als sei das alles so klar wie Klärchen für sie. Vermutlich hätte sie noch jede Menge beliebige Einzelheiten über die künftigen Konflikte unserer Beziehung aus den Schatten herausgelesen, wenn sie sich nur dazu eigneten, mich loszuwerden …
»Er trennt das dunkle männliche und das helle weibliche Prinzip, weil sein Arm nach unten zeigt.«
»Es ist nur der Ast einer Pappel«, widersprach ich.
Plötzlich kam Barbara in den Sinn, dass bald der letzte Bus ins Zentrum fahren würde und man in dieser Gegend manchmal stundenlang vergeblich wegen einer Taxe telefonierte.
Immerhin gelang es mir, ihre Adresse zu erfahren – mit der Drohung, ich würde sie mir sonst aus der Personalabteilung beschaffen. Mein Versuch dagegen, den Schattenriss der Hausdächer im Westen als Amors Bogen zu deuten, ging völlig in die Hose.
»Ich bringe Sie jetzt zur Haltestelle«, meinte sie und hakte sich bei mir ein.
Das Ampheton hatte eine merkwürdige Nebenwirkung: Es verursachte »vernünftige« Träume. Ich träumte, dass ich Kruschinsky unbedingt anweisen musste, die Birnchen unter dem Tipptastenfeld der Fahrstuhlbedienung auszuwechseln und einen neuen Kode einzugeben. Und dass ich mich längst um F.s Notizbuch hätte kümmern sollen (selbst wenn es vielleicht nicht viel zu bedeuten hatte, dass mein Name über dem Kodetext stand, war es vernünftiger, sich darüber Klarheit zu verschaffen). Dann fielen mir die Fragen ein, die ich Kofler stellen würde, und ob es ihm gelang, für alle Verdachtsmomente eine plausible Erklärung zu finden.
Ich würde mich mit Koflers ins Englische übersetztem Buch beschäftigen, das mir Kruschinsky besorgt hatte, um herauszufinden, was F. neben Koflers Schuld offenkundig am meisten interessierte: welche Ideologie er vertrat. Oder anders ausgedrückt: mit welchen Schachzügen sie seine ungeheuere Popularität im Westen bewirkt hatten. Denn erstaunlicherweise war sie hier größer als im eigenen Land. Bei alledem blieb die Frage offen, was das Linkshänderfoto zu bedeuten hatte.
Ich zermarterte mir das Hirn und erwachte darüber …
… und als ich das linke Bein aus dem Bett setzte, stieß mein Fuß auf das aufgeschlagene Exemplar von William Smith‘s Oden an den Herbst …
Ich konnte mich nicht erinnern, vor dem Einschlafen darin gelesen zu haben.
Dann fiel mir ein, dass es mich daran erinnern sollte, F. wegen des Kerls vor der Bäckerei anzurufen. Ich wusch mich über dem Becken, rasierte mir den zwei Tage alten Bart ab und spreizte den Mund, um meine Zähne zu betrachten. Ich befühlte die Schneidezähne zwischen Daumen und Zeigefinger: Sie hatten sich nicht weiter gelockert. Das Ampheton ersetzte auch die Zange des Zahnarztes – auf eine Weise, die vermutlich weder seine Erfinder noch die Betroffenen je durchschauen würden, führte es zu Zahnfleischschwund, allerdings nur, wenn man es über einen längeren Zeitraum einnahm.
Bevor ich hinüberging, strich ich meinen Namen in F.s Notizbuch mit einem Filzschreiber durch.
Kruschinsky lehnte am Fenster und las die Morgenzeitung.
»Können Sie das dechiffrieren?«, fragte ich und reichte ihm das Heft. »Sie verstehen doch was davon.«
Er warf einen Blick auf den Kode aus Buchstaben und Zahlen. »Lassen Sie mir eine halbe Stunde Zeit.«
Ich nickte, dann klopfte ich an Koflers Tür.
Er saß angezogen auf der Bettkante, über ein paar Papiere gebeugt. Der Rest des Manuskripts lag malerisch verstreut auf dem Bett, dem Tisch und dem Boden vor seinen Füßen.
»Sie sind spät dran – später als sonst«, meinte er aufblickend. »Ich hatte gestern Abend Gelegenheit, mich etwas länger mit Ihrem Kollegen zu unterhalten. Er ist ein bemerkenswert klares Beispiel der Indifferenz, die für Ihre Generation kennzeichnend ist: den Kopf voller Widersprüche. Umweltbelastungen, Wettrüsten, Klassenunterschiede, zunehmende Gewalttätigkeit und Hungersnöte in der Welt machen ihm zwar verbal zu schaffen, aber in Wirklichkeit scheint er doch nichts Eiligeres im Sinn zu haben, als zu seiner Freundin zurückzukehren, die irgendwo in Norddeutschland lebt.«
»Ach«, sagte ich mit gespielter Überraschung, »davon wusste ich nichts.«
»Heißt das, Ihre Mitarbeiter werden vor der Einstellung nicht überprüft?«
»Und Ihr Konzept – wie sieht es aus?«, erkundigte ich mich, als hätte ich nicht verstanden. »Was ist das Geheimnis Ihres Erfolges? Die Ziele der Gewerkschaftsbewegung halten Sie nicht für ausreichend, den orthodoxen Marxismus-Leninismus lehnen Sie angeblich ab – den Kapitalismus ebenso.
Als Sie im Westen noch weniger bekannt waren, geschah etwas sehr Merkwürdiges. Französische Journalisten suchten Sie wegen eines Interviews auf. Die polnische Führung erhielt jedoch einen Wink aus Moskau, und man stellte Sie vor die Alternative, das Gespräch abzusagen, oder Ihre Frau, die zu jener Zeit in einem russischen Gefängnis einsaß und so krank war, dass man ihre Überführung in eine Leningrader Spezialklinik erwog, würde auf die Behandlung verzichten und sich mit dem Gefängniskrankenhaus bescheiden müssen.
Ihre Reaktion war ungewöhnlich – Sie entschieden sich für das Interview! Dafür gibt es eigentlich nur eine Erklärung«, sagte ich. »Die Fernsehsendung machte Sie im Westen mit einem Schlage bekannt. Es war ein großangelegtes Porträt, auf das Sie nicht verzichten wollten. Französische Kommunisten feierten Sie danach – ein wenig zu überschwänglich – als den größten marxistischen Kopf der Gegenwart. Währenddessen starb Ihre Frau im Gefängnishospital …«
Kofler wirkte wie erstarrt. Der Stapel Manuskriptseiten auf seinen Knien zitterte leicht.
»Halten Sie das wirklich für eine plausible Erklärung?«, fragte er blass. »Glauben Sie ernsthaft, ich hätte meine Frau für ein Fernsehinterview geopfert?«
»Wir nehmen an, hier wusste die Linke nicht was die Rechte tat. Die Behörden hielten Sie für einen gefährlichen Dissidenten – der KGB dagegen setzte alles daran, Sie als einen solchen aufzubauen! Das Interview im französischen Fernsehen war sorgfältig vorbereitet. Es bedeutete für Sie den eigentlichen Durchbruch. Außerdem hatten sich die Beziehungen zu Ihrer Frau verschlechtert, seitdem sie – in gutem Glauben an Ihr Einverständnis – Teile eines Manuskriptes über Freunde in den Westen geleitet hatte.
Sie selbst befanden sich damals auf einer Ungarn-Reise. Es hatte eine Hausdurchsuchung gegeben, doch diese Papiere waren von Ihrer Frau rechtzeitig beiseite geschafft worden.
Was war nun so Bemerkenswertes daran? Es handelte sich um eine Studie über die Effektivität der kommunistischen Parteien im Westen. Sie hieß Neue Wege und behandelte in dreizehn Thesen die Unterwanderung der westlichen Parteien durch kommunistisches Gedankengut. Eine dieser Thesen lautete:
‘Wegen des westlichen Materialismus, der Versklavung des Menschen durch den Konsum, kann nicht mehr mit dem Erfolg revolutionärer Strömungen gerechnet werden; der Kommunismus muss sich vielmehr der Wolf-im-Schafspelz-Taktik bedienen und das kapitalistische System von innen heraus – über jeweils augenscheinliche Missstände – an seinen Schwachpunkten angreifen, um eine so formierte große Volksbewegung im entscheidenden Augenblick in seinem Sinne zu beeinflussen.’
These sieben lautete: ‚Selbst terroristische Aktivitäten sind zu unterstützen, weil durch sie ein revolutionäres Potential geschaffen wird.’
Es war die Absicht Ihrer Frau, Sie im Osten – was für ein grandioses Missverständnis! – mit dem Beweis Ihrer orthodoxen Haltung zu entlasten. Doch zu jener Zeit konnten Sie daran gar nicht mehr interessiert sein, denn Sie bereiteten sich auf eine völlig andere Aufgabe vor …«
»Eine Aufgabe? Ich verstehe nicht?«
»Ein Projekt, das der KGB und vermutlich waren auch Wholff und Achenbach vom Ostberliner Ministerium für Staatssicherheit daran beteiligt – für Sie ausgearbeitet hatte.«
»Davon weiß ich nichts«, erklärte er lakonisch.
»Warum starb Ihre Frau dann in der Haft?«
Kofler schwieg. Er schien nachzudenken – aber es sah nicht aus, als sei er sehr erfolgreich damit …
»Was Sie über das Ultimatum der polnischen Behörden sagen, ist zutreffend«, lenkte er ein. »Es gab diese Drohung. Als man sie inhaftierte, legte man ihr ein Papier vor, sich von mir scheiden zu lassen und ihren alten Namen Warwara Alexandrowna anzunehmen – sozusagen als ein Zeichen der Distanzierung. Am Tage vor dem Interview, als ich noch zögerte, rief mich das Mitglied einer Organisation aus der Schweiz an, die sich für politische Gefangene einsetzt, und teilte mir mit, dass meine Frau in die Spezialklinik eingeliefert worden sei.
Erst später stellte sich heraus, dass es eine Namensverwechslung war. Es handelte sich um eine andere Alexandrowna. Ich glaubte, sie hätten aus humanitären Gründen und weil die Operation drängte, darauf verzichtet, ihre Drohung wahr zu machen – zumal es ohnehin ohne den Anruf der Schweizer Organisation keine Möglichkeit für mich gegeben hätte, von der Verlegung zu erfahren: es bestand ein Einreiseverbot in die Sowjetunion.«
»Gut«, sagte ich. »Nehmen wir für den Augenblick an, diese Version sei wahr. Wie erklären Sie den Widerspruch zwischen dem, was Sie als Ihre gegenwärtige Auffassung ausgeben und den Papieren, die nach dem Tode Ihrer Frau von einem Anwalt in Frankreich veröffentlicht wurden?«
Kofler schwieg und kratze sich am Kopf. Fast tat er mir ein wenig leid in der schwierigen Rolle eines Mannes, der jedes Wort auf die Goldwaage legen musste.
»Kann ich rauchen?«, fragte er dann. Es klang nervös.
Ich suchte nach der Zigarettenpackung, die ich noch vom Abend vorher in der Jackentasche hatte, und bot ihm eine daraus an.
»Eigentlich hatte ich das Rauchen aufgegeben«, meinte er und lächelte ein wenig hilflos. »Schon vor drei, vier Jahren. – Die Papiere des Anwalts sind ein Text, den ich mit vierzehn Jahren verfasste, noch als Schüler – nicht recht ernst zu nehmen. Damals glaubte ich, was man mir über den Marxismus sagte, und dachte über seine Zukunft in den westlichen Ländern nach. Ich kam zu dem Schluss, dass man den Westen zu seinem Glück zwingen musste. Notfalls auch ohne die etablierten kommunistischen Parteien. Für mich selbst nannte ich es Die Strategie des Trojanischen Pferds.«
»Sie haben auf alles eine Antwort, nicht wahr?«, fragte ich scharf. »Aber von den Leuten, die Sie instruierten, wurde etwas Wichtiges übersehen.«
»Wieso instruierten? Das wäre?«, erkundigte er sich.
»Der Text, den der Anwalt Ihrer Frau in Frankreich publizierte, war kein Manuskript aus Ihrer Schulzeit. Es war auf einer modernen elektrischen Kugelkopfschreibmaschine getippt.«
»Völlig richtig«, bestätigte Kofler. »Ein japanisches Modell, es wurde mir von einem guten Freund über die ungarische Botschaft besorgt – dieselbe Maschine, mit der ich in der letzten Zeit alle meine Manuskripte getippt habe. Und die Erklärung dafür ist recht einfach« – er hob die Papiere, die auf seinem Schoß lagen –, »es handelt sich um eine neue Arbeit. Ich griff darin auf Überlegungen aus meiner Schulzeit zurück und stellte sie meinen gegenwärtigen Auffassungen von der Wahlfreiheit des Individuums, der unbedingten Priorität des Willens zum Guten, der übrigens immer auch Handlung impliziert, und der Verzichtbarkeit auf Ideologien gegenüber …
Es war der Versuch, Schritt für Schritt den Entwicklungsgang meiner Gedanken darzulegen. Selbstverständlich sollte diese Arbeit auch längst überholte Auffassungen enthalten, vor allen Dingen aber eine Darstellung der Verführungskraft, die der Marxismus in meiner Jugend auf mich ausgeübt hatte. Es war ein verstümmelter Text, ein halbfertiges Manuskript, aus dem Zusammenhang gerissen und ohne Anfang und Ende. So musste im Westen der Eindruck entstehen, meine Strategie sei eine völlig andere.
Was heutzutage in Zirkeln und Gruppen unter meinem Namen kursiert, vor allem auch hier in der Bundesrepublik, scheint hauptsächlich auf den Einfluss dieses Fragments zurückzugehen. Ich glaube, es ist der eigentliche Grund für die Fehlinterpretation, der meine Lehre im Westen ausgesetzt ist. Meine Töchter haben sich bemüht, das Missverständnis durch die Veröffentlichung der fehlenden Manuskriptteile – ich musste sie aus dem Gedächtnis rekonstruieren – zu beseitigen. Ohne Erfolg. Bei der Ausreise nahm man sie fest und beschlagnahmte die Papiere.
Als ich entdeckte, dass es sich in der Klinik gar nicht um meine Frau handelte, wandte ich mich sofort an die Behörden. Ich war bereit, alle Bedingungen zu erfüllen. Ich bot ihnen an, auf meine Professur zu verzichten, ich bot ihnen ein politisches Schweigegelöbnis an. Ich schrieb sogar an die Sowjetführung – doch durch meinen Brief schien man dort überhaupt erst auf mich aufmerksam zu werden.
Wenig später wurde mir mitgeteilt, dass die polnische Regierung meine Ausweisung erwogen habe. Die Verlegung meiner Frau in eine Spezialklinik aus ärztlichen Erwägungen sei nicht erforderlich.
Offenkundig benutzte man beides zunächst – die Krankheit meiner Frau und meine Ausweisung – als Mittel der Einschüchterung – ich glaube nicht, dass man wirklich mit ihrem Tod rechnete. Man wartete ab, welche Konsequenzen ich, nach dem Fernsehinterview aus ihren Warnungen ziehen würde. Sogar meine Professur konnte ich ungehindert weiterführen.
Was Sie über meine Mitarbeit bezüglich des KGB oder polnischer und ostdeutscher Stellen sagen, entbehrt jeder Grundlage. Ich weiß nicht, wie Sie zu diesem absurden Verdacht gelangt sind aber ich bitte Sie, mir zu vertrauen und mir zu glauben, dass ich weder vor meiner Ausweisung noch zu einem früheren Zeitpunkt mit solchen Institutionen zusammengearbeitet habe. Ich muss gestehen, dass mich diese Unterstellung tief erschüttert – weil sie meinen wirklichen Absichten so völlig zuwiderläuft …«
Er saß auf der Bettkante und schüttelte trübsinnig den Kopf, als habe man ihm bitteres Unrecht angetan.
Ich musterte ihn nachdenklich und hatte plötzlich den Eindruck, dass er die Wahrheit sagte …
»Ich würde Sie gern von der Unhaltbarkeit Ihrer Annahmen überzeugen«, meinte er grüblerisch.
»Niemand ist daran interessiert, Sie als Agenten zu denunzieren. Wir sind für jeden entlastenden Hinweis dankbar …«
»Es gibt einen Punkt, der mir mehr als fragwürdig erscheint. Wenn wirklich der KGB hinter alledem steckte, dann hätte doch eine Weisung von ihm genügt, meine Frau zu retten. Die Alternative Fernsehinterview oder Klinik wäre ganz überflüssig gewesen.«
»Ich sagte es schon – hier wusste die Linke nicht was die Rechte tat. Außerdem hätte eine Anweisung des KGB an die Behörden natürlich Verdacht erregen können, oder anders ausgedrückt, es hätte Ihrer Vita im Westen geschadet.«
»Und Sie glauben ernsthaft, diese vage Gefahr reichte für mich aus, meine Frau zu opfern?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht hat man Sie übers Ohr gehauen. Der Tod Ihrer Frau konnte dem KGB nicht ungelegen kommen. In den Augen der europäischen Öffentlichkeit verschaffte er Ihnen so etwas wie einen Quasi-Märtyrer-Status, denn Sie waren schließlich glücklich verheiratet. Die Hintergründe und der Zusammenhang mit dem Fernsehinterview waren nur wenigen Eingeweihten bekannt. Für das Ausland starb sie wegen ihrer politischen Überzeugungen. – Aber wir werden Ihre Geschichte natürlich überprüfen. Heute Nachmittag kommt ein Arzt, um Ihren Gebissabdruck zu nehmen …«
»Gebissabdruck?«, fragte er verständnislos.
»Silikonmasse, die man auf den Kiefer drückt. Es gelang uns, die Unterlagen aus Ihrer zahnärztlichen Behandlung zu beschaffen.«
»Sie wollen herausfinden, ob ich der echte Kofler bin? – Wegen des Fotos, verstehe. Das wird nicht nötig sein. Mir ist eingefallen, warum ich damals mit der linken Hand unterschrieb. Könnte ich das Foto noch einmal sehen?«
Er streckte die Hand aus.
Ich nahm es aus der Mappe und reichte es ihm.
»Es ist aufgenommen worden, als ich die Ernennungsurkunde an der Krakauer Universität gegenzeichnete – und ich unterschrieb mit links. Wichtig daran ist, dass ich an diesem Tage ein dunkles Hemd trug. Mein rechter Arm ist verdeckt. Nur ein winziges Stück – es sieht aus wie der Zipfel einer weißen Manschette – reicht über die Hüfte hinaus. Aber die Manschette kann unmöglich weiß sein, denn mein Hemd ist dunkelbraun. Ich trug ein beigefarbenes Sakko dazu.«
»Geben Sie her«, sagte ich und nahm ihm das Bild aus der Hand.
»Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich darauf gekommen bin! Damals trug ich den rechten Unterarm in Gips, ich hatte ihn mir bei einem Sturz von der Bibliotheksleiter angebrochen. Was Sie dort sehen, die weiße Ecke, ist keine Manschette, sondern ein Stück vom Gipsverband.«
»Wir werden das überprüfen«, sagte ich. »Sie wissen, dass es dafür Zeugen geben muss und dass so etwas in den Krankenunterlagen vermerkt wird?«
»Das hoffe ich«, bestätigte er.
Ich setzte mich in ein Café an der Franz-Künstler-Straße, von dessen Fenster aus man den Eingang der Zentrale beobachten konnte. Ich nahm an, dass Barbara für den regulären Dienst eingeteilt war und das Haus mit den anderen gegen vier verlassen würde. Zwischendurch blätterte ich in Koflers »What is to be done?«
Nach dem Erfolg der leinengebundenen Erstausgabe war eine preiswerte englische Taschenbuchausgabe herausgebracht worden, und Kruschinsky hatte mir ein Exemplar davon besorgt.
Im Anhang war eine Gegenüberstellung von Passagen aus der unautorisierten Übersetzung des Weißrussen Kremiew mit der neuen, korrigierten Fassung.
Danach betraf die Verfälschung, von der die Rede gewesen war, nur wenige Stellen. Ich versuchte über Kofler wesentliche Thesen Klarheit zu gewinnen …
Das Ganze schien weniger eine politische Theorie oder die Darstellung von wirtschaftlichen und soziologischen Zusammenhängen als vielmehr ein Elaborat philosophischer Überzeugungen zu sein. Anscheinend bestand es nur aus Trivialitäten. F.s Leute hatten dabei unfreiwillig ins Schwarze getroffen: er war tatsächlich ein »Messias« –wenn auch auf andere Weise, als sie glaubten (Barbaras kauernder Riese mit dem Heiligenschein fiel mir ein). Seine Grundthesen lauteten:
– Wir brauchen keine neuen Ideologien, was uns fehlt ist der Wille zum Guten.
– Es sei keine Schande, Fehler zu machen, wenn man die unbedingte Priorität des guten Willens anerkenne.
– Er sei keineswegs bloß deklamatorisch, denn echter Wille fordere Handlung (schließe sie ein).
– Der gute Wille unterstelle keine allgemeingültigen Werte, auch kein festumrissenes Wesen des Menschen, sondern sei eine an der Praxis orientierte und durch sie ständig korrigierbare »regulative Idee«.
– Nur durch ihn, durch den unbedingten und augenblicklichen Willen jedes Einzelnen, gebe es eine Rettung vor der Katastrophe.
– Es sei kein leichter, sondern ein steiniger Weg. Entscheidend sei unsere Ehrlichkeit.
Seine politischen Äußerungen erschienen mir daran gemessen etwas konturloser: Ein zukünftiges System als »Dritter Weg« sollte beide Produktionsweisen – die kommunistische wie die kapitalistische – akzeptieren, andernfalls sei es nicht demokratisch. Einseitige Abrüstung lehnte er ab, wie jeder halbwegs vernünftige Politiker vor ihm (der Wille zum Guten schließe den Willen zur Gewaltlosigkeit ein; es gehe weniger darum, ob man Waffen besitze, als ob man willens sei, sie zu gebrauchen). Zugleich war es ein Wille zu ständigem politischem und sozialem Engagement jedes Einzelnen.
Das Ende der Ausbeutung des Menschen wie des Planeten ergab sich dabei quasi von selbst. Seine »Demokratie« war – der Not gehorchend – eine Expertendemokratie.
Wegen der mangelnden Kompetenz der Massen, die auch bei bestem Willen nicht immer in der Lage sein würden, sich sachkundig zumachen, konnte sich das eigentliche demokratische Ideal nicht erfüllen.
Natürlich leuchtete das, was er über den guten Willen sagte, auch einem Drittklässler ein. Doch wie viel richteten solche Appelle gegen die Übermacht des bösen Willens und unseres natürlichen Egoismus aus?
Als ich an dieser Stelle der Lektüre angelangt war, hätte ich die Schwarte gleich in den nächsten Abfalleimer werfen wollen – wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, sie Barbara zu schenken …
In der Übersetzung Kremiews schloss der gute Wille das Opfer des Einzelnen für die Gesellschaft aus – was den Behörden im Osten ermöglicht hatte, seine Lehre als »reaktionären Subjektivismus« abzuqualifizieren.
In der korrigierten Fassung hoben sich der gute Wille des Einzelnen und der gute Wille der Gesellschaft, wenn sie miteinander konfrontiert wurden, auf gut dialektische Weise in der Synthese des Kompromisses auf (was immer das zu bedeuten hatte).
In Kremiews Übersetzung war der Marxismus-Leninismus ein »Auswuchs« – in der neuen Fassung dagegen eine »notwendige Übergangsphase«.
Der marxistischen Prognostizierbarkeit der Geschichte war bei Kremiew eine völlige Blindheit des Geschichtsablaufs gegenübergestellt; jetzt wurde ein gewisses Maß an Vorhersagbarkeit angenommen.
Vermutlich würde F. die beiden Fassungen als einen raffinierten Schachzug des KGB ansehen, der beides enthielt: eine Alibifunktion und zugleich die Möglichkeit für Kofler Anhänger, sich nach Gutdünken herauszusuchen, was sie glauben wollten.
Ihm schon jetzt mitzuteilen, dass mir Zweifel an Koflers Rolle gekommen waren, hielt ich für verfrüht. Ich würde ihm den Bericht über seine sogenannte »ideologische Position« kommentarlos zustellen.
Bevor ich das Café betrat, hatte ich F. aus einer Telefonzelle in der Nebenstraße angerufen. Er war ungeheuer verärgert gewesen.
»Was, zum Teufel, haben Sie dem Mädchen erzählt?«, brüllte er ins Telefon.
Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, von wem die Rede war. Sie war schwanger geworden und hatte abtreiben lassen. Der Kerl vor der Bäckerei hieß Wenzel und war ihr Freund. Und natürlich hatte sie ihm unser Tete-à-Tete gestanden, als ich nichts mehr von mir hören ließ.
Vermutlich hatte sie sich Hoffnungen über unsere Beziehung gemacht. Da ich für sie der Chef war, der allmächtige Chef, der mit ihr über Gehäkeltes, Erkenntnistheorie und Bölls Ansichten eines Clowns diskutiert hatte, war das kaum verwunderlich.
Gegenwärtig verhörten F.s Leute ihren Freund, um herauszufinden, wie er von der Adresse in der Luckauer Straße erfahren hatte. Bei all der Aufregung schien F. völlig vergessen zu haben, sich danach zu erkundigen, was ich dem neuen Mädchen »angetan« haben könnte. Würde sie womöglich auch schwanger? Ich hatte nicht die Absicht, ihm auf die Nase binden, dass seine Tochter für ihre Freundin eingesprungen war …
Doch mehr als das beschäftigte mich die Frage, wie sich einige andere Merkwürdigkeiten in Koflers Vergangenheit erklären ließen, wenn ich bei meiner augenblicklichen Vermutung blieb, dass er unschuldig war. Schließlich schien sie auf nicht viel mehr als auf einem gefühlsmäßigen Eindruck und der vertrauensvollen Art zu beruhen, mit der er mich darum gebeten hatte, ihm zu glauben.
Vor allem aber: Wer, wenn nicht Kofler, war der echte »rote Kakadu«, den der Leipziger Ring angekündigt hatte? Etwa Amrouche, der gehbehinderte Briefträger in Osnabrück? Oder ein dritter, noch unbekannter Mann, der unbemerkt von F.s Abschirmdienst die Grenze überquert hatte?
Und was würde geschehen, wenn ich F. gegenüber ernsthaft die These von Koflers Unschuld vertrat?
War sein Tod nicht längst beschlossene Sache?
Aber warum sollte man ihn töten, wenn er unschuldig war? Oder gab es Hintergründe, die ich nicht kannte, Motive völlig anderer Art? Zum Beispiel, weil er eine Gefahr für die regierenden Parteien darstellte, eine politische Kraft unabhängig von der Frage, ob der KGB oder das MfS ihn bezahlte?
Sicherlich eine seltsame Vorstellung, wenn man Koflers naiven Glauben an den guten Willen berücksichtigte (der natürlich vorgeschoben sein konnte). Doch man musste die Realitäten sehen: jene Bewegung, die sich nun einmal – ob nur ein Missverständnis seiner Anhänger oder nicht – um ihn gebildet hatte.
Nicht wer er war, sondern für wen man ihn hielt, entschied über seinen Tod.
Mir wurde übel bei dem Gedanken. Auf ähnliche Weise war auch Pysik ums Leben gekommen…
Ich ahnte, dass es Fragen waren, die ich nicht lösen würde. Schon weil die Lösbarkeit aller Fragen ein Mythos ist. Die Realität ist ein Nebel, ein Dunst aus Vagheiten, Ahnungen und Vermutungen. Und eine Tat, für die man Zeugen hat oder ein Täter, der gesteht, ändern an dieser Ungewissheit wenig, denn Zeugen sagen falsch aus und Wirrköpfe belasten sich mit Verbrechen, um sich interessant zu machen.
Ich hatte das Gefühl, dass ich mich entscheiden musste – entscheiden aufgrund genau der gleichen Intuitionen und Unwägbarkeiten, die zum Tode von Koflers Vorgängern geführt hatten. Denn auch das Umgekehrte galt: Gefühl und Intuition – jenseits aller Beweise, die vor Gericht taugten – entschieden über sein Leben.
Sofort hatte ich wieder das Bedürfnis, diesen Schwierigkeiten zu entfliehen. Ich tastete in der Jackentasche nach dem Ampheton. Meine Fingerspitzen umspannten die Schachtel. Ich hörte das Knistern der Folie … und es beruhigte mich.
Der grüne Garten mit den Birnbäumen fiel mir ein, unter denen ich als Kind gelegen hatte. Eine unbeschwerte Zeit. So unwirklich wie die Gegenwart. Es war ein weitläufiger Garten mit abfallenden Wiesen, den meine Mutter meinem Vater abgerungen hatte, kurz bevor sie beide (geplatzter Vorderreifen) mit einem schwarzen Opel bei einhundertzwanzig km/h von der Landstraße abgekommen waren, die am Haus vorbei in die Stadt führte.
Eine alte Haushälterin, die schon zur Familie der Großeltern zählte, als meine Mutter noch unverheiratet war, übernahm meine Erziehung. Ich mochte sie nicht: Sie war streng, hatte ein Raubtiergesicht und trug tagaus, tagein denselben Lodenmantel (als werde sie schlecht bezahlt) und einen braunen Hut mit schwarzer Kordel über dem Haarknoten.
Eines Tages lag ich wieder unter den Birnbäumen im Garten und beobachtete, wie eine Frau im Lodenmantel mit genau ihrem krummen Hexenrücken – diesmal trug sie einen Strohhut über dem Haarknoten – und ein älterer beleibter Mann, den ich nie zuvor gesehen hatte, vorfuhren. Sie blickten sich um, als sie ausstiegen, sahen am Haus empor, dann zu den Wiesen hinunter, wo ich lag, und gingen hinein.
Die Tür war nur angelehnt. Das Auto war ein dunkler Kastenwagen, von dem die Farbe abblätterte. Ich nahm an, dass der alte Kerl ihr Freund war und dass sie ihn mitgebracht hatte, um ihm mit der gleichen Selbstherrlichkeit das Haus zu zeigen (als sei sie seine rechtmäßige Erbin), wie sie auch über mich verfügte, denn es gab niemanden mehr von der Familie, der es ihr verwehren konnte.
Zu meiner Überraschung kamen sie nach einer Weile heraus, halb verdeckt von zwei großen Gemälden, die sie – mit den Bildseiten nach innen – ins Auto trugen. Sie verschwanden damit auf Nimmerwiedersehen …
Nur unsere Haushälterin kehrte am Nachmittag zurück. Angeblich war sie gegen Morgen zum Einkaufen ins Dorf gegangen, und sie habe länger als gewöhnlich dazu gebraucht, weil es ihr wegen des schönen Wetters in den Sinn gekommen sei, um den See zu spazieren.
Der Nachlaßverwalter, ein Anwalt aus der Stadt, stellte fest, dass zwei wertvolle moderne Gemälde gestohlen worden waren. Ich berichtete ihm von meiner Beobachtung: der Frau im Lodenmantel und dem Mann mit dem Kastenwagen. Er fragte mich mit ernster Stimme, ob ich wirklich die Haushälterin erkannt hätte. Er war ein großer, imponierender Mann mit wallendem Bart (wie ich mir Moses vorstellte), und ich hatte ziemliche Angst vor ihm.
Trotzdem nickte ich, weil ich dachte, ich könnte ihn immer noch vors Schienbein treten und weglaufen, wenn er mich zwingen würde, etwas anderes als das zu sagen, was ich gesehen hatte (aus irgendeinem Grunde argwöhnte ich, er stecke mit ihr unter einer Decke …).
Um der Wahrheit willen erwähnte ich aber, dass sie diesmal, anders als sonst, einen Strohhut getragen habe.
Er ermahnte mich, gut nachzudenken, denn alles, was ich sagte, würde vor Gericht gegen sie verwendet werden.
Nun – ich blieb bei meiner Aussage!
Zwar wurden weder die Bilder noch der Strohhut bei ihr gefunden, doch man verurteilte sie zu einer Gefängnisstrafe. Ich selbst kam in ein Heim und dachte trübsinnig an unsere grünen Wiesen, die Birnbäume und das schöne Haus zurück.
Das Haus wurde bald verkauft. Bis zu meiner Volljährigkeit bekam ich keinen Pfennig davon.
Aber die Gemälde tauchten eines Tages in einer Auktion auf!
Als man ihren Weg zurückverfolgte, stieß man auf ein Pärchen, das mit Altwaren und Antiquitäten handelte. Der Mann besaß einen Kastenwagen wie den, den ich vor dem Haus beobachtet hatte – und seine Frau trug Lodenmäntel. Aus der Nähe betrachtet glich sie unserer alten Haushälterin allerdings kaum – wenn man von ihrem Haarknoten und dem gebeugten Rücken absah –‚ und ich weiß wirklich nicht, wie ich sie mit ihr hatte verwechseln können. Vermutlich war meine Abneigung daran schuld gewesen …
Damals überließ ich ihr als Entschädigung eines der beiden Gemälde …
Anders als bei Fotos, befiel mich seitdem, wenn ich Gemälde sah, ein eigentümliches Unbehagen. Meine Finger zitterten, und die Handflächen wurden feucht. Der Arzt, den ich konsultierte, nannte es »eine leichte Bilderphobie«, und er führte sie auf jenes »traumatische Erlebnis« zurück, das mich ins Heim gebracht hatte.
Ich nahm an, dass die Ursache nicht eigentlich der Bilderdiebstahl war, die Tatsache, dass man Bilder gestohlen hatte – so als müsste ich, wenn es Porzellan gewesen wäre, an einer Tassen-, Teller- und Kannenphobie erkrankt sein. Nein, es war einfach das Eigentümliche von gegenständlichen Gemälden: dass sie etwas darstellen und augenscheinlich mehr sind als nur Farbtupfer auf Leinen – nämlich Vorspiegelung, das Nachgeahmte, Scheinbare …
Es war die Täuschung, die mir Unbehagen verursachte. Darum mied ich Gemäldehandlungen und Ausstellungen, wo immer es ging. Als Staatsanwalt hatte mich meine Angst vor Bildern einmal in arge Verlegenheit gebracht. Ich sollte während einer Verhandlung an Originalgemälden die Einzelheiten einer Fälschung erläutern, doch schon nach wenigen Augenblicken musste ich mich wegen »Unpässlichkeit« entschuldigen lassen.
Die Vorwürfe gegen Kofler hatten den gleichen Anschein der Täuschung: Es war ein Bild und ich versuchte herauszufinden, wer es gemalt hatte.
Je mehr ich dieses Bild zerstören und zur eigentlichen Realität (Realität –so zweifelhaft das Wort auch sein mochte) vorstieß, desto mehr verflüchtigte sich in der Regel mein Unbehagen, und der Zweifel, der wie eine Hummel unterhalb meiner bewussten Gedanken summte, ließ nach. Im Grunde war die Echtheit des Bildes sogar völlig nebensächlich – vorausgesetzt, ich glaubte an sie. Es gab etwas in Koflers Geschichte, das mich darauf brachte, der KGB oder das MfS könnte ihn – ohne sein Wissen – nicht als »Messias«, sondern als Köder, als Ablenkung für einen echten Agenten benutzt haben wenn man sich nämlich seine Ausbürgerung zunutze machte. Man wählte den passenden Zeitpunkt und spielte dem Leipziger Ring eine Falschinformation zu.
Was benötigte ein künftiger Parteiführer wie Kofler? Zunächst einmal Büros in den Zentren, wo seine Anhänger am stärksten vertreten waren, also in Frankfurt, Bochum, München und Hamburg. Solche Räume mussten, wenn das Unternehmen Erfolg haben sollte, mit Sekretärinnen, Büromöbeln, Fernschreibern, Mitgliedercomputern und Kleindruckereien ausgerüstet sein. Der geringe Betrag, den die Vereinigungen aufbrachten, konnte das nicht finanziert haben.
Als F.s Leute dieser Spur nachgegangen waren, hatten sie entdeckt, dass die Gelder dazu von einem schwedischen »Verein zur Förderung des Sozialismus in Mitteleuropa«, Sitz Göteborg, stammten. Jeder, der den Verein kannte, wusste, woher er den überwiegenden Teil seiner Mittel bezog: aus Moskau und Ost-Berlin.
Der Geldtransfer war ein so durchsichtiges Manöver, dass man ihn fast als Beweis für Koflers Unschuld werten konnte. Es gab nur einen halbwegs überzeugenden Versuch, die Angelegenheit zu tarnen – man hatte die Spende über den Zwischenverkauf eines Bürogebäudes in Frankfurt abgewickelt, das den Schweden gehörte. Ein Mittelsmann erwarb das Haus zu einem Spottpreis, verkaufte es für den echten Gegenwert und ließ den Erlös der Vereinigung zukommen.
Auch hier kein Versuch, einen unverdächtigen Zwischenhändler einzuschalten, denn bei dem Mann handelte es sich um einen Druckereibesitzer, der überwiegend radikale marxistische Schriften und kleinere Pamphlete vertrieb. Zwar besaß Kofler keine Verfügungsgewalt über die Konten, doch mit der offiziellen Übernahme der Geschäfte würde sich das vermutlich ändern.
Ein weiterer Punkt betraf Koflers letzte Stunden vor der Abschiebung aus Ost-Berlin. F.s Experten hatten seinen Weg rekonstruieren können:
Aus einem Gefängnis am Stadtrand war er in die Prenzlauer Allee gefahren worden, und dort war nicht etwa der Sitz jener Behörden, die gewöhnlichen Ausgebürgerten ins Gewissen redeten, sie bedrohte und ermahnte, im Westen Wohlverhalten und Neutralität zu üben, sondern bei ihren Spezialisten handelte es sich genau um jenen Stab von Mitarbeitern, der solche Infiltrationsversuche plante.
Uns war kein Fall bekannt, bei dem ein Mann, der auf den Westen angesetzt wurde, sich derart verräterisch benommen hatte. Wir wussten, dass Achenbach seit seiner Rückkehr nach Ost-Berlin das Ressort »Einschleusung« bearbeitete, nachdem es ihm gelungen war, zwei Konkurrenten auszuschalten. Dieser Mann galt, was die Hinterhältigkeit und den Ideenreichtum seiner Planungen anging, als einer der besten Köpfe, den das MfS je besessen hatte. Ein so grober Schnitzer – eine derartige Sorglosigkeit – war ihm kaum zuzutrauen – es sei denn, er legte es darauf an, uns Kofler als Verdächtigen zu präsentieren.
F. hatte diese Ungereimtheiten damit abgetan, dass man drüben weder etwas von unseren Abfangmethoden noch von den Hinweisen ahnte, die uns der Leipziger Ring über den Agenten in der Roßstraße zukommen ließ. Nachdem Zwischenfall mit dem Messwagen an der Mauer, dem angeblichen »Stromausfall« – ich war nach wie vor davon überzeugt, dass es sich um eine Messung handelte, obwohl F. behauptete, es gebe keinerlei Hinweise dafür – war ich da nicht mehr so sicher. Mir fiel der Mann mit dem Fernglas ein, den ich einmal in dem verfallenen Gebäude jenseits des Todesstreifens beobachtet hatte. Wenn aber Koflers vermeintliche Rolle bloß ein Ablenkungsmanöver war, wer außer Amrouche kam dann in Frage?
Ich blickte auf meine Armbanduhr: Es war kurz nach fünf. Barbara hätte ihre Arbeit in der Zentrale längst beendet haben müssen. Als ich das Café verließ, sah ich sie aus einem Hauseingang am anderen Ende der Straße kommen. Sie trug einen blauen Mantel und eine Umhängetasche und beeilte sich, in einen japanischen Kleinwagen zu steigen.
»Nanu?«, meinte sie, als sie mich entdeckte. »Haben Sie etwa hier auf mich gewartet?«
»Ich wusste nicht, dass sich in diesem Haus Dienststellen der Abteilung befinden«, sagte ich und blickte an der Fassade hinauf.
»Ja, wir stecken überall«, lachte sie. »Seit einiger Zeit werden die Räume öfter gewechselt – auf Ihre Veranlassung hin, nehme ich an?«
»Es sieht aus, als wenn Sie‘s eilig haben?«
»Nicht besonders …«
»Gut, dann schlage ich vor, Sie kommen mit in meine Wohnung in der Hitzigallee, das ist nur ein paar Straßen weiter, und wir setzen unsere Unterhaltung fort, wo wir sie letztens unterbrochen haben.«
»Sie meinen, wir gehen miteinander ins Bett?«
»Wir könnten auch Tee trinken oder Schach spielen.«
»Nicht in Ihrer Wohnung. Lassen Sie uns irgendwo hingehen. Vielleicht gibt es noch Karten für den Flokus.«
»Flokus?«
»Ein Kabarett.«
»Na, meinetwegen.« Ich stieg ein. Sie warf ihre Lederumhängetasche achtlos auf den Rücksitz (ein gutes Zeichen, wie mir schien). »Haben Sie Ihrem Vater von unserem Stelldichein erzählt?«, fragte ich, während sie vorgebeugt den ersten Gang einlegte.
»Gott bewahre. In der Beziehung ist er ziemlich humorlos.«
»Wegen des Kerls mit dem Heiligenschein hatten Sie übrigens recht.«
»Wegen – ?«
»Die Dachsilhouette …«
»Ah, richtig.«
Wir parkten in einer Nebenstraße des Ku‘damms.
»Ich muss Ihnen ein Geständnis machen«, sagte ich beim Aussteigen. »Sie halten mich für den Chef, aber ich bin nicht mal Abteilungsleiter in dem Verein.«
Barbara starrte mich schweigend an, ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie hatte sich etwas herausgeputzt. Es war ein Vergnügen, sie anzusehen. Mal abgesehen von der Spannung in der Atmosphäre, den knisternden Funken, die förmlich zu hören waren nach meinem unerwarteten Geständnis.
»Nein, wi-i-rklich – ?« Sie zog das »i« lang, als nehme sie vor einem Spinnennest Reißaus.
»Sie müssen mir einfach glauben!«, sagte ich. (Etwas Dümmlicheres fiel mir momentan nicht ein.)
»Na wenn das so ist, weiß ich gar nicht, warum ich mich noch mit Ihnen abgebe. Ich meine, wenn Sie nur eine Null in dem Laden sind. – Und die Mädchen? Warum schanzt man Ihnen so viele hübsche unschuldige Mädchen zu?«
»Unschuldige waren noch keine darunter. Ich bin in einer etwas kuriosen Lage – offenbar ist jemand in der Organisation daran interessiert, dass man mich für den Chef hält.«
»Warum sollte man?«
»Ich würde Sie gerne ins Vertrauen ziehen.«
»Na schön«, seufzte sie. »Kein Flokus. Gehen wir essen? Anscheinend bin ich eine Art Vertrauensperson, ein wandelnder Beichtstuhl. Erst heult Charlotte mir die Ohren voll, und jetzt kommen Sie mit Ihrem …«
»Charlotte?«
»Sie war schwanger. Ich denke doch, dass Sie von der Abtreibung erfahren haben?« Sie musterte mich missbilligend. »Ihre verhinderten Vaterfreuden.«
Ich nickte.
»Sie muss geglaubt haben, ‘der Chef’ werde sie heiraten«, sagte ich. »Ihr Freund stellt mir deswegen nach. Hören Sie, die Geschichte, von der ich Ihnen berichten will, ist wesentlich heikler. Meine Aufgabe in der Organisation … oder anders gesagt, die tatsächliche und die angebliche Rolle, die ich dort spiele – « Ich schwieg. Plötzlich kamen mir Zweifel, ob es richtig war, sie ins Vertrauen zu ziehen. »Der Mann mit dem Heiligenschein – ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen das …?«
»Erzählen Sie‘s mir morgen oder übermorgen«, unterbrach sie mich. »Oder wann immer Sie glauben, mir vertrauen zu können.«
Dass sie nicht neugierig war, erleichterte mich ein wenig. Wir gingen in ein kleines Lokal, dessen Küche, wie sich dann herausstellte, schon geschlossen hatte, und tranken zwei Karaffen Rotwein. Sie begann mir von ihrem Vater zu erzählen, seinem Misstrauen und allerlei Umständlichkeiten und Verschrobenheiten, zum Beispiel, wie er Briefe öffnete.
Er befürchtete ständig Opfer eines Briefbombenanschlags zu werden, darum ließ er auch seine Privatbriefe im Büro öffnen. Und die Haustür konnte mit einem giftigen Kontaktmittel bestrichen sein. Also legte er ein großes altmodisches Taschentuch darüber. In einer Menschenmenge angestoßen, argwöhnte er oft, man habe ihn mit einer präparierten Regenschirmspitze getroffen, die Wundstarrkrampf, Hirnhautentzündung oder irgendein anderes Leiden verursachen würde.
Doch seine bemerkenswerteste Eigenschaft sei sein Hang, für alle Eventualitäten vorzusorgen und noch den abwegigsten Möglichkeiten Rechnung zu tragen.
Er wolle auf alles vorbereitet sein. Obwohl ein eingeschworener Atheist, gehe er einmal monatlich beichten, für den Fall, dass doch etwas »an der Sache« dran sei. Klammheimlich, verstehe sich, und immer in Kirchen weit genug vom Zentrum.
Peinlich werde es, meinte Barbara, wenn er das Heizöl zwei Winter im Voraus bestelle, die Händler besäßen dafür keine Terminbücher.
»Ach«, sagte ich und ahnte mit einem Male, welcher Marotte mein angeblicher Chefstatus zu verdanken war. Womöglich würde er auch Kofler vorsorglich beseitigen lassen, falls ich Zweifel an seiner Unschuld äußerte.
»Das wussten Sie nicht, habe ich recht?«, fragte Barbara. »Als Mitarbeiter verstellt er sich, wo es geht, aber als Privatmann ist er eine ziemlich lächerliche Figur. – Herrgott ….«‚ sie sah auf die Uhr. »Nun muss ich aber wirklich gehen.«
Nur mühsam brachte ich sie dazu, sich mit mir fürs Wochenende zu verabreden.
»Ich mag Sie. Aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen trauen kann.«
»Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann besorgen Sie mir einige von den Papieren, die ich angeblich unterzeichnet haben soll«, bat ich, als sie schon im Wagen saß.
»Mit dem C für Chef?«
»Mein Name ist Cordes.«
»Sie haben den Mädchen sicher viele Geschichten erzählt – na schön, ich will sehen, was ich tun kann.«