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ОглавлениеDer Arzt war ein schweigsamer Mann in dunklem Anzug mit einem Köfferchen in der Hand. Sein zurückgekämmtes Haar über der hohen Stirn war ergraut. Er hatte das Eisentürchen neben dem Fahrstuhl mit einem Zweitschlüssel geöffnet, die vereinbarte Dreiundzwanzig in das Tipptastenfeld eingegeben, worauf oben in der Wohnung das Signal ertönt und Kruschinsky hinuntergefahren war, um ihn abzuholen. Er sah aus wie ein Doktor auf Hausbesuch. Ich kannte ihn nicht (F. tauschte solche Mitarbeiter gern nach jeder Aktion aus).
Das dünne Bärtchen über seiner Oberlippe verschob sich nur einmal, als er mir die Hand gab und – unmerklich lächelnd – »eine Identifizierung …«, murmelte.
Den Rest wickelte er ohne Umstände und mit solcher Schnelligkeit ab, als sei es Alltagsroutine. Er legte die Masse für den Zahnabdruck heraus, eine Mappe mit Aufzeichnungen, farbigen Diagrammen und Röntgenbildern, hängte sich das Stethoskop um den Hals und bat Kofler, den Oberkörper freizumachen.
»Kontrolle Ihres Gesundheitszustandes!«, sagte er. »Wir möchten, dass Sie sich bei uns wohl fühlen. Zum Schluss noch ein Vergleich mit Ihrem zahnärztlichen Befund – so ist die Vorschrift. Natürlich wissen wir, dass Sie der Mann sind, für den Sie sich ausgeben« – er zuckte die Achseln – »Routine, Behördenkram, Sie kennen das ja.«
Dann begann er zu arbeiten:
Er klopfte Koflers Rücken ab, verglich die Biegung seiner Wirbelsäule mit zwei Röntgenaufnahmen, tastete nach einzelnen Wirbeln, strich mit den Fingernägeln über seine Haut, um an der Rötung den Kreislauf und die Durchblutung zu beurteilen, sah ihm in den Rachen, studierte eine Weile mit dem Augenmikroskop seine Iris, horchte den Herzschlag ab, leuchtete ihm in die Ohren – und erkundigte sich, als er fertig war:
»Wollen Sie eine Vitaminspritze?«
Kofler schüttelte den Kopf.
»Dann nehmen wir jetzt den Gebissabdruck. Bitte setzen Sie sich. Bitte den Kopf zurücklehnen …«
Er mischte die Masse im Glas an und warf mir, während er rührte, einen desinteressierten Blick zu. Ich war erleichtert dass, dass Kofler die Prozedur ohne Protest über sich ergehen ließ. Als ihm die Silikonmasse unter den Oberkiefer gedrückt wurde, sah er mich wie ein weidwundes Reh an, verbis sich aber jeden Kommentar.
»Stillhalten jetzt«, sagte der Doktor. Er presste die Masse gegen den Gaumen, hielt sie mit drei Fingern angedrückt, und Kofler atmete mit weit geöffnetem Mund, den Kopf und Nacken über die Sessellehne zurückgebeugt, schnaufend durch die Nasenlöcher ein und aus. Er tat mir leid. Ich ahnte, dass er unschuldig war. Und ich tat mir selbst leid – denn seine Unschuld würde uns beiden eine Menge Ärger einbringen.
Man hatte auf eine Identifizierung durch den Vergleich seiner Fingerabdrücke verzichtet, denn die Muster bei den Behörden waren zu leicht austauschbar. Um an dagegen die übrigen Daten zu gelangen, musste die andere Seite wie wir in Arztpraxen und Krankenhäuser einbrechen oder das Personal bestechen. Ich nahm die Mappe mit der Krankengeschichte zur Hand:
Kofler hatte sich zur fraglichen Zeit tatsächlich den Unterarm angebrochen.
Kruschinsky kam aus dem Nebenzimmer und reichte mir einen Textstreifen aus dem L.D.A. Ich las ihn und steckte ihn in die Jackentasche.
»Für einen Mann Ihres Alters kein schlechtes Gebiss«, stellte der Doktor fest, als er den Abdruck herausgenommen hatte. Er verglich ihn mit einem Wachsabdruck, der eingewickelt vor ihm lag. »Gut, das wär‘s. Wünsche einen angenehmen Abend.« Dann packte er alles in sein Köfferchen und ging zur Fahrstuhltür. »Eindeutig Kofler«, nickte er mir zu. »Ein gesunder, starker Mann. Könnte hundert Jahre alt bei uns werden.«
Nicht mal der Ansatz eines ironischen Lächelns war in seinem Gesicht, als er mit Kruschinsky den Fahrstuhl betrat.
»Und …?«, erkundigte sich Kofler – wir hatten uns an den Tisch gesetzt –, »kein Agent der Warschauer-Pakt-Staaten?« Seine Augen funkelten, und sein Kopftick beschrieb eine vergnügte Aufwärtsbewegung.
»Nehmen Sie ernsthaft an, jemand habe Sie dafür gehalten?«
»Ehrlich gesagt, ja.«
»Dann war Ihr Ausflug so etwas wie der Versuch, uns Ihre Harmlosigkeit zu demonstrieren?«
»Nein, zu dem Zeitpunkt war ich noch ganz arglos.«
Ich zuckte die Achseln und schlug meine Mappe auf.
»Eines ist mir noch unklar. Nämlich Ihr Verhältnis zur Mehrheitsdemokratie. Es scheint, dass Sie das Verfahren ablehnen? Dabei handelt es sich um eine Äußerung, die Ihnen im Westen viel Zulauf eingebracht hat – Zulauf aus radikalen Kreisen. Man wertet das nicht gerade als Plädoyer für unsere freiheitliche Verfassung. Allerdings ist manch einer bei uns, der zu den dreißig, vierzig oder gar neunundvierzig Prozent einer Minderheit gehört, der Abstimmungsverfahren überdrüssig und bezeichnet sie als ‚Diktatur des einundfünfzigsten Prozents’. Offenbar vertreten auch Sie die Meinung, an die Stelle des Mehrheitsprinzips müsse das Kompetenzprinzip treten?«
»Keine Bindung an Besitz, Rang, Namen oder Funktionen«, nickte Kofler. »Selbst wenn man das gegen mich auslegt. Ich berufe mich da auf den finnischen Staatspräsidenten Kekonen, eine falsche Politik werde auch dann nicht richtig, wenn das Volk sie wolle.«
»Man wird Ihnen das als undemokratische Beliebigkeitshaltung auslegen. Wer entscheidet über Kompetenz?«
»Es kommt darauf an, wie man einen solchen Grundsatz handhabt. Auch der Westen praktiziert keine echte Mehrheitsdemokratie. Es entscheiden die Experten.
Sie sehen das an der relativen Wirkungslosigkeit von Demonstrationen. Niemand veranstaltet deshalb eine Volksabstimmung – auch nicht, wenn sich einige tausend Menschen in der Bonner Innenstadt versammeln. Aber die Experten müssen guten Willens sein. Sie dürfen nicht an ihren Ministersesseln kleben, sie dürfen nicht dem Großkapital zuarbeiten. Wir überleben nur, wenn wir den kategorischen Imperativ jeden Augenblick aufs neue zur echten Maxime machen.«
»Ihr Wort in Teufels Ohr«, sagte ich. »Gut – vertagen wir die offizielle Vernehmung. Ich habe noch eine Flasche Rotwein im Schrank … wenn Sie Lust auf ein Gläschen haben?«
»Gern«, nickte er.
Ich ging hinaus, um die Flasche zu holen, Kruschinsky plagte sich im Nebenraum mit dem Notizbuch. Einige Blätter, auf denen er verschiedene Entschlüsselungsmethoden durchprobiert hatte, lagen verstreut auf dem Tisch.
»Aus Ihrer ‚halben Stunde’ wird nach und nach eine halbe Woche?«, sagte ich.
»Es ist ein ungewöhnlich kniffliger Kode«, erklärte er kopfschüttelnd. »Aber ich hab‘s noch nicht aufgegeben. Wenn ich wüsste, was das durchgestrichene Wort oben bedeutet, hätte ich einen Ansatzpunkt, weil es möglicherweise auch im Text auftritt.«
»Cordes …«‚ sagte ich und ging in mein Zimmer hinüber. Ich spürte förmlich, dass Kruschinskys Blick dabei an meinem Rücken hing. Kofler hatte seine Jacke ausgezogen. Darunter trug er einen verwaschenen blauen Pullover, der etwas zu lang war.
»Die Morgenzeitung schreibt, ich würde über Ungarn oder Rumänien einreisen«, erklärte er, als ich hereinkam.
»Vielleicht nur ein Täuschungsmanöver, um die Kollegen von den anderen Blättern abzulenken.«
»Halten Sie das für möglich?«
»Journalisten sind keinen Deut besser als Geheimdienste.«
Ich entkorkte die Flasche und goss ihm und mir ein randvolles Glas ein. Er roch daran, spülte fachkundig einen kleinen Schluck im Mund und nickte anerkennend.
»Guter Tropfen. In Polen muss man lange anstehen dafür. Falls er überhaupt aufzutreiben ist. – Wie sind Sie an den Job gekommen?«, fragte er nach einer Weile.
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Würde mich interessieren …«
Ich goss mein Glas nach und musterte ihn, seine strahlend blauen Augen sahen mich vertrauensselig an.
Es war die sympathische Offenheit darin, die mich wie von selbst in sein Lager überwechseln ließ. Nicht viel mehr als ein wenig offene Bläue …
»Bevor ich diesen Job übernahm, war ich Staatsanwalt. Wegen eines groben Fehlers – Voreingenommenheit aus Eifersucht, durch die jemand Selbstmord beging – wurde ich vom Dienst suspendiert. Ich geriet sogar in den Verdacht, Beweismaterial manipuliert zu haben. Es ging mir ziemlich erbärmlich danach – bis man mir diese Arbeit anbot.«
Kofler ließ sich Einzelheiten über Pysiks Selbstmord, die Hintergründe der Ermittlungen und seinen Prozess erzählen. Er stellte Fragen, die verrieten, dass er sein Handwerk als Kriminologe noch nicht verlernt hatte. Ich dachte, es sei nützlich, ein persönlicheres Verhältnis zu ihm zu gewinnen. Der Eindruck, den er auf mich machte, war noch zu unbestimmt. Meine Geschichte war ohnehin bekannt. Sie hatte damals in allen Zeitungen gestanden.
»Und der wirkliche Täter ist nie gefasst worden?«, fragte er nachdenklich. »Jemand muss Pysik belastet haben.«
»Es wurde eine Nummern-Druckmaschine für Schecks bei ihm gefunden. Aber die gefälschten Schecks waren auf einer anderen Maschine gedruckt worden.«
»Sie haben sehr leichtfertig gehandelt.«
»Ich war von Pysiks Schuld überzeugt.«
»Ihre Überzeugung hat ein Menschenleben gekostet.«
»Ja, und ich bin noch nicht darüber hinweg.«
»Es ist immer das Gleiche«, meinte er grüblerisch. »Mit ein wenig gutem Willen, an seine Unschuld zu glauben, wäre das alles nicht passiert.«
»Eigentlich verfolgen mich solche Irrtümer, solange ich zurückdenken kann – es scheint so, als wenn ich eine Art Option darauf hätte.«
Ich berichtete ihm von dem Bilderdiebstahl und einer anderen – ähnlichen – Geschichte aus meiner Schulzeit. Damals hatte ich überein Jahr lang einen Schüler gemieden, der mein Freund gewesen war. Ich wusste, dass er darunter litt und mich nicht verstand, aber ich glaubte, er habe mich beim Lehrer wegen eines geschwänzten Vormittags verpetzt (tatsächlich hatte die Frau des Lehrers mich am Fluss beobachtet – doch das erfuhr ich erst viel später). Ewald, so hieß der Schüler, schien plötzlich in ungewöhnlich gutem Einvernehmen mit dem Lehrer zu stehen (dabei war er ungeschickt und faul und in Mathematik und Orthographie der Klassenletzte); und er war der einzige, der von meinem Angelvormittag und dem Plan mit der gefälschten Unterschrift auf dem Entschuldigungszettel gewusst hatte …
Ihr gutes Einvernehmen entpuppte sich später als gemeinsames Hobby. Sie züchteten dieselbe Art seltener Zierfische. Ich glaube, es waren Neon-Salmler – oder etwas ähnlich Verrücktes.
Dabei machte ich mir nichts vor. Dass ich Kofler von den alten Geschichten erzählte, geschah nicht aus Berechnung. Ich hatte ein Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden.
Er hörte geduldig zu, ohne Anzeichen von Ermüdung. Wir leerten die Flasche, und ich ging hinüber und holte noch eine Flasche Riesling. Oft, wenn er sprach, schweiften meine Gedanken ab, und ich grübelte darüber nach, wie wenig Anlass es gab, an seine Unschuld zu glauben – und ob es sich bei dem Vertrauen, das ich ihm jetzt entgegenbrachte, nicht nur um jenes ins Gegenteil verkehrte Misstrauen handelte, dem ich so oft aufgesessen war.
Sicherlich blieb er nach wie vor verdächtig. Die Geschichte mit dem Gipsarm mochte zutreffen – aber das französische Fernsehinterview, die auf ungeklärte Weise verratene Mitgliederliste russischer Dissidenten, seine angeblich nur in der Jugendzeit orthodox marxistische Haltung, das unautorisiert und verfälscht ins Englische übersetzte Buch, vor allem aber sein verdächtiger Aufenthalt in Ost-Berlin sprachen gegen ihn.
Trotzdem vertraute ich ihm. Ich riskierte es einfach. Jedenfalls verstummte das Gesumme der Hummel oder Wespe in meinem Schädel, wenn ich seine Beteuerungen ernst nahm. Kofler mochte – was die Verwirklichung seiner Überzeugungen anbelangte – ein Narr sein, ein hoffnungsloser Idealist.
Doch wenn es überhaupt ein Gefühl oder eine Intuition dafür gab, ob jemand die Wahrheit sprach, dann war ich jetzt bereit, ihm diese Ehrlichkeit zuzubilligen.
Entscheidend blieb aber, dass es sich um einen jener Fälle handelte, die sich nicht vor Gericht verhandeln ließen – dazu waren die Beweise zu mager. Deshalb würde F. weiterhin auf einen Schuldspruch drängen.
Anscheinend war sich Kofler der Aussichtslosigkeit seiner Pläne sogar bewusst! Er erzählte mir von seinen beiden Töchtern – und dass sie ihn nicht verstanden.
»Nicht einmal sie – «‚ bemerkte er mit trübsinniger Miene. In ihren Briefen aus dem Gefängnis hatten sie ihn gebeten, »den Sturz des Regimes mit unnachgiebiger Härte« zu betreiben. »Sie wollen in mir den Helden sehen!« klagte er. »Natürlich war man amüsiert, als man ihre Post öffnete. Selbst die Behörden sehen in mir keinen Umstürzler – allenfalls einen Kollaborateur mit dem Klassenfeind. Vermutlich aber nur einen harmlosen Intellektuellen, der mehr Anhänger im Westen als im Osten besitzt.
Dass ich mich in der Bundesrepublik von allen Organisationen fernhalten werde, die in meinem Namen Veränderung – oft gewaltsame Veränderung – predigen, halten sie schlichtweg für ein Täuschungsmanöver.«
»Sie wollen auf die Möglichkeit verzichten, über solche Kreise Einfluss zu nehmen?«
»Ja. Ich werde mich zurückziehen, um an meinem Buch zu arbeiten – das Heil liegt nicht in politischen Parteien, vor allem nicht in einer Bewegung aus Wirrköpfen.«
Ich war schon ein wenig unsicher auf den Beinen, als ich mich erhob, um eine neue Flasche zu besorgen. Umständlich zog ich den Stuhl zurück.
»Sie müssen mir glauben …«‚ bat er plötzlich und umfasste mit beiden Händen meine Rechte. Seine Fingerspitzen zitterten leicht. Während ich nickte und einen unsicheren Schritt in den Raum setzte, entglitt ihm die Hand.
Schon an der Tür, wandte ich mich um und betrachtete seine vorgebeugte, zusammengekauerte Gestalt, die an den Riesen in der Dachsilhouette erinnerte.
»Es ist gerade das Vertrauen, das uns fehlt«, sagte er mit gesenktem Kopf.
Der Satz lief mir im Raum nach, und als ich die Klinke drückte, überholte er mich von hinten wie eine düstere Wolke aus Gewissheit und Überzeugung, von der ich ohnehin schon eingenebelt war – düster, weil die Konsequenzen düster waren. Seit ich das Ampheton nahm, vertrug ich nicht mehr allzu viel; doch um zuerkennen, dass man mich in diesem Job nicht für Vertrauen bezahlte, reichte das bisschen alkoholisierter Verstand allemal.
Ich eckte am Tisch an und ging ohne mich umzublicken zur Tür des anderen Zimmers, bis mir einfiel, dass die Flasche Riesling die letzte gewesen war und sich im Schrank außer Zwieback und schimmeligem Brot nur noch ein Glas Gurken befand. Als ich Kruschinsky mein Gesicht zuwandte, sah ich, dass er mich wie einen Schlafwandler oder ein Wesen aus einer anderen Welt anstarrte (wie die Geliebte, die sich als Gewohnheitstrinkerin entpuppt). Er hatte mich noch nicht blau gesehen.
»Besorgen Sie für Leo und mich noch zwei Flaschen Riesling … irgendwo an der Trinkhalle. Sie werden schon eine finden, die geöffnet ist. Und bringen Sie sich selbst ein leeres Glas mit.«
»Beabsichtigen Sie da drinnen ein Besäufnis zu veranstalten?«, fragte er mürrisch (vermutlich, weil er sich noch gut daran erinnerte, dass ich ihn wegen seines »hageren Pickelgesichts« von Koflers angeblich empfindsamer Ästhetenseele hatte fernhalten wollen).
Ich griff in die Jackentasche und drückte ihm einen zerknüllten Fünfzig-Mark-Schein in die Hand, wobei mir die Nachricht aus dem L.D.A. zwischen die Finger geriet. Als Kruschinsky im Fahrstuhl war, hielt ich den Zettel dicht vor die Augen, denn meine Hand zitterte, zitterte wie Koflers Fingerspitzen. Ich hatte Mühe, den schwimmenden Buchstaben zu folgen. Der Text kündigte an, dass ein Kurier aus Ost-Berlin mit neuen Nachrichten herüberkommen würde.
Was mich schon beim ersten Lesen stutzig gemacht hatte, war, dass man dafür einen Kurier benötigte …
Ich trat ans Fenster und sah hinunter. Das Licht innerhalb der Grenzbefestigungen erschien so bühnenhaft unwirklich wie immer; von den Masten der Bogenlampen ausgehend, beleuchtete es scharf und abgezirkelt den Todesstreifen bis hin zu den beiden Reihen Stacheldrahtzaun, zwischen denen sich eine vierfache Barriere aus spanischen Reitern erstreckte.
Das Gelände dahinter war unbeleuchtet. Erst ein gutes Stück weiter – jenseits der wie düstere Mahnmale aufragenden Fabrikgemäuer und leerstehenden Wohnhäuser – zeigte sich Licht in einzelnen Fenstern, wie kleine Inseln der Wärme.
Mit dem Nachtglas suchte ich die Hauswand in der Roßstraße ab. Eine schmale Straße, fast eine Gasse, zog diagonal und schwach beleuchtet, aber völlig menschenleer, durch mein Gesichtsfeld. Zwischen den Dachausschnitten und Hauswänden war der Gehsteig zu erkennen. Der Hauseingang lag im Schatten. Ich presste das Glas gegen die Scheibe, um nicht zu wackeln.
Das Dachfenster drüben sah aus wie gewöhnlich. Keine Spur einer Veränderung.
Ich musterte die künstlich eingespiegelte Gardine mit dem geblümten Schirm der Wohnzimmerlampe dahinter, die anheimelndes Licht verbreitete, und mit einem Male befiel mich bleierne Müdigkeit …
Es war nicht der Alkohol: Ich fühlte mich alt und ausgelaugt; ich ahnte, dass alles nur Fassade war und dass man nie zum eigentlichen Kern der Dinge vordringen würde – Augenschein, Fassade, Theater-Kulisse wie dieses Fenster oder der Todesstreifen dort unten, der Angst und Unsicherheit maskierte, Misstrauen und Argwohn.
Der Prophet des Dritten Weges würde sterben, weil es das große Marionettentheater so verlangte – nicht etwa ein Stück, das die Herren rechts und links des Eisernen Vorhangs inszeniert hatten (man hätte es vielleicht durchschauen können), ja nicht einmal Gott oder der Teufel, sondern der blindwütige Zufall, dessen Fäden nicht weniger unentrinnbar zogen. Es gab nirgends einen überzeugenden Beweis dafür, dass die Freiheit, die einem das Bewusstsein vorgaukelte, wirklich war (aber es sprach alles für eine Illusion, und dass etwas anderes unsere Gedanken und Willensimpulse so genau bestimmte wie den Blitz, die Wolken und den Regen). Darum erschien mir der Kampf um Ideologien sinnlos.
Wenn es etwas gab, das mich gleichgültig ließ, dann war es der Glaube an Ideologien: Von dieser Seite gab es keine Hoffnung.
Gewöhnlicher Defätismus oder Fatalismus resigniert vor der Übermacht der Mächtigen; ich sah zwar diesen Einfluss auch, aber die Mächtigen selbst waren nicht weniger Sklaven einer noch gewaltigeren, blinden Naturmacht.
Mir war es immer lächerlich erschienen, zu glauben, dass, als mein Vater und meine Mutter durch einen geplatzten Vorderreifen starben, dies nur der Nachlässigkeit des Tankwarts zuzuschreiben war, der den Riss im Gummi hätte entdecken können. Sondern der beschädigte Reifen und die Gleichgültigkeit des Tankwarts hatten gute Gründe, und das Ergebnis musste wiederum zu unausweichlichen Konsequenzen führen – nämlich genau zu jenen, die mir dann tatsächlich zu schaffen machten.
Ich verstand nicht, wieso ein scharsinniger Mensch wie Kofler das übersehen haben konnte und woher er seine Zuversicht nahm.
Ich war davon überzeugt, dass ich diese Arbeit tat, weil ich sonst in der Gosse verkommen wäre. Ich hatte mich auf das Machbare verlegt. Dass ich mich darum bemühte, den jeweiligen Schuldigen zu finden, war dem gleichen elementaren Bedürfnis zuzuschreiben – weil es nämlich ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend verursachte und die Wespen und Hummeln in meinem Schädel zu summen begannen, wenn ich einen Unschuldigen ans Messer lieferte!
Kofler dagegen berief sich auf die Freiheit. Und er setzte auf Ideale – angesichts der Realitäten ein absurdes Bemühen (oder lag der wirkliche, der »bessere« Realismus etwa darin, das Unmögliche zu fordern?). Also stellte ich das Nachtglas auf den Tisch zurück und ging hinein, um seine Meinung darüber zu hören.
Er brauchte eine Weile, bis er meine Fragen ernst nahm. Wir waren beide ziemlich angesäuselt.
»Sie sind ein merkwürdiger Kerl«, lachte er. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Oder ist das wirklich Ihre Überzeugung? Glauben Sie denn, mit dem Unsinn leben zu können?«
Er machte eine Pause und fuhr dann fort:
»Selbst wenn es wahr wäre, wir dürften es nicht glauben … Wir müssten handeln, als sei es nicht wahr. Glücklicherweise sind das unlösbare Fragen und in der Praxis entscheiden wir immer so, als seien sie nicht gestellt. Wir sind frei. Was uns fehlt, ist Vertrauen und guter Wille.«
Kruschinsky brachte zwei Flaschen Wein und ein leeres Glas mit, als er hereinkam. Er setzte sich an den Tisch und hörte zu. Sein Mund war halb geöffnet; die Augen in seinem blassen Pickelgesicht rollten fragend hin und her – als versuchte er mit Blicken zu ergründen, welche unerhörte Veränderung vorgegangen war, die aus einem verdächtigen Subjekt einen harmlosen Zechkumpanen werden ließ.
»Selbst wenn es diese Unfreiheit gäbe«, fuhr Kofler fort, » – als Staatsanwalt hätten Sie schon lange vor dem Fall Pysik die Konsequenzen daraus ziehen müssen. Denn wo keine Freiheit ist, da gibt es auch keine echte Schuld. Unser Gewissen ist dann nur eine Laune der Natur. Es gilt das Verursacherprinzip. Verursacher werden wie Irrläufer aus dem Verkehr gezogen.
Die Welt ginge vor die Hunde, wenn wir das glauben wollten«, erklärte er und nahm einen tiefen Schluck. »Nein, nein, an der Freiheit des Individuums halten wir fest, hüben wie drüben, drinnen wie draußen. Ich meine die innere und die äußere Freiheit. Auch wenn Ihre Art von Defätismus – mit der einen oder anderen Begründung – unter der Jugend weit verbreitet ist und die äußere Freiheit im Osten tausendmal verraten wird. – Eine andere Frage: Wie lange wollen Sie mich noch hier festhalten?«
»In drei oder vier Tagen wird unsere Arbeit erledigt sein«, erwiderte ich. »Dann dürfte der Abwehrdienst seinen Auftrag erfüllt haben.«
»Tja, Sie haben den Kode der Fahrstuhltür ausgetauscht, nehme ich an? Was bleibt mir also anderes übrig?«, lachte er. »Übrigens werde ich mich dann in der Nähe von Köln niederlassen. Man hat mir ein Haus angeboten. Ein gutes Stück von hier entfernt – aber wenn Sie sich mal in der Gegend aufhalten …? Sie beide, meine ich.«
»Wir werden kommen«, sagte ich.
»Das Haus ist zwar schon alt und ein wenig baufällig, aber es liegt weit außerhalb der Stadt im Grünen. Die passende Einsiedelei, um einigen versponnenen Ideen nachzugehen. Ich hoffe, dass meine beiden Töchter demnächst entlassen werden und eine Ausreisegenehmigung erhalten.«
»Man wird Ihnen dort keine Ruhe lassen.«
»Das ist der Punkt, um den ich Sie noch bitten möchte! Ich will vermeiden, dass mein Name mit dieser Bewegung identifiziert wird – nicht eher, als bis man hört, was ich zu sagen habe. Ich beabsichtige weder Reden zu halten noch Interviews zu geben.«
Wir leerten die beiden Flaschen. Kruschinsky vertrug noch weniger als ich. Nach ein paar Gläsern rötete sich sein Gesicht, und seine Augen bekamen einen traurigen Glanz.
Er legte den Arm um Koflers Schultern. »Keine Interviews, keine Reden …«‚ bestätigte er mit schwerer Zunge. »Und wir besuchen Sie – Ehrenwort!«
Er fummelte in den Taschen nach einem Zettel, um sich die Adresse zu notieren.
Kofler Durchhaltevermögen dagegen war ausgezeichnet. Von einer gewissen Menge an schien der Alkohol seine Wirkung auf ihn zu verlieren. Vermutlich, weil er es wie seine Landsleute gewohnt war, den Wodka aus Wassergläsern zu trinken. Er griff in das Regal hinter sich und reichte mir einige Blätter aus seinem Manuskript.
»Ich gehe hier detaillierter auf die Theorie des guten Willens ein und zeige, wie in Behörden – sagen wir, im Rat des Kreises drüben – der tägliche gute Wille zu schnellerer Bearbeitung von Visaanträgen führt; wie der Schuss des Grenzsoldaten in die Luft geht; wie der radikale Gewerkschafter im Osten durch guten Willen die Gefährdung der Liberalisierung unterbindet; wie der Chemiefabrikant im Westen den Tod einer ganzen Flussfauna für ein neues Werk durch den Verzicht auf Dividenden verhindert; wie der Bauer den unkontrollierten Gebrauch von Hormonen und Antibiotika um einiger zusätzlicher Kilo Fleisch willen unterlässt; wie der frustrierte Arbeitslose darauf verzichtet, Parkbänke in den Teich zu werfen, der unzufriedene Jugendliche, in den Telefonzellen Hörer abzureißen; wie der Eifersüchtige seine Eifersucht, der Unduldsame seine Unduldsamkeit bezwingt; wie der marxistische Theoretiker seine Überzeugungen in Frage stellt und nicht jeden Andersgläubigen zum Irrsinnigen erklärt und ihn in Arbeitslager oder psychiatrische Kliniken steckt, wenn er seiner habhaft werden kann; wie der Präsident nicht aus kostbarem Porzellan isst, solange unter seiner Regierung Menschen verhungern; und dass die Abrüstungsgespräche schließlich gelingen – ich rede nicht von einseitiger Abrüstung –, weil eine Seite zur Vorgabe von mehr Vertrauen bereit ist.
Solche Appelle an die Freiheit sind blauäugig, ja lächerlich – kein Zweifel. Und sie sind wirkungslos. Sie sind immer lächerlich und wirkungslos, wenn nur ein Einzelner sie ausspricht. Aber lassen Sie es uns zu einem alltäglichen Gedanken, einer konkreten Forderung machen – und auch zu einem Ruf in den Schulen.
Lassen Sie uns von Kindheit an das phantastische Bild einer Welt malen, die von diesem Willen geprägt ist. Lassen Sie es uns im täglichen Gespräch erneuern, in Briefen, Büchern, im Rundfunk, in Theaterstücken und Zeitungen. Was genau hindert uns eigentlich daran? Lassen Sie uns die direkte Frage stellen, was uns jetzt und in diesem Augenblick daran hindert! Trägheit? Scham? Misstrauen? Oder Skepsis? – Welches Gewicht haben solche Bedenken gegenüber den Gefahren, die uns in der nuklearen Aufrüstung, der Konfrontation der Ideologien und Machtblöcke, der Gewissenlosigkeit des Einzelnen und der ökologischen Katastrophe drohen?«
Er war aufgestanden und beugte sich über den Tisch. Eine tiefe Falte hatte sich an seinem Nasenbein gebildet, das schüttere Haar hing ihm wirr ins Gesicht. Sein magerer Körper beschrieb einen Bögen, in dessen Hohlseite sich der Schlag des Herzens abzeichnete – oder war das nur Einbildung? Die aufgestützten Arme zitterten unter seinem Körpergewicht.
Ich ahnte plötzlich, was ihn in F.s Augen – und in denen seiner mutmaßlichen Hintermänner – vielleicht unerträglicher und gefährlicher erscheinen ließ als die Annahme, er sei ein Agent des Ostens:
Nicht vor der Radikalität der Bewegung, dem Komplott und dem Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit, in dem sie stand, fürchtete man sich; sondern davor, dass eine Welle des guten Willens das überkommene und wohlgeordnete Parteien- und Machtgefüge zu unwillkommenen Änderungen nötigen würde. Schon die kleinste Veränderung in diese Richtung fürchtete man, gleich welcher Art …
»Es kann darauf nur eine Antwort geben«, fuhr Kofler‘ fort, noch immer stehend.
»Setzen Sie sich wieder«, meinte Kruschinsky. »Wir sind alle ein wenig betrunken. Zu betrunken, um das jetzt zu klären. Aber wahrscheinlich haben Sie recht.«
Er drehte mir das Gesicht zu und tippte sich unauffällig an die Stirn. Dabei streifte er eine der beiden Flaschen mit dem Arm, sie fiel um und rollte über die Tischplatte. »Leer«, stellte er achselzuckend fest. »Beide leer.«
»Ich werde hinunterfahren und sehen, ob ich noch etwas auftreiben kann«, sagte ich.
»Ausgezeichnete Idee«, nickte Kofler.
Ich nahm meinen Mantel aus dem Schrank und ging zum Fahrstuhl. Ich hatte das Bedürfnis nach frischer Luft.
Niemand ist in der Lage, so zu schauspielern, dachte ich, während ich hinunterfuhr. Nicht mal der beste Schauspieler der Welt. Es sei denn, er hätte begonnen, seine Rolle zu leben.
Ich schaltete das Minutenlicht in der Tiefgarage ein, ehe ich die Tür öffnete. Es gab dafür im Fahrstuhl einen Extraschalter. Obwohl ich angeschlagen war, bemühte ich mich, so vorsichtig zu sein wie immer.
Erst als ich mich davon überzeugt hatte, dass niemand in den parkenden Wagen saß, betrat ich die Halle. Auf halbem Wege verlöschte das Licht. Nur die grüne Notausgangsbeleuchtung blieb an.
Draußen war es angenehm kühl. Ich sog die frische Luft ein. Die Schatten der Ruine am Ende des Hofs erreichten kurz meine Schuhspitzen, als ein Autoscheinwerfer das Gebäude aus der Parallelstraße anstrahlte, vermutlich kam er von der schrägen Zufahrt einer anderen Tiefgarage.
Vertrauen – war das nur ein Wort? Oder doch mehr? Hatte ich mich nicht längst auf seine Seite geschlagen? Überzeugte er mich nicht insgeheim? Irgend etwas war an seinen Reden, das mich beeindruckte.
Und trotzdem blieb es das lächerliche Gerede eines alten Mannes, der scheitern würde …
Ich ging durch die Einfahrt und dann ein Stück die Straße entlang. Als ich um die Ecke bog, stoppte dicht neben mir am Bordstein ein kleiner blauer Wagen.
Die Scheibe des Beifahrersitzes wurde heruntergekurbelt. Barbara beugte den Kopf hinüber und sah mich an.
»Sie?«, fragte ich.
»Na, ich bin nicht weniger überrascht. Was treiben Sie in dieser elenden Gegend? Wohnen Sie etwa hier?«
»In der Nähe, ja.«
»Wissen Sie, ich hab‘s mir überlegt, vielleicht sollten Sie mir doch erzählen, was Sie auf dem Herzen haben. Wir könnten uns übermorgen Abend treffen – um sieben an der U-Bahn-Station Zoologischer Garten?«
»Einverstanden«, nickte ich.
»Jetzt muss ich schleunigst weiter. Ach richtig … eh ich‘s vergesse, die Papiere! Ich habe Ihnen einige Kopien mitgebracht. Natürlich wird mein Vater fuchsteufelswild werden, wenn er davon erfährt. Aber ich denke, Sie werden es ihm nicht auf die Nase binden?«
»Warum sollte ich.«
Sie griff auf den Rücksitz und reichte mir einige Blätter. »Technischer Kram. Von Ihnen abgezeichnet. Sie müßten‘s ja ohnehin kennen. Deshalb kann es wohl kein Geheimnisverrat sein?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Na, jedenfalls hab‘ ich Ihnen den Gefallen getan – wenn ich auch nicht ganz begreife, was Sie damit im Schilde führen. Sie können‘s mir übermorgen erzählen. Dann alles Gute.«
Sie winkte kurz mit der Hand, kurbelte die Scheibe hinauf und startete. Ich sah den Rückleuchten des kleinen Wagens nach. Dann steckte ich die Papiere ein und ging die Straße entlang bis zur Trinkhalle. Doch sie hatte um diese Zeit nicht mehr geöffnet, das Gitter war heruntergelassen.
Ich besorgte die beiden Flaschen Wein in einer Kneipe, die ich von früher her kannte, sie lag zwei Straßenzüge weiter. Ich ließ mir eine Tragetasche geben, um sie nicht in der Hand halten zu müssen. Es war billiger Weißwein, aber er kostete so viel wie eine gute Auslese. In der Wohnung hielt ich die Kopien unter die Lampe und warf einen Blick auf ihre Signaturen; sie waren mit einem C abgezeichnet. Es sah meinem eigenen ähnlich – doch ich hatte die Papiere nie zuvor gesehen.
Wir leerten eine der beiden Flaschen, dann entschuldigte ich mich. Ich war hundemüde, und F. würde mich in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett holen, um mich mit Koflers Bewegung in Frankfurt und Bochum bekannt zu machen (Kruschinsky begann gerade, sich mürrisch darüber zu verbreiten, dass die Abteilung ihn nicht nur für die Bedienung und Wartung des L.D.A. einsetzte, sondern auch zum Kochen und Reinemachen; in nüchternem Kopf hatte er noch nichts davon verlauten lassen).
Ich war schon an der Zimmertür, als er mir nachkam.
»Der Kode in Ihrem Notizbuch«, begann er achselzuckend. »Leider ist er kniffliger, als ich angenommen hätte. Was halten Sie davon, wenn … ich meine: Kofler hatte doch einen Lehrstuhl für Kriminologie, oder? Natürlich weiß ich nicht, ob er sich damit befasst hat – aber es würde mich wirklich interessieren, welches System dahintersteckt.«
Er blickte mich so arglos aus seinen wasserhellen norddeutschen Augen an, dass mir keine passende Antwort darauf einfiel. Natürlich war es leichtsinnig. »Meinetwegen«, nickte ich. »Zeigen Sie ihm nur die beiden ersten Seiten, damit er nicht gleich den ganzen Zusammenhang erfährt.
Schließlich gehört er ja jetzt so gut wie zur Familie«, sagte ich, bevor ich die Tür schloss.
»Dann gute Nacht«, murmelte er mir nach.
Nachdem ich mich aufs Bett gesetzt hatte, sah ich mir die Papiere noch einmal genauer an. Meine Gedanken schweiften öfter ab und ich dachte mehr an F.s Reaktion auf das Ergebnis meiner Untersuchung und die Fahrt, als an das Notizbuch und die Signaturen. Ich musste mich zwingen, den Text zu verstehen.
Das eine Blatt war die kleingedruckte technische Beschreibung einer Art Schusswaffe (die Buchstaben flimmerten mir vor den Augen). Rohr und Griff ähnelten einer Panzerfaust. Ebenso die Handhabung. Man legte sich das Rohr über die Schulter. Der Rohrdurchmesser war jedoch kleiner als der einer Panzer-Abwehrwaffe. Auf dem Rohr befand sich ein Zielfernrohr. Zwei Zeichnungen illustrierten, wie das Gerät getragen und in Anschlag gebracht wurde. Irgendeine Neuheit nach Maschinengewehren, Granatwerfern, Geschützen, Handgranaten usw., für die das Militär in aller Welt täglich 1,3 Milliarden Mark ausgab, glaubte ich zunächst (ich hatte kein Verhältnis zu Waffen; wenn ich an Pysiks Schwarzpulverwaffe dachte, dann höchstens ein negatives).
Denn soviel kostete den Menschen seine Aggressivität allein im Rüstungsbereich, würde Kofler bemerkt haben. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckte ich, dass es sich kaum in die bekannten Waffenkategorien einordnen ließ: Es verschoss Gummibälle … Tennisartige Gummikugeln mit »extremweicher Hülle und federnd-hartem Kern«, wie es in der Beschreibung hieß. Ich wurde plötzlich hellwach und las den Text zweimal, um herauszufinden, wozu man Gummibälle mit »extrem weicher Hülle« verschoss.
Aber der Zweck war mysteriös; darüber wurde nichts gesagt. Man versicherte lediglich, dass ein Mensch, dem man damit in den Rücken schoss, keine Verwundung davontragen würde – von einer leichten Prellung abgesehen.
Als idealer Auftreffpunkt war der Wirbelsäulenansatz über der Hüfte angegeben. Wenn das Opfer ging, wurde es etwa drei Meter fünfzig in die Richtung seiner Schritte geworfen. Stand es, so waren es nur zwei bis zweieinhalb Meter. Der Zweck schien für Eingeweihte offenbar selbstverständlich zu sein. Um eine Polizeiwaffe für Straßenschlachten oder ausartende Demonstrationen handelte es sich wohl kaum, denn in einer Menschenmenge würde der Ball nach dem Aufprall unkontrolliert durch die Gegend hüpfen; außerdem war der Schlag auch nicht schmerzhaft genug.
Das andere Blatt schilderte die technischen Finessen einer »Eisspitzen-Pistole«, die mit Druckluft arbeitete: gefrorenes Gift wurde in den Körper des Opfers geschossen (etwa so, wie sich Klein Erna die Arbeit eines Geheimdienst-Killers vorstellte) – der winzige Einstich und Schmerz war dem einer Spritze vergleichbar.
Wenn die Eisnadel auftaute, was wegen der Körperwärme innerhalb weniger Sekunden geschah, begann das Mittel zu wirken. Im Gedränge einer Menschenansammlung oder bei schneller Bewegung – etwa während eines Trimmlaufs – wurde der Einstich unter Umständen gar nicht bemerkt. Ich hielt es für unwahrscheinlich, dass F.s Leute damit arbeiteten,
denn Gift ließ sich schließlich bei einer Obduktion nachweisen. Das Prinzip war seit langem bekannt. Lediglich die technische Ausführung wies einige Neuerungen und Feinheiten auf. Der »freiwillige« Sprung des Bulgaren von der Mauer in den Kugelhagel der Grenzsoldaten deutete eher darauf hin, dass F. auf derart plumpe Mittel verzichtete, weil er längst über geeignetere Methoden verfügte. Die Gummiball-Waffe dagegen war eine Neuheit für mich; allerdings blieb ihr genauer Zweck mir nach wie vor unklar.
Ich verglich die Signaturen ein zweites Mal. Dass ich die Papiere nicht unterzeichnet hatte, war sicher (was immer das bedeuten mochte – denn je länger ich darüber nachdachte, desto ungewisser schien mir, dass es überhaupt etwas Sicheres gab: womöglich war das, was ich unter dem Einfluss des Amphetons erlebte, die »wahre Realität«).
Ein C besteht gewöhnlich aus nicht viel mehr als einem Bogen – die Variationsmöglichkeiten sind nicht sehr groß. Es konnte sich durchaus um das C für »Chef« und nicht für »Cordes« handeln, die Übereinstimmung war dann bloß zufällig. Solche Zufälle sind geeignet, dem Verfolgungswahn, der die beinahe zwangsläufige Form des Gewerbes ist, ständig neue Nahrung zu geben: Man reimt sich aus Ahnungen und Andeutungen etwas zusammen (wohl auch aus dem, was man gesehen haben will); der christliche Glaube, wir hätten vor der Vertreibung aus dem Paradies »vom Baume der Erkenntnis« gegessen, entpuppt sich so als lächerliche Übertreibung.
Jedenfalls war es kein Beweis – allenfalls ein Hinweis, ein weiteres Indiz dafür, dass hinter der Chef-Geschichte mehr stecken konnte als nur das Gerede der Mädchen. Meine regulären Berichte unterschrieb ich mit vollem Namen.
Nachdem ich die Blätter in den Ascher gelegt hatte, der neben dem Bett auf der Konsole stand, zündete ich sie an und beobachtete, wie die bläuliche Flamme sich züngelnd in sie hineinfraß. Chemischer Geruch alten Kopierpapiers der ersten Generation stieg auf. In dieser Beziehung war die Organisation rückständig wie eine überalterte Firma:
Man investierte lieber in »Eisspitzen-Pistolen« als in neue Kopierautomaten.
Ich zerdrückte die Aschenreste mit dem Feuerzeug; dann drehte ich das Licht aus und legte mich auf die Seite.
Eine schwere Hand ergriff meine Schulter und rüttelte mich wach (aber irgend etwas – vermutlich das vertraute Ego – hatte wenig Bedürfnis, in die Wirklichkeit zurückzukehren).
»Schlafen Sie immer in Schuhen, Cordes …?«, erkundigte sich F.s dröhnende Stimme; seine wimpernlosen Augen waren dicht über mir (und sein Kehlkopf schien mitten in meinem Gehörgang zu sitzen).
Ich sah in das teigige, merkwürdig konturlose Gesicht und kam mir plötzlich vor wie ein Säugling, der hilflos im Wägelchen liegt und vor dem Anblick eines Fremden erschrickt – wie vor jemandem, der nicht Vater oder Mutter ist und der daher »böse« sein muss. Ja, es war die Physiognomie des Bösen. In der Beziehung würde es keine Überraschung mehr geben, das war mir schon lange klar. Keine Allegorie mit Hörnern und Pferdefuß, auch kein ausgehöhlter Totenschädel, sondern die leibhaftige Gestalt der Konturlosigkeit (denn das Gute ist entschieden und hat Profil, würde Kofler gesagt haben).
»Was, zum Teufel, ist los mit Ihnen?«, fragte er. »Warum starren Sie mich so an? … Haben Sie wieder dieses verdammte Zeug geschluckt?«
»Es ist bloß der Kater«, sagte ich und richtete mich auf.
Er hielt mir einen braunen Umschlag unter die Nase. »Schauen Sie sich das an. Es wird Ihre Kopfschmerzen noch verstärken«, meinte er ironisch.
»Was ist das?«
»Es sind Fotos, die unser Kurier aus Ost-Berlin herübergebracht hat. Sie wurden mit dem Teleobjektiv vom Dach eines Hochhauses in Budapest aufgenommen – drei Personen, durch ein Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes fotografiert: Kofler in einträchtigem Gespräch mit den Spitzen des Ostberliner Ministeriums für Staatssicherheit, Wholff und Achenbach … Wir haben lange auf diese Bilder gewartet«, erklärte er genüsslich lächelnd. »Unser Mann in Budapest musste leider für eine Weile untertauchen. Die Fahrt nach Frankfurt und Bochum dürfte sich unter diesen Umständen eigentlich erübrigen – aber ich schlag vor, dass Sie sich wenigstens die Bochumer ansehen – eine besonders radikale Gruppe –‚ damit Sie eine Vorstellung davon bekommen, um weiche Sorte von linken Fanatikern es sich handelt.«
Ich nahm die Hochglanzfotos heraus und sah sie mir an. Sie waren makellos wie Studioaufnahmen, weder grobkörnig noch verschwommen oder mit zuviel Schattenpartien, und die beiden Männer, mit denen Kofler an einem Tisch nahe beim Fenster verhandelte, waren zweifellos Wholff und Achenbach. Es gab nur wenige Fotos von Wholff, und diese hier hatten geradezu das Format von Steckbrieffotos: Sie zeigten ihn von vorn und halbschräg von der Seite. Er trug die eckige schwarze Hornbrille, die wir seit Jahren an ihm kannten. Ich erinnerte mich auch, dass F. gelegentlich einen ungarischen Agenten erwähnt hatte, der entweder untergetaucht oder ins gegnerische Lager übergewechselt war.
»Dort in Budapest – aber fragen Sie mich nicht, weshalb gerade da: vielleicht ergab es sich so, vielleicht sahen sie es auch als sicherer an; jedenfalls war Kofler mehrmals in Ungarn – scheinen sie den Plan ausgeheckt zu haben.«
Ich zuckte die Achseln und schob die Bilder in den Umschlag zurück. F. setzte sich auf den Stuhl in der Ecke und beobachtete mich beim Waschen und Rasieren. Er saß steif und aufrecht da, mit gefalteten Händen (wenn sich unsere Blicke im Spiegel begegneten, wich ich ihm aus – so, als gehe mich das Ganze nichts an. Ich war sicher, welche Frage er als nächste stellen würde).
»Wie steht‘s mit Ihren Ermittlungen?«, erkundigte er sich nach einer Weile. »Schuldig – oder nicht?«
»Mit der neuen Lage muss ich mich erst vertraut machen«, sagte ich ausweichend. »Ich möchte niemanden in den Todschicken, für dessen Schuld zwar der äußere Anschein spricht, aber kein stringenter Beweis.«
»Stringenter Beweis, stringenter Beweis …«‚ wiederholte er abfällig. »Was ist das?«
»Es reicht keinesfalls für eine Verurteilung vor Gericht. Insofern stimme ich Ihnen zu.«
»Na also.«
»Und es rechtfertigt auch keinen Mord.« »Er hat Sie eingewickelt, habe ich recht?«
»Das würde ich nicht so sehen.«
»Sie werden uns doch diesmal keinen Ärger machen?«, fragte er.
»Ich erledige meine Arbeit – wie immer.«
»Das ist gut so«, nickte er. »Die Fotos sprechen eine deutliche Sprache. Ich glaube, Menschen gleichen Briefbomben: Man weiß erst, was in ihnen steckt, wenn sie bereits explodiert sind … Und die sogenannten stringenten Beweise – mein lieber Cordes, Sie sollten es als das nehmen, was es ist: eine Erfindung der Wissenschaftler und Philosophen, die ihnen ihre Art von Existenzberechtigung verschafft, weil niemand sonst ihre ‘Wahrheiten’ entziffern kann.
In der Praxis taugen sie jedenfalls so wenig wie logistische Kalküle für das Denken.
Wie gesagt, wir haben die Fotos! Hinzu kommen mehrere gewichtige Verdachtsmomente: Koflers Aufenthalt in Ost-Berlin, die möglicherweise durch ihn verratene Dissidentenliste, ein Fernsehinterview, das menschlich gesehen unter sehr bedenklichen Umständen zustande kam, seine angeblich versehentlich in den Westen geschleusten orthodox-marxistischen ‘Jugendansichten’ – und nicht zuletzt die Ankündigung des Leipziger Rings.
Im Übrigen arbeitet man seit langem daran, das Parteiengefüge in unserem Lande durch die Einschleusung geeigneter Persönlichkeiten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Wir haben Agenten wegen geringerer Indizien ums Leben gebracht … Herrgott, Cordes, Sie haben sich ja geschnitten«, stellte er fest.
Ich sah in den Spiegel: Eine feine Blutspur lief über meine Wange. Das Rasiermesser in meiner Hand zitterte (ich hatte den Schmerz nicht bemerkt). Ich wischte das Blut und den Seifenschaum ab, zog mir das Hemd an, knöpfte es sehr langsam zu, wobei ich ihm in die Augen sah, und sagte:
»Die Mädchen in der Abteilung munkeln, ich sei der Chef …«
Kein Regung veränderte sein Gesicht. Ein derartig konturloses Gesicht bringt man nicht aus der Ruhe; es verändert sich nicht unter dem Eindruck lang erwarteter Fragen – nicht, wenn es sich entsprechend darauf vorbereitet hat. »Wer?«, fragte er.
»Die Mädchen.«
»Halten Sie für den Chef?« Er zupfte an seiner Unterlippe. »Warum sollten sie das? – Eine merkwürdige Vorstellung. Ich meine – dass man Sie für den Chef halten könnte!«, sagte er und lachte plötzlich dröhnend. »Na, ich werd‘s ihnen austreiben, falls Sie das beruhigt.«
»Nennen Sie mir irgendeinen Namen«, bat ich.
Er überlegte eine Weile. »Wozu?«, fragte er dann mit hochgezogenen Brauen.
»Aus blankem Interesse.«
»Sie meinen, wer den Westberliner Laden unter sich hat?«
Ich nickte.
»Ich dachte, das wüssten Sie?« (Es klang wie eine Frage, aber es war keine.)
»Nein, ich habe mich nie um die Hierarchie der Organisation gekümmert. Als Sie mich von der Straße holten, nahm ich den Job, den Sie mir anboten. Ich stellte keine Fragen – außerdem wissen Sie so gut wie ich, dass Fragen dieser Art nicht beantwortet werden. Die Oberen fürchten eher um ihren Kopf als das Fußvolk. Jeder kennt nur seinen nächsten Vorgesetzten – ein ausgezeichneter Nährboden für Gerüchte.«
»Nun, wenn Ihnen soviel daran liegt …«‚ erklärte er mit wegwerfender Handbewegung, »der Mann heißt Holt, und er läßt unserer Abteilung freie Hand; man kann nicht sagen, dass er sich viel um den Laden kümmert. Im Grunde arbeiten wir eigenverantwortlich – und Sie wissen selbstverständlich, dass ich es bin, der hier das Sagen hat. Man gibt lediglich Direktiven. Von den Drecksarbeiten will man nichts hören. Holt ist für uns eine Randfigur. So. unbedeutend wie die übrige Führungsspitze. Er schlägt sich mit anderen Problemen herum: Rechtfertigung gegenüber der Regierung, Information, Pressearbeit, Image, allgemeine Richtlinien, Beschaffung und Zuteilung des Etats, Ernennung von Gebietsleitern …«
»Und ernennt die Chefs der Abteilungen?«
»Gelegentlich, ja. Er kann sich nicht um alles kümmern.«
»Wer dann?«
»Herrgott noch mal, Cordes – Sie wollen doch wohl nicht, dass ich Sie über Details der Verfahrensweise informiere. Demnächst verlangen Sie noch Einblick in die Personalakten von mir … Holt ist eine Randfigur«, wiederholte er. »Und das ist gut so. Auf diese Weise richtet er keinen Schaden an. Man überlässt die schwierigen Aufgaben besser den Praktikern. In der Führungsspitze weiß man, wie heikel unsere Arbeit ist. Beantwortet das Ihre Fragen?«
»Zum Teil, ja.«
»Na fein. Mir liegt daran, klare Verhältnisse zu schaffen. Vertrauensverhältnisse. Holt ist eine Null. Ich schmeiße hier den Laden. Und jetzt ziehen Sie Ihre Jacke an, damit wir losfahren können.« Er fächelte sich mit dem Umschlag Wind zu, als sei er ins Schwitzen gekommen. Ich zog mich an, und wir fuhren hinunter in die Tiefgarage. Zwischen den Pfeilern parkte ein uralter schwarzer Opel. »Wenn nicht Kofler, wer dann?«, fragte er, während er sich hinters Steuer setzte. »Etwa Amrouche?«
»Es sollte kein Kriterium für einen Schuldspruch sein, dass uns der wirklich Verdächtige fehlt.«
Wir fuhren die Ausfahrt hinauf.
»Lassen Sie das gestelzte Gerede«, erwiderte er gereizt. »Vermeiden Sie alles, was nach Staatsanwalt klingt. Sie wissen, dass wir hier mit Instinkt und Gespür zu Werke gehen.
Der Mann ist schuldig. Man schleust ihn ein, weil er uns gefährlich werden kann – weil Persönlichkeiten wie er in der Lage sind, das Parteiengefüge auf den Kopf zu stellen.
Denken Sie nur daran, welche Folgen es haben könnte, wenn seine Bewegung bei den nächsten Wahlen eine koalitionsfähige Mehrheit erreicht – das Zünglein an der Waage, sie verstehen? Mit ihm als Galionsfigur keine ganz unrealistische Annahme. Jugendliche Heißsporne, Radikale an den Universitäten, marxistische Gruppen, Jungwähler – alle vereint unter dem Banner seiner verheißungsvollen Sprüche vom ‘Dritten Weg’.
Solche Personen, ob Künstler, Wissenschaftler oder Schriftsteller, profitieren allein schon von dem erhöhten Aufmerksamkeitsbonus, den ihnen die Öffentlichkeit im Westen als Ausgebürgerte zubilligt – natürlich dienen sie in gewisser Weise als Vehikel antikommunistischer Propaganda, als der lebende Beweis für das Versagen des Systems drüben. Jeder schwer arbeitende, aber unbekannte westliche Politiker würde sich nach dem Bekanntheitsgrad, der ihnen als Gratiszugabe in den Schoß fällt, die Finger lecken. Das macht sie gefährlich. Es ist eine Voraussetzung für ihren Erfolg. Hinzu kommt, dass Kofler es geschickt versteht, sich sowohl als Taube wie als Falke zu gebärden: Er verkündet Frieden, Toleranz, guten Willen, läßt aber genügend Raum für radikale Interpretationen – die Handschrift Wholffs und Achenbachs, wenn Sie mich fragen.«
Wir fuhren durch das westliche Stadtgebiet und bogen am Dreieck Funkturm auf den Avus in Richtung DDR-Kontrollpunkt Drewitz ein. Es war ein sonniger Morgen. Das schwarze Gefährt schaukelte gemächlich durch die Landschaft; zu beiden Seiten der Straße lag Wald. Trotz der frühen Morgenstunde ging bereits starker Verkehr zur Transitstrecke. F. steuerte den Wagen mit weit zurückgestelltem Sitz und ausgestreckten Annen – nach Art eines alten Herrenfahrers.
Dass er kein Liedchen pfiff und seinen Schal durch das heruntergekurbelte Fenster wehen ließ, machte die Angelegenheit irgendwie unvollständig. Ich fragte mich, warum er ein derart auffälliges altes Automobil gewählt hatte …
Wir fuhren an der Ausfahrt Nikolassee vorbei, als F. ins Handschuhfach griff, zwei BRD-Pässe herausnahm und mir einen davon reichte.
»Ihr Name ist Horst«, sagte er, »Albert Horst. Wir waren zu den Zweitliga-Meisterschaften im Schwimmstadion Charlottenburg. Merken Sie sich die Daten. Hinten im Pass ist eine Hotelrechnung.«
»Wer hat gewonnen?«, fragte ich.
»Seien Sie nicht albern …«
Wie fast immer, wenn ich als Beifahrer im Wagen saß, machte mich das Donnern der ausscherenden und überholenden Lastzüge nervös (F. fuhr ungewöhnlich langsam und äußerst rechts – der übliche Trick, um eventuelle Verfolger zu entlarven, die dann ebenfalls langsamer fahren mussten). Außerdem verspürte ich einen ziehenden Kopfschmerz, der vermutlich von den verschiedenen Sorten Weißwein herrührte, die ich am Vorabend getrunken hatte. Ich zuckte die Achseln und suchte in den Jackentaschen nach der Packung Ampheton-Kapseln. Ich drückte eine davon aus der Folie.
»Nicht jetzt«, sagte F. und schlug mir die Packung aus der Hand. Sie fiel auf die Fußmatte zwischen Schalthebel und Gaspedal. Die einzelne Kapsel rollte unter den Sitz.
Er bohrte ärgerlich seinen Absatz in die Schachtel.
Ich sah schweigend aus dem Fenster. »Entschuldigen Sie«, meinte er nach einer Weile missmutig, »aber es ist genau das, was wir jetzt nicht brauchen können. Wir fahren über die Transitstrecke, und Sie sollten Ihre Sinne beieinander haben. Wir könnten in eine Kontrolle geraten. Lernen Sie die Daten auswendig. Das lenkt Sie ab.«
Ich ließ die einzelne Kapsel, wo sie war, klaubte die Schachtel unter dem Gaspedal hervor und steckte sie in meine Jackentasche zurück. Er ließ es geschehen.
Der Übergang verlief völlig ereignislos: Man kontrollierte lediglich unsere Pässe und Transitvisa.
»Lieber Himmel, Cordes – Sie werden in mir doch keinen Teufel sehen wollen, der unschuldigen Zeitgenossen ans Leder geht«, sagte er, nachdem wir die Grenzposten passiert hatten. »Ich verabscheue die Gewalt wie jeder vernünftige Mensch. Es gibt wirklich nur ausnahmsweise eine Rechtfertigung dafür.
Und die Sache wegen der Schachtel eben …«‚ er strich sich nervös mit der Hand über die Stirn. »Sie müssen das entschuldigen. Ich habe zur Zeit private Probleme. Ich bin etwas überreizt.«
»Schon gut.«
Er beugte sich übers Lenkrad und sah schräg nach oben durch die Windschutzscheibe zu den Autobahnschildern hinauf.
»Unsere Aufgabe ist die Vorsorge. Wir schätzen Gefahren ab – realistisch, würde ich meinen. Aber natürlich: was bedeutet das Wort? Was ist Realismus? Darüber ließe sich endlos diskutieren. Statt dessen haben wir beschlossen zu handeln. Man hat schon einmal versäumt zu handeln! Mit tragischem Ausgang … Ich will die Fälle keineswegs gleichsetzen. Doch bei realistischer Einschätzung der Zukunft hätte Hitler bereits nach der Machtergreifung – im Januar / Februar 1933 – einem politischen Attentat zum Opfer fallen müssen.
Nun fragen Sie mich nicht nach den Kriterien der Beurteilung – es gibt keine! Es wäre lächerlich, für solche Prognosen stringente Beweise zu verlangen. Alles, was wir haben, ist ein Leitfaden, eine vage Richtschnur im Dschungel der Möglichkeiten: dass nämlich die Frage nach der Moral oder Unmoral einer Handlung gegenstandslos wird, sobald ihre Unterlassung Elend und Leid in der Welt vermehren würde.
Eine unabwendbare Konsequenz, nachdem das Rad des Bösen einmal in Gang gesetzt wurde … Im Übrigen helfe ich mir mit der Überzeugung, dass wir nicht wirklich verantwortlich sind: Wir reagieren nur. Für Außenstehende bleibt es natürlich leicht, von der hohen Warte einer angeblich autonomen moralischen Instanz aus zu verdammen und zu verurteilen. Vergessen Sie jedoch nicht: der Henkerberuf war nie angesehen, er ist eine Notwendigkeit, aber man darf keinen Beifall dafür erwarten.«