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Kofler schien ernsthaft zu glauben, er beziehe sein Ein-Zimmer-Apartment nur, um eine Weile vor der Neugier westlicher Journalisten geschützt zu werden. Jedenfalls gab er vor, das zu glauben – und er spielte seine Rolle gut …

Mir fiel auf, mit welcher Unbefangenheit er auch auf heiklere Fragen einging. Ein Marxist ohne eine Spur bürokratischer Kleinkariertheit oder jenem Hang zu weltanschaulicher Eiferei, die ich so oft an seinen Genossen beobachtet hatte.

Aus Gründen, die ich noch nicht durchschaute, hielt ich ihn sogar für einen ausgemachten Epikureer. Ein Zug, der mir imponierte, weil ich selbst eher dem anderen Lager angehöre, »der melancholischen Fraktion«, wenn man so will (glücklicherweise verschaffte mir F. ein ausgezeichnetes Medikament dagegen).

Bei alledem wirkte er zurückhaltend und schien ungern über seine Ansichten zu reden. Ein großer, braungebrannter Mann in den Sechzigern mit schütterem, zurückgekämmtem Haar, blassen Sommersprossen, die überall auf seiner runzligen, an einigen Stellen rötlich durchscheinenden Haut zu sehen waren, und einem kaum merklichen nervösen Tick, den Kopf ruckartig nach links zu werfen, als versuche er auf diese Weise seinen Geist von der materiellen Gebundenheit des Rumpfes zu befreien – eine Bewegung, die derart suggestiv auf mich wirkte, dass ich mich schon am zweiten Tag dabei ertappte, ihn nachzuahmen.

In der Tat – es klappte!

Aus irgendeinem Grund, vielleicht durch eine Manipulation der Nervenbahnen im Nacken, ließ sich auf diese Weise die Konzentration verbessern.

Ich musste lachen, wenn ich mir vorstellte, wie wir beide in den nächsten Wochen – er nach links und ich nach rechts – mit dem gleichen Kopftick Fragen und Antworten austauschen würden.

Ich verstand, dass man im Westen seinen Einfluss auf die Jugend fürchtete.

Etwas lag in seiner Haltung, seiner Art zu reden und zu gestikulieren, das auch Jüngere akzeptieren konnten. Er war Pole, aber gebürtiger Deutscher.

Seine Eltern hatten bis vierunddreißig in Leipzig gelebt und waren dann zu Verwandten in der Nähe von Warschau gezogen. Er sprach so gut Polnisch wie Deutsch. Und als sein Einfluss in der polnischen Gewerkschaftsbewegung zunahm, enthob man ihn seines Postens an der Universität.

Dabei war er erst sehr spät zur Soziologie und Sozialpsychologie übergewechselt und damit in jenen theoretischen und gesellschaftlich relevanten Bereich, der ihn angeblich für die östliche Führung gefährlich werden ließ.

Seine ursprüngliche Laufbahn war die eines Kriminologen an der Krakauer Universität gewesen, und er hatte es dort bis zu einem Lehrstuhl gebracht (es war die Nahtstelle, an der F. seine Verbindung zum KGB vermutete). Aber eines Tages musste er sein Interesse für die soziologischen und sozialphilosophischen Aspekte des Marxismus entdeckt haben, die Analyse von Fingerabdrücken, Blut und Sekreten befriedigte ihn nicht mehr.

Denn, ein halbes Jahr später, als sich eine radikale Jugendbewegung um ihn bildete, eine Entwicklung, die er nicht gewollt hatte und zutiefst bedauerte, und nachdem ohne Wissen der Partei in Großbritannien ein Buch mit dem Titel »What is to be done?« erschienen war, dessen Übersetzung er als eine grobe Verfälschung seiner Ideen ansah, hatte man ihn zunächst in die DDR ausgewiesen.

Nach einer Art Schamfrist war er dann gestern Morgen am Übergang Friedrichstraße von F.s Leuten in Empfang genommen worden.

Das Buch war auf Polnisch geschrieben und von einem nach London emigrierten Weißrussen namens Kremiew unautorisiert übersetzt worden – einer etwas obskuren Gestalt, weshalb der Verdacht nahelag, es handele sich um eine fingierte Falsch-Übersetzung, also ein von der Partei forciertes Machwerk, um Kofler abschieben zu können.

So jedenfalls lautete die östliche Version, die man uns glauben machen wollte.

F. hielt es für ein großangelegtes, von langer Hand vorbereitetes Komplott. Man baute eine Führerpersönlichkeit auf, die für den Osten zu rechts, für den Westen aber zu links war, ihre Aufgabe: das ideologische Vakuum im Westen auszufüllen, kleine Zellen des Widerstandes zu bilden und schließlich eine breite Massenbewegung.

Schon seit längerem konnte man beobachten, dass man im Osten nicht mehr auf die Überzeugungskraft der kommunistischen Ideologie setzte, sondern auf Persönlichkeiten. »Cheguevarismus« war das neudeutsche Wort, das F. dafür geprägt hatte. Andere nannten sie »Messiasse«.

In der Kode-Sprache hießen sie: »Rote Kakadus«. Persönlichkeiten, nicht Ideologien, hatten die Weltgeschichte verändert: Gestalten wie Buddha, Alexander der Große, Jesus von Nazareth, Napoleon, Marx, Hitler, Stalin.

Leo Kofler, Sohn eines böhmischen Schusters und einer polnischen Magd, würde ein kleineres Licht unter ihnen sein – doch immer noch hell genug, um in einigen Wirrköpfen die Idee jenes langersehnten Umsturzes Wirklichkeit werden zu lassen, der aus der Sicht der dialektisch-materialistischen Geschichtsschreibung ohnehin unvermeidlich war.

»Feiner Plan, aber leicht zu durchschauen«, lachte F., als er mir im Gang der Westberliner Zentrale entgegenkam; sie lag in der Franz-Künstler-Straße, beinahe um die Ecke. Mein ganzes Leben spielte sich in dem Dreieck von kaum einem Quadratkilometer Größe zwischen meiner Privatwohnung in der Hitzigallee, der Zentrale und der Wohnung an der Mauer ab ….

Er schüttelte unwillig eine grüne Kunststoffmappe. »Haben Sie den Bericht gelesen?«

Ich nickte.

»Und?« Seine hochgezogenen kahlen Bögen über den Augen, bei gewöhnlichen Menschen die Augenbrauen, signalisierten, dass er ungeduldig war. Er musterte mich, als wolle er sagen: Bestätigen Sie einfach, was wir ohnehin schon wissen – schuldig! Todesurteil! Legitimieren Sie es mit Ihrem Fachwissen und Ihrer Quasi-Funktion als Staatsanwalt.

»Ich werd‘s mir noch genauer ansehen müssen.«

»Dazu ist keine Zeit. Wir sind etwas in Zugzwang diesen Monat«, erklärte er unbeherrscht. »Die Senegalesen, das Kubakomplott …«

Er schwieg und warf mir einen mürrischen Blick zu.

»Großer Gott«, sagte ich – ich sagte es aus dem Stand, aber mit so viel Nachdruck, wie ich konnte: »Wenn ich für Sie arbeite, um die Wahrheit herauszufinden – und ich hoffe, das ist noch immer der Zweck des Unternehmens –‚ dann müssen Sie mir Zeit lassen, genügend Zeit. Ihre Methoden werden immer perfekter. Sie schenken jetzt auch den unwesentlichsten Kleinigkeiten so viel Aufmerksamkeit, dass es schwer wird, ihre Leute zu überführen. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist einiges geschehen auf dem Gebiet der Agenteneinschleusung.«

»Richtig«, bestätigte er, »richtig. Nur ihre hinterhältigen Absichten sind dieselben geblieben.«

Er drückte mich so weit gegen die Wand, dass ich den Verputz im Rücken spürte – es war ein schmaler Gang, künstlich eingezogen zwischen die Räume einer gut florierenden Scheinfirma für Zucker- und Mehlprodukte –, als er sich an mir vorbeidrängte. Er hasste Diskussionen.

»Und vermeiden Sie Besuche hier im Haus. Ich sagte es schon einmal, es schadet Ihnen mehr als uns, wenn die drüben Ihnen auf die Schliche kommen. Auch gute Leute sind zu ersetzen.«

Dann war er auch schon hinter der schwachbeleuchteten Eisentür des Fahrstuhls verschwunden. Ich stand im Gang und blickte ihm nach. Ein schmales, schwarzes Heftchen war aus seiner Mappe gefallen. Ich hob es auf und sah hinein: Es enthielt Zahlen und Buchstaben, mit denen ich nichts anfangen konnte. Ich steckte es in die Manteltasche.

Eigentlich hatte ich ihm mitteilen wollen, dass ich diese Art von Isolationshaltung – anders konnte man es nicht bezeichnen, in dem Einquadratkilometerdreieck –, die er mir seit knapp zweieinhalb Jahren zumutete, nicht länger akzeptieren und mich nach einem hübschen und braven (lieber Himmel, wenn es denn sein sollte, auch »biederen und verschwiegenen«) Mädchen umsehen würde – etwas, das es nach F.s Ansicht nicht gab, da alle Frauen entweder Huren oder karrieresüchtige Politteufel waren (oder Ambitionen auf einen Managerposten oder Professorentitel hatten).

Vermutlich war es gutgemeint, wenn er mich wie einen Patienten mit ansteckender Krankheit isolierte.

Er wollte vermeiden, dass man drüben auf meine Tätigkeit aufmerksam wurde. Im Grunde missbilligte er auch meine kleine Privatwohnung in der Hitzigallee (»zu hohe Mieten so nahe am Tiergarten« war sein Standardargument), doch da ich während der Verhöre fast ausnahmslos in der Wohnung an der Luckauer Straße blieb, beließ er es dabei, sich gelegentlich über meine »überflüssigen Fußmärsche« zu mokieren.

Offenbar glaubte er, meine sämtlichen Bedürfnisse seien mit den Mädchen aus der Organisation befriedigt, die er mir gelegentlich zuschanzte (etwa alle drei Monate – ich weiß nicht, wie er auf diese hirnverbrannte Zeitspanne gekommen war), und für einen Kerl in Staatsdiensten gebe es ohnehin nur die Arbeit. Es waren in der Regel nette und verständige Mädchen, und sie hatten überhaupt keine Ahnung, auf welche Weise sie missbraucht wurden. Es waren auch weder Huren noch karrieresüchtige Politteufel, aber das schien F. entgangen zu sein.

Die Wohnung in der Luckauer Straße bestand aus drei nebeneinanderliegenden Räumen im dritten Stock eines grauen Mietshauses aus der wilhelminischen Zeit, das direkt an der Zonengrenze lag. F.s Spezialisten hatten diese Lage mit Absicht gewählt. Man sah auf die Mauer, den Todesstreifen, einen Teil des Übergangs Heinrich-Heine-Straße – vor allen Dingen aber erlaubte sie den Sichtkontakt mit einem Haus im Ostsektor an der Roßstraße.

Beide Etagen unter uns wurden von ruhigen, älteren Mietern bewohnt, Leuten, die entweder schwerhörig, halb blind oder so senil waren, dass sie das Haus selten verließen. Neben der Toreinfahrt im Parterre, die zu einem grasüberwachsenen Trümmergrundstück im Hinterhof führte, befand sich eine seit den sechziger Jahren geschlossene Fahrradhandlung, ihre schmutzigen Scheiben waren mit braunem Packpapier verhängt.

Die verblichene Reklame aus der Zeit um die Jahrhundertwende gab offenbar für Mauertouristen und Fotografen ein reizvolles Motiv ab. Zu Anfang waren wir überrascht und misstrauisch gewesen, wenn man unsere Hausfassade fotografierte, später hatten wir uns daran gewöhnt. Es gab nur eine Familie mit Kindern.

Ihr fünfjähriger Knirps spielte manchmal unten an der Mauer. Obwohl er sehr aufgeweckt war, hatte er uns kaum Scherereien gemacht. Nur einmal war es ihm gelungen, die Wohnungstür vom Treppenhaus aus mit einem verbogenen Nagel zu öffnen. Es waren uralte Schlösser, für die praktisch jeder Schlüssel annähernd gleicher Größe oder ein krummer Draht ausreichte. F.s Spezialisten mussten das beim Einzug übersehen haben.

Möglicherweise hatten sie es auch als unwichtig angesehen, da für den Fall der unbefugten Türöffnung – dieser Eingang wurde von uns nicht benutzt, wir gelangten durch das Nachbarhaus in die Wohnung – eine Sicherung eingebaut war.

Seine Überraschung musste so groß gewesen sein wie die unsrige, denn durch einen Spezialkontakt im Türscharnier fiel im ganzen Haus der Strom aus. Es wurde stockfinster.

Er hatte keine Gelegenheit mehr gehabt, zu sehen, was sich hinter der Tür befand: Es wäre eine weitere Überraschung wert gewesen. Damals ließ F. ein einbruchsicheres Schloss einbauen.

Für den Kontakt mit der Roßstraße hatten wir eine neuartige Laser-Signalanlage installiert. Mit ihr kabelten wir Fragen und Antworten über unseren jeweiligen Klienten heraus und herein, soweit sie im Zentralcomputer nicht greifbar waren. Auf diese Weise war es möglich, Antworten zu überprüfen und Zusammenhängen, die sich meist im Verlauf der Verhöre ergaben, sofort nachzugehen.

Die Maschine sah aus wie ein überdimensionaler Diaprojektor. Ihr Objektiv zeigte nach Nordwesten, auf das Dachfenster Ecke Roß- und Neue Jakobstraße. Ihre Signale waren mit bloßen Augen völlig unsichtbar und nach dem gegenwärtigen Stand der Technik drüben auch weder zu orten noch zu entschlüsseln. In der Hinsicht konnten wir unbesorgt sein. Sorgen machte uns lediglich der Mann, der den Datenaustauscher auf der Gegenseite bediente.

Da der Apparat seine Nachrichten automatisch auswarf, genügte ein Spezialist für die Wartung und Bedienung. Auf unserer Seite hieß er Kruschinsky – ein magerer, etwas unscheinbarer Junge, der zunächst in einem Fernmeldebataillon der Bundeswehr gearbeitet hatte und dort durch seine Begabung aufgefallen war.

Um die Geheimhaltung zu gewährleisten, wechselte F. den Techniker nach jedem Klienten aus. So wurde vermieden, dass für ihn zwischen unseren Verhören und den Todesfällen, die wie Unglücksfälle aussahen, eine Verbindung herstellbar war. F. hatte mir oft versichert, es gebe niemanden außer uns beiden, der Einblick in das Verfahren habe.

Ich hielt das für eine Lüge, denn es musste von höchster Regierungsstelle abgesegnet sein. Auch die Leute, die das Ende arrangierten, wurden ständig ausgetauscht. In dieser Beziehung glaubte ich ihm. An übergeordneter Stelle wolle man angeblich nichts mit alledem zu tun haben. Es gebe keine direkte Order, sondern nur eine Art »Pauschalarrangement« für eine nicht näher festgelegte Anzahl von Personen, eine stillschweigende Übereinkunft, Im Ernstfall würde niemand zu solch einem Befehl stehen wollen. Meine Berichte seien die einzigen Unterlagen, und niemand außer ihm, F., wisse, wer sie verfasse. Sie seien weder mit vollem Namen gezeichnet noch dritten Personen überhaupt zugänglich.

Im Grunde besäßen sie nur dokumentarischen Wert und würden in einem sicheren Tresor verwahrt, um bei einem fiktiven Fall (der natürlich nie eintreten werde), nachweisen zu können, warum man die betreffende Person habe eliminieren müssen.

Das Ganze hatte offenbar eine ausgemachte Alibifunktion. Es lag irgendwie zwischen Rechtsstaatlichkeit, Notwendigkeit und Verbrechen: ein Kompromiss, der sich aus der Praxis ergab.

Der Laser stand rechts im mittleren der drei durchgehenden Zimmer auf einem stabilen Holztisch vor einem Spezialfenster mit Doppelscheiben, in das durch Spiegelschlitze das Bild einer durchsichtigen Gardine projiziert wurde, hinter der auch mit stärksten Teleskopen aus dem Ostsektor nie etwas anderes wahrnehmbar sein würde als eine verstaubte Wohnungseinrichtung, deren Besitzer seit Jahren im Ausland lebte.

Von innen her war das Glas vollkommen durchsichtig, allerdings ließ es kein Tageslicht herein, so dass wir ständig Lampen brennen mussten.

Links von diesem Raum befand sich Koflers Zimmer, ein durchaus luxuriös eingerichtetes Einzimmerapartment mit breitem Bett, Einbauschränken, einem Farbfernseher schräg in der Ecke, Videogerät, Schreibtisch, rundem Rauchtischchen mit Sesseln und einem in das Zimmer ragenden, gekachelten Badezimmer. Lediglich das Fenster fehlte.

Mein eigenes Zimmer auf der gegenüberliegenden Seite war weniger komfortabel: Bett, Tisch, Kleiderschrank. Tapeten in fadem Beige, hochglanzlackiert. Aber ich hatte nie viel Wert auf Luxus gelegt.

Während der Gespräche saßen wir in Koflers Zimmer, wegen der vertrauten Atmosphäre. Klienten, die zwischen ihren eigenen vier Wänden lebten, waren gesprächiger und verrieten sich schneller. Eine ungewohnte Umgebung dagegen signalisierte Zurückhaltung und Vorsicht. Kofler hatte, um die Zeit bis zu seiner Abreise zu nutzen, mit einem neuen Buch begonnen – er ahnte wohl kaum, dass er es nicht zu Ende bringen würde –, und wir ließen ihn gewähren.

Um in der Bundesrepublik rasch Fuß fassen zu können, benötigte er größere Summen, doch auf dem Konto einer Kölner Bank, auf die man sein restliches Vermögen überwiesen hatte und dessen Nummer er uns bereitwillig mitteilte, war kaum Geld.

Wir nahmen an, dass ein Geheimkonto existierte. Ihm dieses Geheimnis irgendwann zu entreißen, würde uns einen zwingenden Beweis für seine Schuld liefern …

Die drei Räume waren untereinander verbunden. Es gab keinen Korridor – auch keinen Zugang zum Treppenhaus mehr. Sicherheitsvorkehrung. Der alleinige Ein- und Ausgang war die Fahrstuhltür im mittleren Zimmer, dem Arbeitszimmer Kruschinskys. Sie konnte nur durch ein in einer Wandnische versenktes Tipptastenfeld geöffnet werden, für dessen Bedienung man durch einen Sehschlitz blicken musste. So ließ sich vermeiden, dass Unbefugte den Zahlenkode erfuhren.

Der Fahrstuhlschacht endete ohne Zwischenstation in einer Tiefgarage, deren Ausfahrt im Nachbarhaus lag, einem Neubau, in dem Geschäfte, Büros und Arztpraxen untergebracht waren. Ein fast perfektes Gefängnis und eine Tarnung, die so wirksam war, dass noch keiner der übrigen Mieter bisher von uns Notiz genommen zu haben schien.

Irgendwo im Treppenhaus des dritten Stockwerks gab es eine blinde, immer verschlossene Wohnungstür, hinter der sich Mauerwerk befand. Ihr von Werbesendungen überquellender Briefkasten wurde gelegentlich von einem wohlmeinenden Hausmeister geleert. Das Gegenstück des Tipptastenfeldes in der Tiefgarage war hinter einem verschlossenen Eisentürchen verborgen.

Sie hatten Kofler am frühen Morgen in einem fensterlosen Lieferwagen herübergefahren. Vom Übergang Friedrichstraße zur Wohnung waren es nur wenige hundert Meter. Allerdings brachte man ihn zunächst nach Lichterfelde – ein Umweg von einigen Kilometern durch den Süden des Westsektors –‚ wo man ihn sicherheitshalber in einer Garage umsteigen ließ.

Als er mir in der Wohnung zum ersten Mal entgegentrat, wirkte er unausgeschlafen, übermüdet und sah gar nicht wie ein »Messias« aus.

Angeblich hatte ihn die Nachricht von seiner endgültigen Abschiebung in den Westen überrascht. Es mochte auch Nervosität sein oder Angst. Leider lassen die sichtbaren Gemütsbewegungen eines Menschen nicht unbedingt Rückschlüsse auf seine wahren Gedanken zu, wie jeder gute Pokerspieler bestätigen kann. Deshalb misstraute ich auch allen Arten von Apparaten, die neuerdings im Einsatz waren – vom alten Lügendetektor ganz abgesehen, denn Hautwiderstand ist mental beeinflussbar – also: Stimmenstressanalysator, Gesichtswärmemesser und ähnlichem Zeug.

Koflers rötlich durchschimmernde Haut hatte einen fahlen, aschgrauen Ton angenommen. Nur seine strahlend blauen Augen machten genau denselben lebendigen Eindruck, wie ich ihn von einem kurzen Super-8-Film her kannte, der in Warschau aufgenommen worden war.

Dieser Gegensatz irritierte mich ein wenig. Er hatte den durchdringenden Blick, der jemanden mit schlechtem Gewissen – und wer von uns hat nicht irgendwo wegen irgendetwas ein schlechtes Gewissen? – befangen werden ließ. F.s Leuten gegenüber hatte er behauptet, die letzten vier Stunden vor seiner Ausweisung verhört worden zu sein.

»Sie haben mich nicht geschlagen«, betonte er. »Allerdings haben sie mir Schläge angedroht. Einer von diesen Kerlen, die den Verein drüben leiten – ein merkwürdiger Bursche mit rosigem Gesicht, der eher wie ein Pfarrer aussieht und eine Vorliebe für breitkrempige dunkle Hüte zu besitzen scheint – «

»Mit hellblondem Haar und auffälligen Hängebacken?«, unterbrach ich ihn.

Kofler musterte mich überrascht. »Sie haben schon mit ihm zu tun gehabt? Nun, sie drohten mir an …«, er stockte und schluckte kurz, ehe er fortfuhr, »falls ich – wie sie es nannten – im Westen meine revisionistischen Schmierereien, meine angeblichen Diffamierungen und Agitationsversuche fortsetzte, würden sie dafür sorgen, dass meine Schwester, sie lebt in der Schweiz, jeden Monat einen Finger meiner rechten Hand zugeschickt bekäme – der Schreibhand.«

Er betrachtete seine Faust.

»Was sind das für Leute«, stellte er kopfschüttelnd fest. Er schien tatsächlich peinlich berührt. Es wirkte echt.

»Sie haben eine Schwester in der Schweiz? Davon wusste ich nichts.«

»Zweiundsiebzig«, bestätigte er. »Eine alte Lehrerin. Aber noch sehr rüstig.«

Wir gingen hinüber, und ich bot ihm Platz in seinem Apartment an. Er warf einen wohlwollenden Blick auf die Inneneinrichtung.

»In Polen leben wir zur Zeit sehr armselig«, bemerkte er.

Kruschinsky ging frische Brötchen und Tageszeitungen holen.

An der Fahrstuhltür fing ich ihn ab.

»Lass dein hageres Pickelgesicht um Gottes willen möglichst wenig bei uns sehen« – Kruschinsky hatte den Teint eines Primaners, der seine Pubertät in die Studienjahre verschleppt hatte –, »ich glaube, Kofler ist ein Ästhet, eine empfindsame Künstlerseele. In seinem Koffer haben wir ein Exemplar von Stefan Georges Im Jahr der Seele entdeckt«, raunte ich ihm zu.

Das war nicht sehr freundlich, geschweige denn zartfühlend. Doch F. wollte möglichst wenig Kontakt der Techniker zu den Klienten, und das gelang am ehesten, wenn man sie auf irgendeine Weise beleidigte.

Es fand sich immer ein Anlass dazu: O-Beine, Stottern oder eine Freundin, unter deren Pantoffel man angeblich stand – genug, um jemanden so vor den Kopf zu stoßen, dass er sich eine Zeit lang gekränkt an das Fenster mit dem L.D.A. (Laser-Daten-Austauscher) zurückzog.

Besonders in der Anfangsphase neigten Neulinge dazu, jedem Gespräch, jedem Wortfetzen zu folgen, den sie aufschnappen konnten, und das hätte leicht dazu führen können, den Zweck der Aktion zu erraten.

Da Kruschinsky auch für die Verpflegung und das Reinemachen der Wohnung zuständig war, ließ sich der Kontakt mit Kofler kaum vermeiden. Für ihn war er ein Dissident, der vor »neugierigen Journalisten« versteckt wurde. Bei dieser Gelegenheit fühlte ihm der Verfassungsschutz ein wenig auf den Zahn. Eine verständliche Vorsichtsmaßnahme, aber kaum mehr als Routine. Er durfte nicht den Eindruck haben, man wollte ihm etwas vorenthalten.

»Keine Atmosphäre der Geheimniskrämerei!, hatte F. gefordert. »Das wäre ein grober Fehler. Sie wissen ja:

Wo Geheimnisse sind, da versucht man ihnen auf die Spur zu kommen.«

Dass wir so viele Jahre unter den Augen der Ostdeutschen ungestört hatten arbeiten können, war unserer guten Tarnung zu verdanken. Es gab keinen Anlass für einen Verdacht, weder durch Nachbarn noch durch den Osten. Die Wände waren isoliert, die Wohnung angeblich verlassen, das Fenster undurchsichtig, und der Ausgang mündete im Nachbarhaus.

»Misstrauen ist ein beherrschender Zug der menschlichen Natur«, pflegte F. zu sagen. »Ich will sogar zugeben: ein sinnvoller. Die Evolution konnte nicht darauf verzichten.

Beobachten Sie nur die Tiere in der freien Natur: alles Fremde beäugen sie misstrauisch, fliehen oder versuchen sein Geheimnis zu ergründen. Und hat sich erst einmal der Keim eines Verdachtes festgesetzt, ist er durch keine Beteuerungen mehr aus der Welt zu schaffen. Der Mensch ist da noch konsequenter als das Tier.«

F. hätte seine eigene Krankheit kaum treffender beschreiben können. Denn Misstrauen – und der Preis, den man dafür bezahlte – war seine Berufskrankheit. Es war das, was blieb, wenn alle anderen Gefühle, die des Hasses, der Liebe, der Zärtlichkeit, des Humors längst verkümmert waren. Misstrauen und die Angst vor Fehlern.

Ein Arzt ist umsichtig, ein Seiltänzer vorsichtig, ein Buchhalter genau – aber jemand in unserer Position?

Es waren das Misstrauen und die Angst, die uns mit spöttischem, versteinert über die Zähne hochgeblecktem Grinsen, dünnlippig und fieberäugig, wie Orwells Großer Bruder über die Schultern sahen. Jede Angst ganz persönlich; und doch immer die gleiche. Wegen eines Fehlers hatte ich meinen Job als Staatsanwalt verloren. Ich war der jüngste Staatsanwalt der Republik gewesen, und ich war in der Gosse gelandet, ehe ich diesen merkwürdigen Posten übernommen hatte, der in keinem Berufskalender verzeichnet ist.

Ich wusste nicht, welcher Art F.s Ängste waren. Doch ich hegte keinen Zweifel daran, dass man sie mit hoher Wahrscheinlichkeit erriet, wenn man auf die üblichen Gründe tippte.

Ängste sind selten extravagant: Angst vor Degradierung, Lächerlichkeit, Gerede der Kollegen und Konkurrenten, Verlust von Privilegien, die man in seiner Position genoss, Angst vor der Presse, vor dem Eingeständnis der persönlichen Unfähigkeit, vor dem Entzug des Vertrauens durch Vorgesetzte, vor der Schelte der eigenen Frau (oder der Verachtung der Geliebten – ich hatte keine Ahnung, ob F. verheiratet war; er sprach nie über persönliche Dinge) …

All dies, so schien mir, waren bei Leo Kofler unbegründete Sorgen, denn er war ein leicht zu durchschauender Fall.

Kalter Krieg im Spiegel

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