Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 69

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Die Spiele Deutschland gegen Holland waren die einzigen, für die sich der ansonsten Fußball abstinente Benedict wirklich interessierte. Meist arten sie in eine Art von Stellvertreterkrieg auf dem Sportplatz aus. Geführt von den verbissen kämpfenden Mannschaften und den monstermässig auftretenden Anhängerscharen beider Seiten. Der Hauptkommissar hatte oft darüber nachgedacht, worin die erbitterte Rivalität ihre Ursache haben mochte, fünfzig Jahre nach Kriegsende. Denn jene, die da laut „deutsche Faschisten" brüllten, konnten an diese Zeit keine eigenen Erinnerungen haben, aus denen sie ihren Vorrat an Hass speisen konnten. Vielleicht war ja auch einfach die geographische Nähe Schuld daran. So wie manch langjährige Nachbarn unerbittliche Fehden über den Gartenzaun hinweg austragen. Man kennt sich halt zu gut.

Als jetzt der niederländische Spieler Frank Rijkaard dem deutschen Völler als Höhepunkt einer längeren Auseinandersetzung ins Gesicht spuckt, ist es mit Benedicts distanzierter Gelassenheit vorbei. So was kennt er vom American Football nicht.

„Alte Pottsau!“, bricht es mit zorngeschwellter Ader aus ihm heraus. Zum Glück ist er an diesem Sonntag allein mit sich und seinem wütenden Gebrüll im Fernsehraum des VP-Heims. Und wahrscheinlich auch zum Glück für die Gesundheit vieler passionierter Fußballfans geht das Spiel in Mailand dann 2:1 für das Team der BRD aus.

Nein, er war nicht raus nach Rauchfangswerder gefahren, um mit Meißner über den brisanten Inhalt des Umschlags zu sprechen. Obwohl der ihn dazu in dem kurzen Begleitschreiben ausdrücklich eingeladen hatte. Aber er hätte sich erst seinen Wagen aus dem Hof des Präsidiums an der Beimler-Straße holen müssen und dann ... es gab soviel zu bedenken. Er hat sich nochmals mit Dean Sangers offizieller Erfolgsstory beschäftigt, aber viel mehr, als dass ihn auch die Menschen in der Sowjetunion geliebt haben müssen und dass er statt Alkohol lieber Spreequell Citrus trank, hat er nicht erfahren. Sicher hat er zu den Guten gehören wollen. Wollten Amerikaner ja immer. Aber seine US-Staatsangehörigkeit hat er wohlweislich nie aufgegeben.

Aber das alles ist mittlerweile ohne Belang. Die Sache scheint jetzt wirklich erledigt zu sein. Es bleibt ein ziemlich ekliger Nachgeschmack. Sicher eine menschliche Tragödie für ihn selbst und für viele, die ihm nahestanden. Aber eben nur das.

Diesmal hatte sich Meißner gegen mögliche Einwände des West-Polizisten von vornherein abgesichert und der Kopie von Dean Sangers Abschiedsbrief gleich ein Gutachten über umstrittene Schreibleistungen der Abteilung Kriminaltechnik beim Präsidium der Volkspolizei Berlin beigefügt. Unter dem Datum 19.06.1986 kam ein Sachverständiger für Handschriftenuntersuchung und Hauptmann der K - Benedict erinnert sich, was Meißner ihm dazu gesagt hatte - im Endergebnis zu der Schlussfolgerung: Die umstrittenen Schreibleistungen (Blatt 1-15) stammen von Dean Sanger, geb. am 22.09.1938! Die Kopie von Dean Sangers Abschiedsbrief hatte von Seite zu Seite größere Beklemmungen bei Benedict verursacht, und manches Mal hatte er sich zum Weiterlesen zwingen müssen. Sicher, er hatte die politische Naivität des Amerikaners belächelt und seine künstlerischen Qualitäten niedrig eingeschätzt, aber doch hatte sich insgeheim auch etwas wie Bewunderung für die Konsequenz dieses Lebensweges in seinem Innersten entwickelt. Und dann so etwas. Eine derart peinliche Art und Weise, andere für die eigenen Unzulänglichkeiten verantwortlich machen zu wollen, ihnen gar die Verantwortung für seinen Freitod aufzubürden ... was für ein krankes Hirn konnte so etwas ersonnen haben?

Mein Tat hat nichts mit Sozialismus und Genossen zu tun ... Ich wollte zu Dir in Frieden mit Katarina Sonntag kommen, aber als ich Heute abend zurück aus Defa kam ... Katarina fang an

mich an zu schrein dass ich nur ein Showman bin und es war nur ein „Show“ von mir. Ich habe sie gebidden mich in ruhe zu lassen, aber sie hat immer weiter angeschrien, dass ich war nur ein schlechter Amerikanischer Showman-

Der Brief war mit der Hand auf die leeren Rückseiten eines Schreibmaschinentextes geschrieben worden. Dieser Text hatte sich deutlich durchgedrückt, und Benedict hatte vor dem Spiegel feststellen können, dass es sich um ein Filmscript handelte.

Sie quält mich und Foltert mich seit Wochen weil sie is Krank eifersegtig über alle Leute die ich Liebe oder die mich lieben aber besonders meine ehemalige Frau und mein Tochter. Ich liebe Katarina Trotz ihre Krankheit, aber ich kann kein Weg finden aus von meine Problem. Ich muss ein schweres, wichtiges Film drehen in eine Woche - mit Katarina kann nichts gut gehen wenn sie mich ständig anschreit, dass ich nur ein Showman bin und keine Mut habe mich selbst umzubringen. Sie hat mich schon genug verletzt, muss ich auch das hören bis mein Tod?

War es nur unbegründete Eifersucht gewesen, fragte sich Benedict an dieser Stelle des Briefes, oder hatte sie gemerkt, dass Dean Sanger sie Richtung USA verlassen wollte. Hatten vielleicht andere das auch bemerkt und sie gedrängt, ihren Einfluss auf ihn dahingehend geltend zu machen, dass er dieses Vorhaben wieder aufgab?

Ich wollte bis der Tod uns scheidet mit Katarina leben - aber Sie hat mich umgebracht - Tag für Tag. - Und Heute mir zu sagen, dass ich zu feige bin mich umzubringen, is zu weit... weil sie wird wieder so machen.

Was für ein widerliches Vermächtnis. „Sie hat mich umgebracht.“ Dieser Mensch musste von Sinnen gewesen sein.

Katarina brauchte für ihre Ego nur die berühmtesten männer - und sie hat es geschafft und sie dann hat uns alle vertig gemacht... es tut mir leid dass ich nicht mit mein Freund Victor gefallen bin. Aber jeder hat sein eigenes Schicksall... Gerhard - du warst immer ein Treuer Freund - Hass mich bitter nicht. Ich war am ende Gestern - Und alles wäre besser geworden wenn Katarina hätte schon Heute nicht angefangen mich als Feigling zu nen ... Sie sagte dass Du hast gesagt, das dass war „Show“ gestern. Ich bin sicher sie lügt wie immer wenn Sie mich von meine Freunde trennen will... Lebt wohl - Meine Liebe geht an meine Mutti die ich so liebe und war so ein Vorbild für mich. An Ramona meine Tochter ... ich umarme Dich - Dean Sanger 12/6/86

Nachdem der Hauptkommissar Sangers Brief gelesen hat, kam er sich wie ein Voyeur vor. Sicher waren in dem mit fliegender Hand und in schlechtem Deutsch geschriebenen Abschied an Mein Freund und Gen. Gerhard Felmer auch noch die fast obligatorischen Ideologiepassagen, aber sie konnten die faulige Essenz aus persönlicher Gekränktheit und Racheschlägen gegen seine Frau nicht mildern. Was musste passiert sein, um einen Menschen dahin zu bringen!

Dieser Brief schließt nun wirklich den letzten Zweifel an Dean Sangers Freitod aus. Jetzt kann Benedict für sich die Sache beenden. Morgen würde er sich ausschließlich auf die Raschke-Vorgänge konzentrieren. Den Huber würde er zurückschicken müssen. Zu dumm, dass er ihn jetzt nicht mehr erreichen kann. Sitzt mit Sicherheit schon im Flugzeug nach Berlin.

Trotz des gefassten Entschlusses kann Vitus H. Benedict an diesem Sonntagabend kaum in den Schlaf finden. Zu viel geht ihm durch den Kopf.

Dass Meißner ihn ausgerechnet immer dann mit neuem Sanger-Material gefüttert hat, wenn er sich nicht von seinen Nachforschungen abhalten ließ ... oder dieses plötzliche Interesse Annkatrins an seiner Arbeit hier in Ost-Berlin ... oder Oberleutnant Engel, der ihm einfach zu oft begegnet... oder ein amerikanischer Konsul, der unbedingt mit ihm Kaffee trinken will... oder Dixie, die aus dem Nichts auftaucht, um ihm von irgendwo in Amerika zuzuschreien: „Glauben Sie nicht, was man Ihnen sagen wird. Es war Mord ... Mord ... Mord ...“

*


Huber ist also schon eingetroffen.

Der Objektleiter hat ihm das Päckchen aus Köln gleich zum Frühstück in den Essraum gebracht. Gleichgültig steckt Benedict es in die Tasche seiner Jacke.

Vor der Tür des VP-Heims versucht er, Hubers massige Gestalt irgendwo ausfindig zu machen, aber er kann ihn nicht entdecken. Muss er eben den vereinbarten Treff abwarten, bis er ihn wieder nach Hause schicken kann. Jetzt weiß er aber wenigstens, warum er diese Nacht so schlecht geschlafen hatte. Das kühle Tief der vergangenen Woche hat sich über Nacht in ein strahlendes Hoch gewandelt.

Der Wagen mit den gelangweilten Männern darin entgeht ihm nicht, als er in der Normannen-Straße eintrifft. Ob er ihnen sagen sollte, dass sie sich die Mühe sparen können.

Auch auf dem Weg hat er vergeblich nach Huber Ausschau gehalten. Einmal glaubte er, ihn im morgendlichen Gewühl ausgemacht zu haben, aber der Mann in der Windjacke und dem Kunstlederhütchen auf dem Kopf war es dann doch nicht.

Meißner ruft gegen 11 Uhr in der Zentral-Kartei an, um zu fragen, ob er die Unterlagen heute Abend bei ihm im VP-Heim abholen kann. Benedicts Bestätigung, dass die Geschichte damit für ihn endgültig vom Tisch sei, scheint er als eine Selbstverständlichkeit zu betrachten. Beim Mittagessen in der Kantine erzählt ihm seine leicht aufgelöste Staatsarchivarin dann auch, warum das Treffen mit ihrem DEFA-Freund geplatzt ist. Seine Frau hatte ihn davon abgehalten. Sie hätten damals genug Ärger gehabt, und irgendwann müsse ja mal Schluss sein.

„Aber er hat mir seine Telefonnummer in Babelsberg gegeben. Wenn Sie möchten, können Sie ihn da während der Dienstzeiten anrufen!“

Höflich nimmt Benedict die Nummer entgegen. Es ist müßig, ihr zu sagen, dass er davon keinen Gebrauch mehr machen wird.

So geht nun wirklich alles seinen geregelten Gang, und der Hauptkommissar kann sich am Nachmittag ohne weitere Unterbrechungen seiner eigentlichen Arbeit widmen und Major Raschkes schmutziger Spur durch die DDR der 80er Jahre folgen. Lesen. Notieren. Lesen. Notieren. Lesen ...

Merkwürdig schlaff und deprimiert verlässt er am Nachmittag die Festung an der Normannen-Straße und ist Punkt 17 Uhr in der Telefonzelle, um Ganser seine Arbeitsergebnisse durchzugeben.

„Der Typ vom WDR hat schon wieder angerufen. Suchst du einen anderen Job? Sollst ihn jedenfalls dringend zurückrufen!“

Nein, diesen Anruf kann er sich jetzt sparen. Das war vorbei. Vielleicht würde er sich heute mal irgendwo billig besaufen.

Die ganze Zeit steht eine Frau vor der Telefonzelle, wartet, dass er sie frei macht und tritt jetzt auf ihn zu. Statt aber in die Zelle reinzugehen, reckt sie ihm plötzlich die Hand entgegen und steckt ihm einen Zettel zu. Bevor der überraschte Benedict noch reagieren kann, hat sie sich auf ein heran preschendes Motorrad geschwungen und verschwindet im dichten Strom des Feierabendverkehrs. Es ist ein einfacher Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer. Nichts weiter. Der Name ist ihm bekannt. Er hat ihn schon gestrichen. Dean Sanger.

Bevor ihm jemand die Zelle streitig machen kann, nimmt er den Hörer auf und wählt die angegebene Telefonnummer in Berlin. Freizeichen. Diese verdammte Neugier. Immer diese verdammte Neugier. Irgendwann würde sie ihn ...

„Ja?“, meldet sich eine männliche Stimme.

„Ich habe gerade eben einen Zettel mit Ihrer Telefonnummer bekommen ...“

„Ja?“

„Dean Sanger!“

„Gut. Wir haben das Material, nach dem Sie suchen. Was ist es Ihnen wert?“

„Was für Material suche ich denn?“, kann der Hauptkommissar seine Verblüffung kaum verbergen.

„Mensch, Benedict! Machen Sie doch nicht solche Spielchen. Über Dean Sangers Tod natürlich. Wir verkaufen keine Barby-Puppen!“

„Und was soll das sein?“

„Zweiundzwanzig Tonkassetten mit Telefonmitschnitten der Abteilung 26. Alles Telefonate von Dean Sanger in 1 a-Qualität. Dazu fünf Video-Mitschnitte, die ohne Sangers Wissen während seiner Behandlungssitzungen gemacht wurden...“

„Was für Behandlungsstunden?“

„Na, wissen Sie das denn nicht? Der Mann war doch schwer krank. Epilepsie. Wurde psychotherapeutisch von Prof. Schallreuter behandelt. Eine anerkannte Kapazität auf seinem Gebiet und ... nebenbei KGB-Mitarbeiter!“

Schon wieder eine anerkannte Kapazität. Davon scheint es hier nur so zu wimmeln. Aber Epilepsie bei einem „Showman“. Das ist interessant.

„Und warum meinen Sie, dass ich dafür was bezahlen sollte?“

„Ihre Sache. Wenn Sie eben den Beweis für Sangers Ermordung nicht haben wollen ...“

*


„Die Leute bluffen doch! Was sollen die denn schon in der Hand haben! Sie haben doch den Abschiedsbrief selber gelesen!“

Meißner ist stocksauer, trotzdem ist Benedict froh darüber, ihn endlich ins Vertrauen gezogen zu haben. Nachdem er sich Bedenkzeit bis morgen erbeten hatte, war er auf schnellstem Wege raus nach Marzahn gefahren und hatte nervös darauf gewartet, dass der MUK-Leiter seine Unterlagen abholen würde. Wegen der neuen Situation hatte er auch Huber nicht zurück nach Frankfurt geschickt. Da wollte er besser abwarten, wie sich das hier noch entwickeln würde. Bis zu Meißners Eintreffen hatte er das Für und Wider abgewogen. Letzten Endes hatte er aber keinen anderen Ausweg gesehen, als Meißner über das Telefonat mit diesen merkwürdigen „Verkäufern“ zu informieren. KGB-Unterlagen, das war eine entschieden zu heiße Nummer für einen Mann alleine.

„Aber irgend was müssen die doch haben! Und dann auch noch aus geheimen KGB-Quellen!“

Natürlich kann er Meißners Zorn verstehen. Nachdem heute Vormittag alles noch so klar schien.

„Es gehen im Moment genügend abgehalfterte Leute von der Sicherheit mit geklautem Material hausieren. Nicht auszuschließen, dass das bei den Sowjets genauso ist. Was wollen Sie denn jetzt machen? Sich da weiter reinhängen?“

„Ich kann natürlich nichts dafür bezahlen. Woher sollte das Geld auch kommen? Aber ... ich würde schon was dafür geben, mal zu sehen, was dahintersteckt. Sie nicht auch?“

„Nee, garantiert nicht. Für mich ist das kein Fall. Außerdem bin ich Familienvater, und das Ganze hört sich nicht ungefährlich an, aber ..."

Mit dem Besaufen wird’s an diesem Abend doch nichts. Meißner hatte sich schließlich mit den Worten „will mal sehen, was ich für Sie tun kann“ dann doch noch hilfsbereit verabschiedet, und erst als Benedict schon im Bett liegt, fällt ihm ein, dass er da ja noch die beiden Videos liegen hat und den Mann vom WDR doch noch hätte anrufen sollen. Aber da ist es schon zu spät.

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