Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 73

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„A kiss is just a kiss, a sigh is just a sigh ..."

Der Pianomann in der Bar des Intercontinental Hotels hatte Benedicts grünen Schein gerne angenommen, um Veras Musikwunsch zu erfüllen. Der Einsatz hat sich gelohnt. Verträumt sieht sie in das Licht der flackernden Kerze, und in ihren Augen schimmert der Perlmuttglanz von Südseemuscheln. Mit ihren für den Abend rot lackierten Fingernägeln klopft sie den Rhythmus der Melodie auf der Zigarettenpackung mit.

Diesmal hat er keinen stinkigen Arbeitsoverall über seinen Sachen, und der Schein der Streichholzflamme, mit der er ihr Feuer gibt, erhellt für einen Augenblick ihre beiden entspannten Gesichter. Mit einer intimen, fast besitzergreifenden Bewegung legt sie ihre Hand auf seine, um die Flamme näher zu führen. Ihre Berührung durchfährt ihn wie ein Glutstrahl, und am liebsten würde er ihre Hand festhalten. Den ganzen Abend. Für immer.

„Aua!“

Das Streichholz ist heruntergebrannt.

Ihr Auftritt im Foyer war ein Ereignis gewesen. Unter dem leichten Sommermantel trug sie eines dieser einfachen, schwarzen Kleidchen, wie sie nur junge oder sehr attraktive Frauen wirklich tragen konnten. Ihr schmales Gesicht, dessen weißer Teint nicht überschminkt wirkte, vor einem Hintergrund locker aufgeföhnter, blauschwarzer Haarpracht. An ihren Ohren blitzte das Feuer geschliffener Rubine, und auch auf dem vielleicht etwas zu schüchtern geschnittenen Dekollete leuchteten die zu einer Halskette gearbeiteten edlen Steine. Über allem aber dieses in festlicher Erwartung strahlende Augenpaar, mit dessen Wirkung die alten Preziosen nicht konkurieren konnten. Kaum, dass er sich von ihrem Anblick losreißen mochte. Und auch den Umstehenden schien es nicht anders zu ergehen. Mehr oder minder auffällig verrenkten die Männer ihre Hälse, während die Augenfarben der Frauen zwischen giftgrün und natterngelb changierten. Und er? Wie ein balzender Gockel hatte er seine Dame mit stolzgeschwellter Brust zu ihrem Platz im Parkett geführt. Was interessierte ihn, dass oben auf der Bühne unter der Mondsichel auf sternglänzendem Himmelsblau die „Königin der Nacht“ auftrat. Er hatte seine „Königin“ hier unten neben sich. Roch ihren Körper. Fühlte ihre Wärme. War gefangen von ihrer Nähe.

In der Pause war es mit dem Operntraum vorbei.

Mit entschlossenen Schritten ging sie zur Garderobe und ließ sich ihren Mantel zurückgeben. Dann, sie schien sich wortlos mit der Garderobiere verständigt zu haben, folgten sie dieser bis zu einem kleinen Nebenausgang, wo diesmal keine russische Limousine auf sie wartete. Ein Opel Omega. Wie Benedict durch einen raschen Blick feststellen konnte, mit West-Berliner Kennzeichen. Im Wagen wechselte die Uschakowa ein paar rasche Worte mit dem russischen Fahrer, und sie fuhren durch die abendliche Stadt. Nach einer Weile schienen die ständigen Blicke in den Rückspiegel den Chauffeur zufriedengestellt zu haben, denn er hielt in einer dunklen Nebenstraße und verließ das Fahrzeug.

„Haben Sie mit den Leuten Kontakt gehabt?“

Benedict, der endlich begriffen hatte, welchem Zweck die nächtliche Pausenfahrt dienen sollte, berichtete ihr kurz von dem Probeband mit dem Fetzen eines Telefonats zwischen Dean Sanger und Dixie Lupinsky in den USA.

„Gut. Sehr gut! Ich nehme an, dass diese Verbrecher morgen mit Ihnen Verbindung aufnehmen

werden, um die Modalitäten der Übergabe mit Ihnen zu vereinbaren. Passen Sie genau auf: die werden Ihnen einen Übergabeort vorschlagen, den Sie natürlich ablehnen werden! Zögern sie erst. Tun Sie so, als suchten Sie selbst nach einem Ihnen sicherer erscheinenden Platz. Dann schlagen Sie denen das Filmgelände in Babelsberg vor. Sagen Sie, Sie hätten es am Wochenende besichtigt oder so etwas. Es ist wichtig, dass Sie die Leute überzeugen. Hier, sehen Sie!“, reichte sie ihm einen kleinen Plan des Filmgeländes und zeigte mit dem Finger auf einen Platz links vom Haupteingang. „Dort gibt es einen Nebeneingang, der geöffnet sein wird. Da steht so eine alte Filmrequisite, ein deutsches Nazi-Flugzeug aus dem 2. Weltkrieg. Genau daneben findet die Übergabe statt. Schlagen Sie 20 Uhr vor, denn bis dahin können wir unsere Leute unauffällig in Position bringen!“

„Und an welchem Tag?“

„... morgen!“

„Morgen schon?“

„Ja, denn jeder Tag Verzögerung würde die Geheimhaltung erschweren, und gerade von unserer Seite dürfen so wenig Leute wie möglich darüber Bescheid wissen!“

„Na, Sie muten mir ja ’ne ganze Menge zu ... und wie soll das dann ablaufen?“

„Sagen Sie den Leuten, dass sie die Videos an Ort und Stelle mit einem tragbaren Abspielmonitor begutachten würden. Erst, wenn Sie das Material als echt identifizieren, gibt es das Geld!“

„Ja, und da sind wir dann beim casus cnactus! Woher...“

„Bei was, bitte?“

„Ach, nur so eine Redensart. Woher soll ich denn an soviel Geld kommen? 50 000 DM?“

„Keine Sorge. Sie werden denen das Geld zeigen können. Aber wenn alles so läuft, wie wir geplant haben, werden die davon nichts mehr ausgeben können!“

„Und was passiert mit dem Material? Ziehen Sie das auch ein?“

„Selbstverständlich. Oder was dachten Sie? Schließlich handelt es sich um Eigentum der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Aber... wenn Sie Ihre Rolle gut machen, lassen wir Sie vielleicht vorher einen Blick drauf werfen!“

*


Wenn sie diese Augen macht, sieht sie aus wie ein Kind.

Er hat beim Tastenklimperer auch noch „Moskauer Nächte“ in Auftrag gegeben, und sie scheint entzückt.

„Das ist aber nett!“, gurrt sie, und ihr Oberkörper vibriert im Rhythmus der locker dahinschmelzenden Tonkaskaden. Als er sich jetzt eine „Monte Christo“ anstecken will, nimmt sie ihm das Holz aus der Hand und entzündet seine Zigarre. Die ersten blauen Wolken formen schon zerfasernde Kringel in der Luft, bevor er mit rauer Stimme sagt: „Wissen Sie, was es bei uns in Deutschland bedeutet, wenn eine Frau dem Mann Feuer gibt?“ Plötzlich fühlt er ihre Hand in seinem Haar und das weiche Fleisch ihrer Brüste drängt sich an seinen Oberkörper. Und die Farbe ihrer Augen verspricht die Piratenschätze der Karibik.

„Natürlich weiß ich, was das heißt. Küss mich endlich, du deutscher Idiot!“

Sie hatte nach ihrer Lagebesprechung keine Lust mehr gehabt, zur Lindenoper zurückzufahren. „Die Pause ist schon lange vorbei, und jetzt steht mir der Sinn sowieso nach anderer Musik und einem Drink! Fahren wir in den Westen!“

Dem Fahrer schien der Weg geläufig, denn zielsicher hatte er sie vors Intercontinental gebracht. Bevor sie das Fahrzeug verließen, gab ihm die Uschakowa in herrischem Ton noch einige Anweisungen, wohl den genauen Abholtermin, und der Wagen rauschte wieder ab. dass auch der Russin dieser Platz nicht völlig unbekannt war, merkte er spätestens, als sie zielsicher den Weg zur Bar des Intercontinental einschlug.

„Ich komm doch gar nicht aus Moskau, du!“, kichert sie und hört auf, an seinem Ohr rum zu knabbem, „bin doch aus Leningrad, hörst du! Warst du schon mal in Leningrad?“

Nein, war er noch nicht. Langsam beginnt die Geschichte kritisch zu werden. Ihre warmfeuchten Hände haben im Halbdunkel der Bar eine Wanderung begonnen, die, wie er befürchtet, erhofft, nur dort enden kann ... Abrupt stoppen ihre Finger. Sie setzt sich kerzengerade auf, sieht ihm mit starrem Blick in die Augen und sagt: „Genosse, ich glaube, ich bin total blau!“ Was Benedict nicht verwundern würde, nach vier Bier und sieben Wodka-Gimlets, die sie in den vergangenen zweieinhalb Stunden verputzt hat.

Natürlich ist er enttäuscht. Der Abend hatte mehr erwarten lassen. Aber so ist sie eben, des Lebens bizarre Härte ...

„In diesem Zzzustand kann ich unmöglich meinen Fahrer rufen lassen, unmöööglich! Der ist nämlich, weißt du das Benedict, der ist nämlich beim ... KGB! Jawoll! Der petzt mich an, jawoll!“

„Du bist auch beim KGB!“, flüstert Benedict ihr leise ins Ohr.

„Ach ...? So ...? Egal! So besoffen kann ich nicht zurückfahren. Besorg uns ein Zimmer! Das ist Beffäll! Poschli!“

Hat sie eben „uns ein Zimmer“ oder „mir ein Zimmer“ gesagt? Spielt das eine Rolle? So blau konnten sie auch genauso gut die Nacht gemeinsam in einem Doppelzimmer verbringen.

„Meine Frau hat wohl in der Bar etwas zu viel getrunken, meinen Sie, dass Sie für die Nacht noch ein Doppelzimmer für uns frei haben?“

Der Hundertmarkschein und die goldene Kreditkarte auf dem Tresen des Nachtportiers helfen bei der Entscheidungsfindung, und als die letzten Akkorde von „Smoke gets in your eyes“ in der Bar verklingen, kann er Vera auf ihren schönen, wenn auch unsicheren Beinen zum Fahrstuhl führen. Während sie sich mit geschlossenen Augen in der Kabine an die Wand lehnt, die Wangen gerötet und die Haare zerzaust, summt sie leise immer noch die Melodie vor sich hin. Dann nimmt sie erst den rechten und sofort darauf den linken Ohrring aus den Ohren, schnippt den linken Schuh vom Fuß, gefolgt vom rechten, und...

Glücklicherweise sind sie im neunten Stock angekommen, und er sammelt ihre Utensilien ein, bevor die Tür sich öffnet. Sie hakt sich schwer bei ihm ein und fängt an, laut auf russisch ein Partisanenlied zu singen. Oder sollte er besser sagen, zu grölen? Den Text kennt er noch von früher, und fast ist er in Versuchung mitzusingen. „Durchs Gebirge, durch die Steppe zog unsere kühne Division ..." Dann hält er ihr aber doch lieber den Mund zu und ist glücklich, dass sie ohne Zwischenfälle die Tür ihres Zimmers erreichen. So besoffen hatte er lange keine schöne Frau mehr erlebt.

Als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen ist, fühlt er glücklich überrascht plötzlich den Druck ihrer warmen Lippen und die fordernde Feuchte ihrer Zunge in seinem Mund. Ihr Körper presst und reibt sich an seinem. Er lässt seine gierigen Hände wie fiebernd ihren Rücken hinauf wandern und findet den Reißverschluss. Ungeduldig zerrt sie selbst den dünnen, störenden Seidenstoff herunter, dann liegt sie nackt und weich in seinen Armen.

„Komm jetzt endlich. Komm ... du ...!“

Wahrscheinlich ist es die ungewohnte Nähe eines anderen Menschen, die ihn nur wenige Stunden danach wieder wach werden lässt. Oder einfach die grell herein scheinende Morgensonne, denn sie hatten nicht mehr die Kraft dazu gefunden, die Vorhänge zuzuziehen.

Versunken in den Anblick der Frau neben sich, die auch am Morgen danach noch eine schöne ist, denkt er wohlig an den Traum der vergangenen Nacht. Er hatte nach versunkenen Schiffen in der Karibik getaucht, aber gefunden hatte er dann goldschimmemden Bernstein im milden Salz der Ostsee.

Nein, er hatte seit Kittys Tod keineswegs als Mönch gelebt. Und obwohl er aufgrund seines Berufes vorsichtig sein musste, waren da immer Frauen gewesen. Aber mit keiner hatte er ein solch tiefes Erlebnis gehabt, und bei keiner hatte er sich so gewünscht, mit ihr aufzuwachen, den Tag gemeinsam zu verbringen und vielleicht sogar viele Tage ... und viele Nächte.

„Na du ... schrecklicher Mensch, was hast du mit mir gemacht?“

Lustige kleine Wellen brechen sich im morgenblau ihrer jetzt geöffneten Augen, als sie mit einem lauten Gähnen den Kopf aus den Kissen hebt.

„Du miese Schauspielerin ... die Besoffene zu markieren ... hast du das am Bolschoi-Theater gelernt?“, geht er lächelnd auf ihren Ton ein.

„Nein, ich bin ein Naturtalent.“ Sie lacht fröhlich. „Außerdem sind wir Russen berühmt für unsere Trinkfestigkeit!“

„Und wo hast du dein gutes Deutsch gelernt?“

„In Bonn, ich bin da groß geworden.“

„In Bonn? Ja wie ..."

„Mein Vater ist schon seit zwanzig Jahren Marineattache, dort, an unserer Botschaft. Er ist Korvettenkapitän!“

Ungläubig schüttelt er mit dem Kopf. „Da müsstest du ja auch Düsseldorf kennen!“

„Natürlich. Ich mag es. Die Kö, die Altstadt... und Heinrich Heine. ,Denk ich an Benedict in der Nacht, der hat mich um den Schlaf gebracht!“' Und dann platzt sie laut los vor Lachen.

„Hör mal, du...“, fragt Benedict, nachdem sie sich wieder beruhigt haben, „war das heute Nacht... ich meine, war das dienstlich oder so?“

„Pscht“, sagt sie mit ernstem Gesicht und legt ihm einen Finger über den Mund. „Nicht doch. Wie du da vor dem Bild in meinem Büro standest, wie ein kleiner, glücklicher Junge. Außerdem mag ich Männer, die gut riechen und höflich zu Frauen sind. Solltest mal unsere sowjetischen Männer erleben. Puh! Und du? Bin ich für dich so ein, wie sagt man bei euch im Westen, ein ,one night stand'? Oder hast du mich auch ein ganz kleines bisschen ..."

Plötzlich zuckt sie zusammen. „Wie spät ist es?“

„Noch früh. Kurz nach sechs.“

„Verdammt!“

Schnell, viel zu schnell ist der Zauber verflogen. Sie muss raus nach Karlshorst. Dienstbeginn. Den Fahrer kann sie jetzt nicht mehr erreichen, also mit der S-Bahn. Während sie sich eilig kurz abduscht, greift Benedict solidarisch zu seinen Sachen und kleidet sich an. Aber sie will ohne Frühstück zurück, und als die Tür Sekunden später hinter ihr ins Schloss fällt und er mit einer verlorenen Geste über das immer noch warme Bett streicht, fühlt er ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Brust.

Auch dem Hotel-Frühstück gelingt es nicht, die Leere in seinem Inneren zu vertreiben, und so ersteht er schließlich ein Cartier-Feuerzeug in einer der Boutiquen. Er würde es ihr zum Geschenk machen. Diese Einwegfeuerzeuge passten einfach nicht zu ihr. Jetzt fühlt er sich auch etwas besser. Als schlüge dieses Geschenk ein intimes Band zwischen ihm und ihr.

Heute Abend. Er sieht sie ja schon heute Abend wieder. Dann wird er es ihr geben. Welches Meer dann wohl in ihren Augen schimmert?

*


Auf dem Weg zur Normannen-Straße versucht er dann doch noch aus einer Telefonzelle den Mann bei der DEFA in Babelsberg zu erreichen.

„Ach ja, Sie sind das? Dean Sanger, jaja! Können Sie gleich zu mir rauskommen? Ich hätte jetzt gerade etwas Zeit.“

Kurzentschlossen disponiert Benedict um und macht sich auf den Weg zum Filmgelände. Immerhin wäre es gut, wenn er sich da schon etwas auskennte. Auch, wenn die Leute ihn heute anrufen würden. Dann, als er merkt, wie weit der Weg raus nach Babelsberg ist, wird er doch reichlich unruhig. Hoffentlich schafft er es überhaupt noch rechtzeitig zurück. Die S-Bahnfahrt nach Wannsee scheint endlos zu dauern, und der erste Doppeldecker der Linie 99 ist völlig überfüllt. Glücklicherweise brummen die BVG-Busse fast im Minutentakt, und er schafft den nächsten. Als er am Bahnhof Drewitz völlig verschwitzt aussteigt, ist es zwanzig nach neun.

Es gelingt ihm sogar, um 12 Uhr 45 wieder in der Normannenstraße zu sein. Auf der Rückfahrt zur Friedrichstraße hatte er versucht, die Informationen des DEFA-Produktionsleiters nochmals zu durchdenken, aber immer wieder schoben sich die Erinnerungen an Veras Augen und ihren nachtwarmen Körper dazwischen.

Das war schon eigenartig, dass Dean Sanger ausgerechnet an dem Tag Selbstmord, angeblichen Selbstmord, begangen hatte, an dem sein langgehegter TV-Traum endlich finanziell genehmigt worden war. Endlich hätte er die „Bloody Heart“-Geschichte drehen können. Der Film, der ihm ein Denkmal setzen sollte, ja, mit dem er vielleicht sogar auf den Academy Award zielte und für den im Baltikum schon die Requisiten vorbereitet wurden. Ach, Vera Uschakowa, du sanfte, wilde Morgenschöne! War ihm vielleicht genau in diesem Augenblick der Erfüllung mit einem Schlage klar geworden, dass er für die Umsetzung dieses Traumes doch nicht gut genug war, eben doch nur ein „Amerikanischer Showman“? Ob ein westdeutscher Polizist mit einer KGB-Majorin Zusammenleben dürfte, sie vielleicht sogar ... Jedenfalls kennt er jetzt das DEFA-Filmgelände ganz gut, denn sein Gesprächspartner hatte mit ihm noch einen kurzen Rundgang durch die Studiohallen gemacht.

Und vor allen Dingen weiß er jetzt genau, wo die Übergabe stattfinden soll.

Ein Wunder, dass ihm die ganze Geschichte nicht auf den Magen geschlagen ist. Er hat richtigen Kohldampf und nimmt schnell noch das Stamm-Menü in der ehemaligen Stabskantine zu sich. Diesmal setzt er sich ganz zielbewusst neben die Staatsarchivarin, denn einen Versuch ist es allemal wert. Diese verdammte Neugier. Warum belässt er es nicht bei seinem jetzigen Wissensstand? Nein, er muss immer alles wissen.

„Ich möchte Sie um einen sehr persönlichen Gefallen bitten, Frau Theuerkom. Wahrscheinlich ist es zu viel verlangt, aber vielleicht finden Sie ja eine Möglichkeit mir da zu helfen ...“

Die Mit-Herrscherin über die MfS-Geheimnisse reagiert anfangs mit derart brüsker Ablehnung, dass Benedict schon das Allerschlimmste befürchtet, aber dann will sie doch sehen, was sie da machen kann.

An seinem Schreibtisch in der Zentral-Kartei wird er schon erwartet. Der Mann von der „Bürgerwehr“ hat augenscheinlich in den Vorgängen rumgeblättert und steht hastig auf, als der Hauptkommissar reinkommt.

„Ich dachte schon, Sie wären irgendwie verschütt gegangen! Da gibt’s ’ne Menge Leute, die große Sehnsucht nach Ihnen haben: ein Kriminalrat Ehlers aus Düsseldorf will, dass Sie ihn dringend zurückrufen, dann war da noch zweimal dieser VP-Meißner aus dem Präsidium und so ungefähr ein dutzend Anrufe von Leuten, die mir ihren Namen nicht nennen wollten! Ich bin doch hier kein Frollein vom Amt!“

Kaum dass er das gesagt hat, läutet der Apparat schon wieder.

„Sag ich doch: für Sie!“, langt der Bürgerkomiteeler ihm den Hörer rüber.

„Ja, Benedict!“, meldet er sich mit gehetzter Stimme.

„Na, Herr Kollege! Bisschen viel auf Achse was?!“

Der Düsseldorfer kann sich nicht helfen, aber irgendwie hat Meißners Stimme einen maliziösen Unterton. Immerhin war dem ja bekannt, mit wem er gestern Abend zusammen gewesen war. Ob er vielleicht auch...

„Sehen Sie zu, dass Sie spätestens um fünf im Präsidium sind. Wir haben ja wohl noch ein paar Sachen zu besprechen, oder?“

Nachdem Benedict dem MUK-Leiter seine Zusage gegeben hat, macht er sich zumindest dem Anschein nach wieder an das Studium der Raschke-Vorgänge. Den „Leitenden“ kann er von hier aus sowieso nicht erreichen. Was der will, kann er sich auch so denken: Wann sind Sie durch damit, Benedict? oder ähnliches. Immer nervöser blättert er in den Vorgängen herum, ohne deren Inhalt wirklich aufzunehmen. Wenn die nun nicht mehr anrufen? Und wenn es ihm nicht gelingt, sie zu dem Treffpunkt in Babelsberg zu locken? Ob sie verheiratet ist? Er hatte nicht danach gefragt. So eine ähnliche Sache hatte er schon mal vermasselt, weil er zu unflexibel reagierte. Aber das war am Anfang seiner Polizeilaufbahn, noch in Frankfurt. Inzwischen hat er ja auch so einige Tricks drauf. Sie war mit keiner anderen Frau vergleichbar. Auch mit Kitty nicht. Warum rufen die nicht an?

Kurz nach drei ist er so angespannt, dass man auf seinem Rippenfell Gitarre spielen könnte. Als das Telefon endlich, endlich klingelt, hat er das Gefühl, dass die überspannten Saiten hässlich quietschend reißen.

„Schon wieder diese unhöflichen Anrufer!“

Das sind sie. Jetzt geht es also los.

„Hallo! Benedict!“

Stille am anderen Ende.

„Hallo?“

„Wissen Sie was, Benedict, wir hätten Lust, den Deal abzublasen. Sie sind uns einfach zu oft zu wenig erreichbar. Unsere Leute glauben, dass Sie uns irgendwie abzocken wollen, und das gefällt uns nicht. Das gefällt uns überhaupt nicht!“

Schöne Schifferscheiße! Was tun? Flucht nach vorne?

„Bitte. Ist Ihr Problem. Ich habe hier noch einen Ermittlungsauftrag durchzuführen, und der geht vor. Das mit Dean Sanger, das ist für mich nur eine Nebensache. Wenn Sie nicht mehr wollen ... c’est la vie!“

Au verdammt, da hat er zu dick aufgetragen! Die Situation ist da. Er hat es wieder vermasselt. Der Anrufer hat einfach aufgehängt. Und jetzt? Da steht er ganz schön belämmert da, vor Meißner ... und vor Vera ...

Noch in seine stillen Selbstbezichtigungen hinein dringt erneut das Klingeln des Telefons.

„Ja? Benedict!“

„Also gut. Unsere Leute sind einverstanden. Wir machen das Geschäft ... wann?“

Der Schweiß läuft ihm von der Stirn brennend in die Augen, als er seinen Trick anbringen will. Er hatte versucht, sich in die Situation dieser Leute hineinzuversetzen. Sie wollten das Geschäft offenbar ziemlich schnell abwickeln. Wenn er also erreichen wollte, dass sie den heutigen Abend als Zeitpunkt akzeptierten, musste er selbst einen so späten Termin vorschlagen,dass sie sich unmöglich darauf einlassen konnten.

Wenn seine Kalkulation stimmte, wenn ...

„Am Freitag, um 20 Uhr!“

„Wollen Sie uns verarschen, Benedict? Damit Sie in aller Seelenruhe bis dahin irgendeine Schweinerei vorbereiten können? Nee, nee, so ausgeschlafen sind wir schon lange. Heute! Heute, 20 Uhr, und keinen Tag später!“

Jetzt muss er aufpassen. Die dürfen nichts von seiner ersten Erleichterung merken, also weiterspielen.

„Sind Sie verrückt! Wie soll ich denn bis heute Abend 50 000 DM auftreiben? Das muss doch erst organisiert werden!“

„Nein, nein. Zu organisieren brauchen Sie gar nichts, nur das Geld zu beschaffen. Und dazu hatten Sie ja auch schon länger Zeit. Entweder Sekt heute Abend oder Selters an jedem anderen Tag!“ Zähneknirschend willigt er schließlich ein. Man soll Spiele niemals überziehen, denn der schwierigste Teil liegt jetzt erst vor ihm. Er hatte sich in der Frage des Übergabetermins ihrer Unnachgiebigkeit beugen müssen, ln diesem Glauben mussten sie sich jedenfalls befinden. Durch die sehr knappe Terminvorgabe hatten sie ihrer Ansicht seinen Spielraum derart eingeengt, dass sie sich vor Gegenmaßnahmen nahezu sicher sein konnten. Und sie sind Händler. Händler agieren immer irgendwie mit dem Gefühl von Geben und Nehmen. Er hatte in der Frage des Termins geben müssen. Folglich ist es nach uraltem Handelsbrauch nur recht und billig, wenn er dafür als Gegenleistung von ihnen etwas bekommt.

„Und wo?“, versucht er seiner Stimme einen möglichst gleichgültigen Klang zu geben.

„Am Bahnhof Zoo!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. „Da fällt das im Gedränge nicht so auf. Geld gegen Material-Koffer, und wir können uns ganz schnell wieder absetzen!“

Das ist schon klar. Da gibt es viele Möglichkeiten schnell unterzutauchen. S-Bahn, U-Bahn, BVG-Busse oder einfach zu Fuß Richtung Kudamm. Er tut so, als müsste er sich das erst länger durch den Kopf gehen lassen, bevor er seine Bedenken vorbringt. „Gefällt mir nicht, gefällt mir gar nicht!“

„Wieso? Was ist damit nicht in Ordnung?“

„Erstens möchte ich mich von der Echtheit des Materials überzeugen können, bevor ich das Geld zahle und...“

„Wir haben Ihnen doch schon was geschickt!“

„Ja, das war eine Tonkassette, aber was ist mit den Videos? Ich möchte da wenigstens kurz mit einem transportablen Abspielmonitor rein sehen. Und dazu brauch ich Platz und keinen Volksauflauf um mich herum. Und zweitens, der Ort gefällt mir nicht, weil er von Ihnen kommt... genauso wenig, wie Ihnen der Übergabetermin gepasst hat, weil er von mir kam!“

Ja. Er hatte sie verwirrt. So viel ist mal klar. Am anderen Ende wird der Hörer abgeschirmt, und er hört wieder nur dieses diffuse Stimmengewirr. Manchmal glaubt er, russische Sprachfetzen identifizieren zu können. Mittlerweile hat er das Gefühl, als wäre sein Ohr auf die fünffache Größe angeschwollen.

„Und ... welchen Ort stellen Sie sich vor?“, klingt es dann doch endlich klar aus dem Hörer.

Der erste Schritt. Es ist nur der erste Schritt.

„Tja, also ... ich kenn, mich ja hier nicht so aus ...“

Jetzt nur keine zu lange Pause, damit die nicht wieder von sich aus einen Ort vorschlagen. Einundzwanzig ... zweiundzwanzig... dreiundzwanzig!

„Doch! Da fällt mir was ein! Ich hatte heute Vormittag draußen bei der DEFA in Babelsberg ein Gespräch. Durfte mir auch das Gelände ansehen. Da gibt es einen Platz ..."

Als Hauptkommissar Vitus H. Benedict erleichtert den Hörer auf die Gabel fallen lässt, ist sein Hemd klatschnass und das Gesicht Schweiß überströmt. Aber er hat es geschafft. Die Haie hatten die ausgelegten Köder geschluckt. Noch einmal greift er zum Telefon.

„Kollege Meißner? Sie können Ihren Freunden sagen, dass die Sache verabredungsgemäß läuft. Wir sehen uns dann um fünf im Präsidium!“

Ja. Heut Abend, und er würde Vera Wiedersehen.

Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek

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