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Die Frau des Onkels stand, das Gesicht nach oben gewandt, am Fuße der Treppe, sie schaute am Onkel vorbei und herauf zu ihm und sprach mit sich selbst über ihn, das merkte er. Als er herunterkam und an ihr vorbeigehen wollte, legte sie einen Arm um ihn und strich ihm mit dem anderen Arm das Haar zurück, dabei betrachtete sie ihn prüfend und versuchte, seinen Blick zu fangen. Aber er schaute weg. Er blickte ihr nur einen kurzen Augenblick ins Gesicht und spürte, wie sie ein bißchen von seinem Wesen stahl, doch er hatte nichts dagegen. Wärme durchströmte ihn, aber sie wurde rasch aufgesaugt.

»Mi amice«, sagte sie und ließ ihn los. Sie biß in ihre Nägel und ging mit gesenktem Kopf den Gang entlang und in einen Hof, in dessen Mitte von einem großen Stein Wasser herunterplätscherte. Es war ein anderer Hof als der, den er in der Nacht gesehen hatte. Auf Mauern und auf Dächern saßen Vögel mit langen, gekrümmten Schwänzen, solche Vögel hatte er bei den Bauern an der Anlegestelle gesehen. Er zählte mindestens vier davon, jeder auf seiner Mauer oder seinem Dach, und sie legten den Kopf in den Nacken und schrien, als sagten sie kikeriki.

»Du mußt etwas essen, bevor du aufbrichst«, sagte der Onkel in der Sprache der Baummarder.

Er schüttelte den Kopf. Die Frau des Onkels sah ihn an. Sie schien auf einmal sehr weit weg und sehr klein zu sein.

»Der Steuermann wird dich begleiten«, sagte der Onkel. Er klatschte in die Hände, und der Mann, den er in der Nacht gesehen hatte, erschien am Ende des Ganges.

Der Onkel rief ihm etwas in der fremden Sprache zu, die die Ruderknechte sprachen. Dann verschwand er in einem Gemach, das er zuvor nicht gesehen hatte. Er ließ die Tür offen und kam gleich zurück. In der Hand hielt er zehn runde, helle Metallstücke, die er ihm hinstreckte, doch er wollte sie nicht nehmen.

»Das wird dir helfen, wenn du in Schwierigkeiten gerätst«, sagte der Onkel, »wenn du Hilfe brauchst oder wenn jemand dir feindlich gesinnt ist. Dann mußt du ihm einen, zwei oder drei von diesen Denaren«, so nannte er sie, »geben. Dann kommst du weiter, wirst losgelassen.«

Arga-ir schüttelte den Kopf. Der Onkel schaute ihn an, kramte dann in seinem Gewand und fand einen Beutel, in den er die Denare steckte.

»Das ist dumm von dir«, sagte der Onkel heiser. Er wischte sich über die Stirn und rieb sich die Augenwinkel. Er trat hinaus auf den Hof, stellte sich neben seine Frau und redete gedämpft mit ihr.

Sie schüttelte den Kopf, und mit einem Fuß, der unter ihrem langen Kleid herausschaute, scharrte sie am Rand einer Pfütze, die der Tau hinterlassen hatte. Die Hände hatte sie auf den Rücken gelegt, und sie schien zur Seite zu blicken, hin zu ihm, der sie nicht ansehen wollte.

Das Wasser plätscherte vom Stein herab. Die Vögel krähten. Von der Feuerstelle her ertönte Gesang. Man hörte, wie das Haustor aufgestoßen wurde und gleich darauf Schritte. Der Steuermann erschien und hinter ihm der Mann aus der vergangenen Nacht. Sie hatten den Schatten hinter sich.

Der Steuermann trat auf den Onkel zu und begrüßte ihn mit einer Handbewegung. Der Onkel zeigte auf ihn, »Arga-ir« hörte er ihn sagen.

Der Steuermann sah ihn lächelnd an. Er kam zu ihm hin, musterte ihn von oben bis unten und sagte in der Sprache der Baummarder: »Ich werde dich zu dem Stadttor bringen, das zur Heimat deiner Väter zeigt und zum Großen Bären. Wenn wir beim Tor sind, werde ich dir erklären, wie du gehen mußt, aber du hast viele Tagereisen vor dir, und unsere Priester«, so nannte er sie, »haben uns einen harten Winter vorausgesagt.«

»Laß uns gehen«, sagte er zum Steuermann. Er trat in die Mitte des Hofes und sagte: »Onkel, der Sohn deines Bruders, Arga-ir, geht.«

Die Augen des Onkels blickten grau und alt. Er nickte, aber nicht wohlwollend.

Arga-ir sah die Frau des Onkels an, sie wirkte traurig. Er sagte zu dem Onkel: »Onkel, sag deiner Frau, falls man ihr einmal ein Wolfsfell bringen sollte, so stammt es von ihres Mannes Brudersohn Arga-ir.«

Er nickte bei seinen Worten und neigte den Kopf.

Arga-ir folgte dem Steuermann und spürte ihre Blicke im Rücken. Sie kamen auf den breiten Weg vor dem Haustor, das durch das Gewicht eines großen, an einem Seil hängenden Steines von selbst zufiel.

Männer, Frauen und Kinder waren unterwegs, es wimmelte wie in einem Fischschwarm. Da zogen Tiere hoch beladene Karren, wie sie es nannten, und wirbelten Staub auf. Die, die ihnen entgegenkamen, trugen Körbe mit verschiedenem Gemüse und mit Fleischstükken. Die, die mit ihnen gingen, hatten leere Körbe, stellte er fest.

Als sie über die Brücke schritten, sah er, daß dort Netze an langen Stangen in den Fluß getaucht und mit Fischen gefüllt wieder herausgehoben wurden, mit kleinen Fischen, die er nie essen würde. Noch einen Winter und einen Sommer, und sie wären fett und gut.

Von der Brücke aus erblickte er flußaufwärts in der Ferne den Wald, Wald bis dicht an den Fluß, und er fühlte eine Freude in sich aufsteigen, wie er sie lange nicht gespürt hatte. Dort war der Weg zurück.

Auf der anderen Seite der Brücke wurde das Gewimmel noch dichter, und hier waren große steinerne Gebäude, die verschlossen aussahen. An den Eingangstüren standen Männer und öffneten bei allen, die hineinwollten, die Gewänder, warfen neugierige Blicke hinein.

»Der Palast des Präfekten«, sagte der Steuermann, der sonst nichts sagte, sondern nur lächelnd voranging und ihnen einen Weg bahnte.

Sie kamen über die nächste Brücke, die schmaler war. Von beiden Seiten drängten die Leute, und der Geruch, der von den Körben aufstieg, erstickte ihn schier.

Auf der anderen Flußseite befand sich ein großer Platz, und die Menschenmenge dort war unheimlich. Er hätte nie gedacht, daß es so viele Menschen gäbe.

In großer Zahl waren Marktstände aufgereiht, einer neben dem andern, mit Gemüse, Fleisch und Fisch im Überfluß. Da war ein Rufen, ein Schreien und Johlen, offenbar alles wegen der Waren. Seine Nase nahm den Geruch von Austern und Muscheln wahr, das Fleisch aber stammte von zahmen Bauerntieren, nirgends ein Hase, kein Hirsch, weder Ente noch Gans, obwohl sie jetzt fett genug sein mußten.

»Nun sind wir bald am Ziel«, sagte der Steuermann und deutete den breiten, mit Holzbohlen belegten Weg hinunter. Am Ende des Weges war ein Gebäude mit einem Tor, das offenstand.

Auf der einen Seite des Torhauses befand sich ein hoher Bretterzaun, und dahinter stieg an vielen Stellen Rauch auf, nicht von Holzfeuern, es war der saure Rauch der Holzkohle. Er vernahm den hellen Klang von Hammerschlägen, wie damals bei der Anlegestelle. Bei einem Blick durch den Zaun sah er von Asche verdreckte Männer in Gruben sitzen und mit großen und kleinen Hämmern schlagen, wobei sie mit der anderen Hand etwas Unsichtbares festhielten, und einer umklammerte mit zwei Stangen etwas Glühendes und hielt es dem, der hämmerte, hin. Ab und zu machten sie eine Pause, um in die Grube zu spucken, in der sie standen, oder um sich einen Schweißtropfen von Wange oder Schläfe zu wischen, und manchmal redeten sie während des Hämmerns sehr aufgebracht mit ihrem Gehilfen, als müßte es besser gemacht werden.

Zwischendurch hoben sie das, woran sie arbeiteten, hoch, das eine Ding glich einem Speer, ein anderes einer Axt, und manche Gegenstände waren so klein, daß sie kaum für etwas brauchbar schienen. Aber dann beobachtete er, wie sich einer so einen kleinen Gegenstand auf die Brust hielt und laut lachend zu beiden Seiten Brüste andeutete, und er begriff, daß es sich um einen Schmuck für eine Frau handelte. Er dachte, daß er gerne der Bauerntochter so etwas mitbringen würde, vergaß es aber gleich wieder.

Er hatte gar nicht gemerkt, daß er nur dastand und zuschaute, während der Steuermann ihn lächelnd beobachtete.

»Das sind unsere besten Schmiede«, sagte der Steuermann. »Sie sind so gut wie die Schmiede von Damaskus.«

»Ja«, erwiderte Arga-ir, »das sind Schmiede.«

Sie gingen weiter zu dem Stadttor, obwohl Arga-ir noch länger hätte stehenbleiben und den Schmieden zuschauen können. Er überlegte, ob er wohl woanders wieder Schmieden begegnen würde und ob er dann vorbeigehen oder sich ihre Arbeit ansehen sollte.

Sie waren am Tor angelangt, und der Steuermann wandte sich an einen Mann, der hier stand, und zeigte auf Arga-ir und redete über ihn. Der Mann am Tor nickte bloß, und der Steuermann winkte und sagte lächelnd zu ihm: »Du kannst gehen.«

Er trat durch das Dunkel des Tores, ohne sich umzudrehen, aber der Steuermann rief hinter ihm her, und er mußte sich, gerade als er hinauskam ins Licht, umdrehen, und der Steuermann folgte ihm ins Licht und sagte: »Ich werde dir erklären, wie du gehen mußt.«

Der Steuermann streckte den Arm aus und erklärte ihm, daß er viele Tage dem Fluß entlang gehen sollte, bis fast zu dessen Ursprung, und er sollte sich in acht nehmen und nicht die Bauern in ihren Dörfern erzürnen. Dann sollte er über einen Berg steigen, um dann erneut auf einen großen Fluß zu stoßen, dem er viele, viele Tage folgen sollte. An einer Stelle müßte er ihn überqueren, vielleicht mit einem Fischer, und dann sollte er – immer in Richtung Großer Bär – durch endlose Wälder und über Berge, wo es im Winter sehr kalt werden würde, gehen. Danach würden große Flüsse kommen und dann eine weite Ebene, wieder ein Fluß und wieder ebenes Land, das schmal war, und von da an wäre er auf dem Weg nach Hause.

Arga-ir schwieg, er versuchte sich alles vorzustellen, aber es würde anders werden als beschrieben, Tag für Tag anders.

Der Steuermann fügte lächelnd hinzu: »So verhält es sich.«

Er drehte sich um und ging durch das Tor. Arga-ir schaute ihm einen Augenblick nach, dann wandte er sich dem Weg zu, dem er folgen sollte.

Das Mädchen mit der Muschelkette

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