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PROLOG

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Geh weg, wende dich ab, lass es hinter dir.

Ich gehe einfach raus.

Just walk away.

Unter dem Gesichtspunkt der Nächstenliebe, der Solidarität, dem Ideal des ewigen Friedens mögen die oben stehenden Sätze, werden sie absolut verstanden, all den Armen und Notleidenden, den „Verdammten dieser Erde“, gegenüber fühllos klingen.

Um es vorweg klarzustellen: Sich abzuwenden mag Ausdruck einer Grausamkeit sein, bestenfalls einer Blindheit vor dem Elend. Aber es gibt auch eine Beschwernis, wonach wir in unseren engmaschigen, hoch vernetzten Gesellschaften unter dem Druck mannigfacher Toleranzgebote und einer ebenso tiefdringenden wie umfassenden Psychologisierung permanent aufeinander zu- und eingehen sollten. Gerade im Wunschtraum der harmonischen Verdichtung menschlicher Beziehungen liegt jedoch eine Quelle persönlichen Unwohlseins und des beengenden Gefühls, die Akteure rundum seien zugleich Stützen eines Existenzgefängnisses, aus dem es kein Entkommen gibt.

Dieses Gefühl führt auf Dauer zu krisenhaften Beziehungen, persönlich und sozial: Beziehungen, die im Abscheu, ja im Hass vor bestimmten, als einengend und bedrohlich erlebten Anderen gipfeln – die „anderen“ groß geschrieben. Es gilt, einer Gesellschaft vorzubeugen, in der sich die Vielen, die Viel-zu-Vielen ineinander regelrecht „verbeißen“. Wir leben im Zeitalter der Verdichtung, die sich in den Mechanismen der Globalisierung wie den beengenden Ideologien des Neonationalismus äußert.

Es bedarf daher, neben der großen Politik im Geiste der liberalen Tradition, einer individuellen „Politik“ des Loslassens, des Sein- und Gut-sein-Lassens. Man muss auch weggehen können, ohne deswegen als Drückeberger oder Verräter an der angeblich gemeinsamen Sache gescholten, gar verfemt oder ausgestoßen zu werden.

Freilich lassen es nicht alle Situationen unter allen Umständen zu, auf eine moralisch vertretbare Weise unserem Titelmotto gemäß zu agieren: „Umdrehen und weggehen.“ Die Lebenskunst der Abwendung erfordert eine differenzierte, belehrte und kluge Sicht der persönlichen und überpersönlichen Angelegenheiten. Loslassen-Können und Loslassen-Dürfen bilden einen moralischen Komplex. Davon soll im Folgenden, unter Berücksichtigung eines weiten Spektrums an Gelegenheiten und Hindernissen, die Rede sein. Das Prinzip, das uns dabei leiten wird, ist ein dialektisches: Man möchte sich dort, wo man gerade weilt – zu Hause, bei der Familie, bei Freunden, existenziell: auf Erden –, beheimaten; doch bleiben will man nur im Bewusstsein, nicht bleiben zu müssen.


In den – wie sie genannt werden – Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg (1917/18) von Franz Kafka gibt es eine kurze Fabel, eigentlich einen Klage-Aphorismus (Nr. 40), der von der „Zelle“ handelt, in der zu leben man auf Erden gezwungen wurde: Man hat seine Zelle zu hassen gelernt und hofft, in eine andere, neue Zelle verbracht zu werden, wohl wissend, dass man auch diese bald hassen wird. Aber in dieser unserer Hoffnung, so Kafka, schwinge die Hoffnung mit, beim Transport werde der „Herr“ zufällig den Gang entlangkommen und sagen: „Diesen sollt ihr nicht wieder einsperren. Er kommt zu mir.“

Unser irdisches Schicksal scheint es zu sein, uns nicht umdrehen und weggehen zu können. Uns wurde ein Platz zugewiesen, es ist eine „Zelle der Existenz“, eine von unzähligen Zellen, die alle vom Sein bei Gott gleich weit entfernt sind; deshalb, so Kafka, der „beginnende Wunsch zu sterben“. Der Rest an Hoffnung, der bleibt, ist nicht von dieser Welt: Nur der „Herr“ selbst könnte uns befreien – von der Qual der Endlichkeit erlösen –, indem er uns zu sich nimmt.

Aber was wäre, wenn ER uns zu sich genommen hätte? Kafkas Hoffnung ist von einer tiefen Zweideutigkeit erfüllt. Lag nicht der tiefste Grund unserer Verzweiflung darin, dass wir unsere Zelle nicht aus eigenen Stücken verlassen konnten? Dass die Zellentür nicht offen stand, nicht zu öffnen war? Statt auf die Zellenwände zu starren, wollten wir uns „umdrehen und weggehen“, nach draußen, wo uns keine Wände mehr daran gehindert hätten … ja, um was zu tun? Diese Frage erscheint dem Gefangenen des Lebens, der fortwährenden Banalität, der Qual des Existieren-Müssens, zunächst nichtig. Er will nur eines, er will raus! „Umdrehen und weggehen“ – darin beschlossen ist ein Phantom der Freiheit. Denn dass sich die Freiheit womöglich als die schlimmste aller Gefangenschaften entpuppen könnte, dieser existenzielle, gar metaphysische Notstand des Menschen, wird erst Thema, wenn die Freiheit bereits errungen ist.

Nimm an, wir könnten uns von jedem Punkt aus umdrehen und weggehen, Abwendung wäre immer und überall möglich. Aber was wäre dadurch abgewendet? Welchem Schicksal wären wir entronnen? Und plötzlich beginnt es uns, den dann Freiesten unter den Freien, zu dämmern. Wir wären die zur Schicksalslosigkeit Befreiten: Unser Leben hätte keinen anderen Sinn mehr als den, welchen wir ihm willkürlich beimessen – und wäre das nicht bloß eine andere Art zu sagen, dass unser Leben, in all seiner Beliebigkeit, zugleich sinnlos sei?

Und so müssten wir einsehen, dass dies, unsere uns auferlegte Schicksalslosigkeit, die schlimmste aller möglichen Zellen wäre. Die Zelle, die keine Wände hat, hat keinen Ausgang. Alles, worauf wir einst hofften, war, uns umdrehen und weggehen zu dürfen; doch ohne Wände, ohne Zellentüre, ohne jegliches Abwendungshindernis würde auch diese Hoffnung zunichtewerden.

Und inwiefern vermöchte uns dann der „Herr“, der den Gang entlangkommt, dabei helfen, damit wir in die richtige Freiheit entlassen werden? Er würde uns in sein Haus mitnehmen, von dem es in den Evangelien heißt, dass es dort, „im Haus meines Vaters“ – so Jesus –, viele Wohnungen gebe. Dort könnte man sich „umdrehen und weggehen“, aber man bliebe aus gutem Grund.

Womit wir es bei den „vielen Wohnungen“ zu tun haben, das ist – ganz gegen Kafkas Stimmungslage – die Einlösung der Paradies-Sehnsucht, ausgedrückt im Bild des Zuhauseseins: einem Sein, wohinein man nicht schicksalhaft verschlagen würde. Man könnte dieses Zuhause wieder verlassen, sonst wäre es keines; dort erst wäre der richtige Verweilort, das Sinnzentrum eines Lebens, von dem wir hoffen, es möge währen.

Umdrehen und Weggehen

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