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DER RATTENFEHLSCHLUSS

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Es war der österreichische Verhaltensforscher, Nobelpreisträger und Zivilisationspessimist Konrad Lorenz, namentlich in seinem Buch Die acht Todsünden der Menschheit (1973), welcher vor den Verdichtungen warnte, die seiner Meinung nach bevorstanden: Zu viele Menschen, zu wenig Raum! Damit bezog er sich auf das rasche Wachstum der Menschheit einerseits, vor allem jedoch auf die Ballung der Menschenmassen in den großen Städten. Dort, so Lorenz, müsste die Gewalt ausbrechen, die eine Folge davon ist, dass die Menschen gezwungen sind, sich andauernd zu nahe zu kommen. Abwendung sei unmöglich. Drehe man sich um, geschehe dies, aufgrund mangelnden Platzes, notwendigerweise so, dass man sich in die Masse hineindrehe, aus der man sich herausdrehen wolle. Umdrehen und weggehen? Unmöglich, es sei denn, man werde zum Aussteiger, ziehe in die Wildnis, was aber – sofern es den Stadtbewohnern überhaupt als wünschenswert erscheine – ein frommer Wunschtraum bleiben müsse, noch dazu einer, der eine geringe Kenntnis der wirklichen Wildnis verrate.

Ich lege jetzt Konrad Lorenz Sätze in den Mund, die er so nie gesprochen hat. Aber der Tenor stimmt, und ihn möchte ich hier aus Demonstrationsgründen verstärken. Denn in seinen Philippiken, seinen Standpauken und Brandreden, bezog sich Lorenz gerne auf Experimente mit Ratten. Sperrte man Ratten in einen derart engen Käfig, dass die Toleranzgrenze, die sie benötigten, um sich aus dem Weg zu gehen, unterschritten wurde, dann begannen sie ihre Nachbarn wegzubeißen. Aber nicht nur das: Der Stress, der sich in ihnen aufgrund der übergroßen Nähe aufbaute, nahm überhand und sie fingen an, sich selbst zu verletzen. Kurzum, das Ganze endete, falls es nicht von der Versuchsleitung abgebrochen wurde, in einem Gemetzel. Da auch der Mensch ähnliche Toleranzgrenzen hat – auch er ist ein Produkt der Evolution –, muss dieser Logik zufolge die zunehmende Dichte um einen herum verstärkt als unangenehm empfunden werden, bis sie schließlich im Kampf der Artgenossen endet. Da nun aber der Kampf in zivilisierten Gesellschaften nicht äußerlich, jedenfalls nicht unter Einsatz körperlicher Gewalt ausgetragen werden darf, wird er, solange es geht, verinnerlicht.

Schon Norbert Elias, der bedeutende Theoretiker der westlichen Zivilisation – sein Werk Über den Prozess der Zivilisation (1939, 1949) gilt als Klassiker der Soziologie –, hatte, von Freud beeinflusst, die These vertreten, dass Fortschritt tiefgreifende Kosten habe. Vor allem muss der äußere Kriegsschauplatz „nach innen“ verlegt werden, in die Psyche des Einzelnen. Dieser darf seine Affekte nicht mehr „unzivilisiert“ ausleben, daher bleibt ihm nur übrig, sich zu beherrschen. Aber andauernde Beherrschung fordert ihren Tribut, wenn sie langwierig und breitflächig praktiziert wird. Es entstehen Neurosen, und am Ende steht womöglich ein psychischer „Zellenknall“, eine mörderische Handlung oder ein Amoklauf. Das gründet wesentlich in der Verdichtung der Umwelt, die uns emotional stresst, mit Hass erfüllt oder unerträglich anödet.

Doch im Unterschied zu Lorenz wusste Elias den grundsätzlichen Beitrag der Kultur besser zu taxieren. Die Kultur, könnte man sagen, ist das gegen den biologischen Druck gerichtete Medium der Entdichtung. Es gibt kulturell eingeschliffene Verfahren, um aus der Enge der menschlichen Begegnungen den emotionalen Druck herauszunehmen, ja ihn erst gar nicht entstehen zu lassen, weil eine bestimmte „Interpretation“ oder symbolische Modulation der Dichte dazu führt, dass sich der Raum, in dem wir leben, erweitert.

Wir alle kennen den Begriff des Respektabstands. Damit ist ein Instrument der sozialen Abstufungsbekundung gemeint. Je höherrangig das Gegenüber ist, umso größer wird der Abstand, den man einhalten sollte, um nicht die Intimsphäre, im Speziellen die Hoheitssphäre des Höhergestellten, zu verletzten. Gleichzeitig ist der Respektabstand auch ein Mittel, um sich durch die Errichtung einer imaginären Mauer andere Subjekte buchstäblich vom Leib zu halten.

In letzter Zeit ist dieses Distanzierungsphänomen häufig in Diskussionen aufgetaucht, bei denen Frauen darüber klagten, dass ihnen ein Mann „zu nahe“ kam, sie also belästigte. Die beschuldigten Männer waren naturgemäß oft gegenteiliger Ansicht, obwohl sie meist die obligaten Worte und Gesten des Bedauerns nachlieferten: Man befand sich abends in einer Bar, man hatte etwas getrunken und die Kombination von Ort, Zeit und Amüsierbetrieb veränderte – aus Sicht der Beschuldigten – die implizite Abstandsregel. Man ging in den Flirtmodus über, eine Methode des „Umschaltens“, derentwegen die Geschlechter sich häufig in die entsprechenden Lokalitäten begeben.

Aufgrund unklarer Benimmpostulate in einer solchen Situation – die Unklarheit dient aber auch dazu, das Aufeinander-Zu, Voneinander-Weg prickelnd, ja erotisierend zu gestalten – kann es zu männlichen Annäherungen kommen, welche unterschiedlich sensibilisierte Frauen fallweise als allzu nahe empfinden, zumal dann, wenn der Mann zum „Grapscher“ wird. Die dadurch schlagartig eintretende Situation der Übernähe führt zu den sattsam bekannten Rhetorikritualen aus Empörung und Anklage auf der einen Seite, Dementi, Beschämung und Zerknirschung wegen ungebührlichen Benehmens auf der anderen.

Umdrehen und Weggehen

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