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DAS PARADOX DER ENTDICHTUNG

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Die Dialektik von Regeln der Entdichtung und der Zulassung von Nähe („Intimität“) findet sich in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, von der Bewegungsfreiheit auf öffentlichen Plätzen über das Hin und Her in Büros bis hinein ins Ehebett. Menschen sind keine Ratten. Es stimmt zwar, dass das Eingeklemmtsein zwischen Fremden eine unangenehme und bisweilen Panik auslösende Erfahrung ist, die in Aggression münden kann – man denke bloß an den voll besetzten Lift, der plötzlich stecken bleibt. Aber das sind eben die Ausnahmen von der Regel.

Ein Mensch, der sich mit mir zusammen in einem engen Raum befindet, muss keinerlei negative Reaktionen auslösen; er sitzt neben mir an seinem Computertisch, ohne dass ich von ihm Kenntnis nehmen müsste. Er ist, zum Beispiel als mein Arbeitskollege, auf eine Weise da, als ob er unsichtbar wäre. Dieser Effekt ist das Ergebnis einer institutionellen Übereinkunft, welche die Präsenz des anderen „depotenziert“, man darf sich nur nicht in die Quere kommen durch Verhaltensweisen, die am Arbeitsplatz unangebracht wären. Ja, es sind gerade die Regeln des korrekten Benehmens (code of conduct, regulatory compliance), die den Raum imaginär erweitern und das räumlich dichte Miteinander der darin befindlichen Personen „entdichten“.

Es gibt nun aber auch ein Paradox der Entdichtung (wenn man hier von einem „Paradox“ sprechen möchte). Überall dort, wo sich in unseren Gesellschaften menschenreiche Orte befinden, besonders in den städtischen Ballungszentren, erzeugt die Institutionalisierung von Regeln, die dabei helfen, Räume zu entdichten, ein dichtes Geflecht an Verhaltens- und Redevorschriften, die ihrerseits irgendwann als beengend empfunden werden. In den letzten Jahren hat dieses Phänomen besonders an den amerikanischen Eliteuniversitäten üppig Blüten getrieben. Um den Studierenden zu helfen, sich „nicht bedrängt zu fühlen“ – und womöglich über Gebühr gestresst zu werden –, wurden im Rahmen der regulatory compliance Regeln eingeführt, die, wie sich bald herausstellte, das genaue Gegenteil bewirkten.

In den Geistes- und Sozialwissenschaften mussten die Lehrenden schon vor Beginn des Kurses bekannt geben, dass in den verwendeten Unterrichtsmaterialien möglicherweise Passagen auftauchten, die einige Teilnehmerinnen oder Teilnehmer belästigen, verstören, ja krankmachen könnten. Außerdem mussten die Lehrenden eine Reihe von sogenannten Trigger-Wörtern vermeiden. Denn solche Wörter, besonders sexuell offensive, könnten – so die zimperliche Sorge – zur Folge haben, dass sich der eine oder die andere aufgrund der Erinnerung an eigene Erlebnisse aufgewühlt und verletzt fühlte. Hinzu kamen alle Ausdrücke oder Redensarten, die der Political Correctness zuwiderliefen. Schließlich wurden auch Ansichten verbannt, die dem angeblich liberalen Lebensstil mit seinen vielen Nichtdiskriminierungsregeln widersprachen.

Was inneren Raum schaffen sollte, um die äußere Enge im multikulturellen System erträglich zu machen, wurde rasch zu einer unerträglichen Zwangsjacke in den Beziehungen zwischen Lehrenden und Schülern, und auch zwischen den Studierenden selbst. Statt zu entdichten, wurde sozial verdichtet, und zwar auf eine widersinnige Weise: Es wurden nicht nur die höchstpersönlichen Sensibilitäten in Höhen geschraubt, wo ein gedeihliches Miteinander bald unmöglich schien, es wurden darüber hinaus der Intoleranz gegenüber abweichenden Gesinnungen und, schlimmer noch, dem Denunziantentum Tür und Tor geöffnet.

Das ganze System der Kontrollen, die dazu dienen sollten, den inneren Raum der jungen Menschen nicht zu beschädigen und außerdem freizuhalten für die Öffnung des Geistes und der Emotionen, machte es schließlich unmöglich, die entscheidende Bewegung gegenüber andrängenden Erlebnissen auszuführen – jene Bewegung, die ein Entkommen aus dem System der „korrekten“ Zwänge bedeutet hätte: sich umzudrehen und wegzugehen.

Denn gerade in einem solchen Verhalten sah die Compliance der angeblich zwanglosen Eingliederung in den Sozialverband das zwanghafte, neurotische und passiv-aggressive Abrücken aus der Gemeinschaft. Da das Universitätssystem auf die „Verflüssigung“ von Zwängen durch diskursive Verfahren normativ ausgerichtet ist, wäre eine Abwendung vom „Diskurs“ zugleich ein Zeichen dafür, dass man die Regeln des Systems ablehnt. Es ist eine besonders repressive Strategie gewissermaßen liberal-geschlossener Institutionen, die womöglich stolz auf ihre lückenlose moralische Strukturierung sind, dass man sich entweder freiwillig und einsichtig den vorgegebenen Sprachregelungen und Verhaltensnormen unterwirft oder als Außenseiter zu erkennen gibt.

Die angesprochenen Szenarien zeigen zweierlei: Erstens, dass die biologische Rattenfabel auf menschliche Gesellschaften nicht zutrifft, sobald in ihnen kulturelle Regeln den Ton angeben, ausgenommen den Fall, wo der kollektive Stress aufgrund innergesellschaftlicher Katastrophen oder von außen eindringender Gefahren zu groß wird. Zweitens, dass das kulturelle Programm der Entdichtung dichter Räume und Verhältnisse in sein Gegenteil umschlagen kann, wenn die Vorsichtsmaßnahmen gegen die aufdringliche und womöglich verstörende Nähe der anderen so engmaschig werden, dass sie schließlich das Gegenteil einer Entdichtung bewirken.

Solche Maßnahmen wirken dann eher wie Fesseln, die nicht nur den Einzelnen binden, sondern außerdem beständig Gefühle der Übervorsicht und des Misstrauens mit all den damit verbundenen Störungen des Zusammenlebens bewirken. Im Rahmen entsprechender Fehlentwicklungen wird jeder Versuch der Abwendung dadurch vereitelt, dass er als ein Akt der Aggression gegenüber der „politisch korrekten“ Gemeinschaft stigmatisiert wird – statt als ein Akt respektiert zu werden, dessen Ziel es ist, sich aus einem wesensmäßig unfriedlichen Feld wegzubewegen.

Umdrehen und Weggehen

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