Читать книгу Die 15 Gebote des Lernens - Peter Struck - Страница 15
1.7 Jeden Tag ’ne neue Sau durch’s Dorf: Kultusminister zwischen Schuluniformen und Benimm-Bausteinen
ОглавлениеIn Äußerlichkeiten zu investieren, schafft keinen inneren Halt.
Der PISA-Schock saß: Erziehung und Bildung gerieten in das Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit, und da Finnland international und Bayern national so gut abgeschnitten haben, schielen alle auf diese beiden Regionen. Nur, wohin sollen wir pilgern, um Antworten für die Schule der Zukunft zu finden, da Finnland und Bayern doch unterschiedliche Richtungen einschlagen? In Skandinavien wird die notenfreie Gesamtschule begünstigt, in Bayern sind gerade die Noten ab Klasse 1 wieder eingeführt worden.
Die Reformscheu wird längst als deutsches Problem beschrieben, aber Reformvorschläge gibt es zuhauf:
In jedem Sommerloch lebt die Diskussion um Schuluniformen bundesweit wieder auf; der Bremer Schulsenator Willi Lemke wünscht sich die bauchfrei-freie Schule; Hamburg setzt ein unpraktikables Lehrerarbeitszeitmodell um, das nicht nur bei Lehrern, sondern auch bei Eltern und Schülern auf heftigen Widerstand stößt; die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave überlegt, Lehrer nach Leistung zu bezahlen, und erntet die Frage, wie man diese überhaupt messen könne; die Hamburger Grünen fordern die flächendeckende neunjährige Grund- und Ganztagsschule, während die zuständige Bildungsbehörde gerade die Berufsschulen zu privatisieren gedenkt; die brandenburgische und schleswig-holsteinische SPD beschließen, was die baden-württembergische Handwerkskammer als Folge von PISA vorschlägt, nämlich die neunjährige Grundschule; und Bayern erwägt eine Quotenregelung für Ausländerkinder in Schulklassen. In dieses Bukett passt dann auch der Vorstoß des saarländischen Kultusministers Jürgen Schreier, der eine Kommission einsetzen will, um ein Curriculum „Benimm-Bausteine“ für seine Schulen entwickeln zu lassen.
Bei all diesen Vorschlägen gibt es jedoch keinerlei Konsens in der Kultusministerkonferenz. Die Kulturhoheit der Länder hat jedem der 16 deutschen Schulminister eine Spielwiese zur eigenen populistischen Profilierung eröffnet, und die wird medienwirksam genutzt; denn fast alle diese Ansätze stoßen jeweils zunächst bei einer Mehrheit der Wähler auf Zustimmung – so wie die Idee eines Unterrichtsfaches Benehmen. Das war schon vor Jahren so, als der damalige sächsische Kultusminister Matthias Rößler seinem Land die Wiedereinführung von „Kopfnoten“ für Fleiß, Mitarbeit, Ordnung und Betragen bescherte und dafür die Zustimmung der Stammtische einheimste.
Das Problem fängt jedoch bereits damit an, dass Betragen und Benehmen Begriffe von früher sind, die gar nicht mehr in unsere Zeit mit dem eigentlich durch unser Grundgesetz gewollten mündigen Bürger passen. Sie wecken Befürchtungen, hier könne etwa bloß Äußerliches im Sinne von taktisch geschicktem Angepasstsein, von Schauspielerei oder gar Opportunismus gemeint sein. Und deshalb setzt Jürgen Schreier auch nach, indem er seine Benimm-Bausteine als Elemente auf dem Weg zu einem „zivilisierten Umgang“ umschreibt, und er macht diesen merkwürdig unklaren Begriff dann konkreter, indem er Bestandteile aufzählt: Höflichkeit, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit, aber nicht Tapferkeit, die der griechische Philosoph Platon vor mehr als zweitausend Jahren noch in seinen Tugendkatalog aufnahm, und auch nicht Solidarität und Kritikfähigkeit, die schon vor 28 Jahren einem Beschluss der hamburgischen Bürgerschaft für die Allgemeinen Lernziele der Schulen per Streichung in der Vorlage zum Opfer fielen.
Soziales Verhalten – das wäre der zeitgemäße Begriff in der Nachfolge von Betragen und Benehmen – ist spätestens seit 1949 ein Gebot für unser demokratisches Zusammenleben. In der Tat haben die Leserbriefschreiber Recht, die auf solche „ungezogenen“ Schüler verweisen, welche einer alten behinderten Dame keinen Platz im voll besetzten Bus anbieten, und die zu bedenken geben, dass Knigge-unkundige junge Menschen Bewerbungsnachteile bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz haben. Und so werden in renommierten deutschen Hotels schon seit Jahren teure Benimm-Kurse für Kinder angeboten, die reichlich von ehrgeizig ihren Nachwuchs in eine Karriere hinein verplanenden Eltern genutzt werden, damit Startvorteile gegen Verliererschicksale in einer von Konkurrenz beherrschten Gesellschaft voller Ich-AGs erobert werden können. Höflichkeit überzeugt; sie kann aber auch eine Waffe in einer Ellenbogen-Gesellschaft sein, und die ist allemal besser als die wirkliche Waffe, die angeblich jeder dritte Jugendliche zur Wahrung seiner Interessen mit in die Bremer Schulen bringt.
Während Der Spiegel einen Bremer Lehrer vorstellt, der beste Erfahrungen mit seinem Benimm-Unterricht gemacht hat, berichten die Lübecker Nachrichten von einem Lehrer aus Neustadt in Holstein, der damit gescheitert ist, weil die Schüler und Eltern Sturm dagegen liefen, denn er wollte unter anderem Aussehen und Kleidung benoten.
Seit Jahren fordern Politiker bundesweit in Sonntagsreden eine „Werteerziehung“, nur sagen sie nie dazu, wie die umzusetzen ist. Werte von oben herab auf junge Menschen rieseln zu lassen, ist die Art und Weise, wie Obrigkeitsstaaten ihre Untertanen erziehen. Aber Werteerziehung auf der Basis unseres Grundgesetzes muss bedeuten, jungen Menschen dabei zu helfen, selbst angemessene Werteentscheidungen treffen zu können, und das geht nur, wenn man ihnen Bewertungs- und Verhaltensalternativen zur Verfügung stellt und unerwünschtes Verhalten durch Gleichaltrige konfrontativ verpönen sowie erwünschtes durch sie belobigen, eintrainieren und verstärken lässt. Vor allem muss das alles dezent geschehen – weil sonst mit pubertärem Protest das Gegenteil erreicht wird –, und zwar durch Vorbilder, zu denen Eltern, Lehrer und auch Politiker gehören, und durch die Gestaltung von Takt, Stil, Ton, Ästhetik und Atmosphäre, wie es seit Jahren in Norwegen passiert: Schon in der Ausbildung üben Lehrer dort viele verschiedenen Arten ein, „bitte“ und „danke“ zu sagen, sowie Schüler morgens zu begrüßen und nachmittags zu verabschieden, und sie lernen wie auch in Schweden und Finnland, was die skandinavischen Schulen so stark macht:
– Zunächst muss der Lehrer dem Schüler Respekt entgegenbringen, weil er dann in der Folge auch Respekt zurückerhält, und nicht umgekehrt.
– Auf den Anfang kommt es an, so dass die besten Lehrer einer Schule in der Vorschule und in den ersten Klassen der Grundschule eingesetzt werden.
– Die wichtigsten Lehrer sind die Mitschüler, die zweitwichtigsten sind die Lehrer selbst, und die drittwichtigsten sind die Räume mit dem Interieur.
– Kinder lernen von anderen Kindern leichter als von noch so guten Erwachsenen.
– Nach der Einschulung lernen die Kinder zuerst, sich selbst einzuschätzen und ihre Gefühle angemessen zum Ausdruck zu bringen, bevor sie in Finnland erstmals mit Klasse 5, in Dänemark mit Klasse 8 und in Schweden und Norwegen mit Klasse 9 Noten bekommen.
Werteerziehung in einer Demokratie braucht die Zustimmung des jungen Menschen, und das erfordert eine aufwändige Überzeugungsarbeit. Sie muss mit dem Ausschnitt „Benehmen“ vor allem im Elternhaus stattfinden. Wenn wir mit dem Erziehungsgebot des Artikels 6 unseres Grundgesetzes, das diesen Auftrag dem Elternhaus zuweist, feststellen, dass mittlerweile etwa 60 Prozent der deutschen Eltern erzieherisch mehr oder weniger hilflos sind oder sogar Angst vor der Erziehung ihrer Kinder haben, dann sollte die Schule den Eltern mehr bei der Erziehung helfen, als dass sie diesen Auftrag selbst zu übernehmen gedenkt.
Wir brauchen also neben den bisherigen Lehrerstudiengängen, die insbesondere auf ein Fachlehrerdasein vorbereiten, dringend ein grundständiges Klassenlehrerstudium, damit wir auch Lehrer haben, die in der Lage sind, mit einer zugehenden oder aufsuchenden Pädagogik, die man in Schleswig-Holstein „Elternschaft lernen“ nennt, Müttern und Vätern über Hausbesuche, Elternstammtische oder Elternabende bei der Erziehung zu helfen. Denn die Schule ist die einzige Lebenswelt unserer Gesellschaft, die noch sämtliche junge Menschen bewusst erzieherisch zu erreichen vermag, weil wir eine Schulpflicht haben. Da die Schule aber nicht der alleinige Reparaturbetrieb unserer Gesellschaft sein kann, müssen die Lehrer den Schulterschluss mit den Eltern in Sachen Erziehung suchen. Soziales Verhalten braucht also soziales Lernen als Schüler und Eltern stärkendes Prinzip und nicht die Sackgasse eines Faches „Benimm-Unterricht“, wie es sich aus durchschaubaren Motiven der Präsident der Deutschen Arbeitgeberverbände, Dieter Hundt, wünscht.