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Vorwort

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Etwa 250 Jahre lang war das deutsche Schulwesen das anerkannt beste der Welt. Viele Länder bis hin zu Japan und Finnland hatten es kopiert. Aber das Vorbildliche der deutschen Schulen ging einher damit, dass Deutschland im Wesentlichen ein Obrigkeitsstaat mit dem Erziehungsziel des Untertanen war. So war es schon in den mittelalterlichen Kirchenstaaten, dann im Kaiserreich, im preußischen Beamten- und Soldatenstaat, im Dritten Reich und bis vor kurzem noch in der DDR. Erziehung und Bildung liefen immer wie folgt ab, so unterschiedlich die politischen Systeme auch waren: Eine Riege von Machthabern einigte sich auf irgendwelche Werte, und dann wurden die von oben herab verordnet in den Kopf und in das Herz des Bürgers und damit auch des Kindes. Man musste in solchen Zeiten sein Kind nur so erziehen, wie es alle anderen Menschen auch taten, und das war relativ leicht.

Seit gut 50 Jahren haben wir nun mit unserem Grundgesetz eine Demokratie mit dem Erziehungsziel des mündigen Bürgers, der eine eigentümliche Individualität sein darf, der überzeugt werden muss von dem, was man von ihm fordert und ihm verbietet, der also den Erziehungs- und Bildungszielen zustimmen muss und der Hilfe braucht, um sich in einer pluralen Gesellschaft voller Meinungs- und Wertevielfalt entscheiden, wehren, behaupten und durchsetzen und um Nein sagen zu können. Das ist sehr schwierig, so dass viele junge Menschen Probleme haben, ein stimmiges Weltbild aufzubauen. Verhaltensstörungen wie Gewalttätigkeit, Angst, Krankheit und Sucht sind die Folge.

Die internationale PISA-Studie der OECD bescheinigt daher Deutschland nicht nur einen 21. Platz unter 31 vermessenen Staaten, sondern auch, dass es die größten Leistungsbandbreiten unter 15-Jährigen hat und dass in den Schulen die Jungen nicht mehr mit den Mädchen Schritt halten können.

Aber nicht nur die PISA-Ergebnisse sind für Deutschland unangenehm; Kritik kommt auch von der UNESCO: Unter anderem habe die Bundesrepublik keine geregelte Vorschulbildung, heißt es in dem Bericht ›Bildung für alle 2003/2004‹. Nur 53 Prozent der Dreijährigen und 78 Prozent der Vierjährigen besuchten einen Kindergarten. Mehr als zehn Prozent der Schulanfänger seien in keiner vorschulischen Einrichtung gewesen. Gerade in diesem Alter würden aber wichtige Grundlagen für die Lernmotivation und das lebenslange Lernen geschaffen. Das wirke sich besonders negativ für Kinder aus sozial schwachen Familien sowie für aus dem Ausland stammende Kinder aus. Die UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur kritisiert zudem eine fehlende Chancengleichheit unter Jugendlichen. Da in Deutschland die Halbtagsschule dominiere, könnten soziale Problemfälle und elterliche Defizite kaum aufgefangen werden. Schüler würden in die Hauptschulen „abgeschoben“. Zudem wird in dem regelmäßig erscheinenden Bericht einer unabhängigen Gruppe von Fachleuten die große Zahl von Schülern in Deutschland bemängelt, die nicht richtig lesen und schreiben könnten.

In den Grundschulen sieht es noch etwas besser aus: Deutschland hat bei der internationalen IGLU-Studie den elften Platz erreicht. Aber das Spiegelbild der preußischen Dreiklassengesellschaft, nämlich das dreigliedrige Schulsystem mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium, also mit höher-, mittel- und geringwertigen Bildungsgängen, greift ja auch noch nicht in der Grundschule, die noch eine Gesamtschule ist, aber zugleich kürzer währt als in den meisten Ländern der Erde.

TIMSS, PISA, IGLU, DELPHI, KESS oder LAU heißen die internationalen und nationalen Schülerleistungsvergleichsstudien, die in den letzten Jahren, von den Medien transportiert, immer wieder die deutsche Öffentlichkeit aufgeschreckt haben.

Bei TIMSS und IGLU liegen Schweden und die Niederlande vorn, bei PISA Finnland, Kanada, Japan und Südkorea und bei PISA-E, dem Leistungsvergleich der 16 deutschen Bundesländer, führen Bayern und Baden-Württemberg.

In Ländern, die jeweils unten bei solchen Rankings standen, kam stets sofort die Frage auf, wie sie ihre Schulen umbauen müssten, damit sie künftig besser abschneiden könnten.

Dabei stellten sich mit den analytischen Debatten zwei Grundeinsichten heraus:

– Deutschland muss entweder zurück in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts, um weiter nach oben zu kommen; es muss also Angst und Selektion erhöhen, um die Schulverhältnisse der gut abschneidenden Länder Südkorea und Japan anzustreben; oder es muss 20 Jahre in die Zukunft hinein, um die Standards der anderen oben stehenden Länder Finnland, Schweden und Kanada zu erreichen, aber dann müssten statt Angst und Selektion, die mit dem beschönigenden Begriff „neue Leistungskultur“ durch die ehemalige baden-württembergische Kultusministerien und jetzige Bundesbildungsministerin Annette Schavan geklammert werden, Motivation und Integration, die auch verächtlich mit dem Begriff „Kuschelpädagogik“ gebündelt werden, Einzug an den deutschen Schulen halten.

– Wohlmeinende Lehrer haben in Deutschland in den letzten 40 Jahren den Anteil der Hausaufgaben bis heute auf etwa ein Drittel im Schnitt reduziert, und in den süddeutschen Bundesländern gibt man im Mittel noch heute doppelt so viele Hausaufgaben auf wie in den norddeutschen. Die alte Schule war im Kern eine Halbtagsschule mit der nachmittäglichen Ergänzung der Hausaufgaben. Das waren zwei verschiedene Lernweisen an einem einzigen Tag: Vormittags wurde der Schüler in großen Gruppen belehrt, nachmittags musste er allein und selbstständig Aufgaben lösen. Das ergab zusammen ganz viel Lernen – ebenfalls an einem einzigen Tag. Wenn die norddeutschen Länder also bei PISA-E wieder besser abschneiden wollen und wenn Deutschland international bei PISA besser werden will, dann muss entweder der Anteil der Hausaufgaben verdoppelt werden, oder die Hausaufgaben müssen mit in die Schule hineingenommen werden, und das zwingt dann dazu, den Weg Richtung Ganztagsschule zu beschreiten.

Deutschland hat für etwa zehn Millionen Schüler 42.000 Schulen, verteilt auf 16 Bundesländer mit 16 verschiedenen Schulsystemen, etwa 7.00.000 Lehrer sowie 2400 verschiedene Lehrpläne, und das ganze Unternehmen kostet pro Jahr etwa 40 Milliarden Euro. Hirnforscher und Lernpsychologen sagen zu diesem teuren Posten der Staatsausgaben: „Was durch Lernen dabei herauskommt, ist viel zu wenig, ist ein volkswirtschaftlicher Skandal.“

5000 dieser 42.000 Schulen sind der Zukunft schon sehr nahe, oder sie sind bereits in der Zukunft angekommen; zur Hälfte sind das Privatschulen, zur Hälfte aber auch Staatsschulen.

Ich möchte mit diesem Buch weniger rückwärts gewandt kritisieren, was an unseren Schulen falsch läuft; ich möchte auch nicht so stark die Frage erörtern, wie die internationalen und nationalen Schüler- und Schulleistungsvergleichsstudien erstellt wurden und was an ihnen richtig, bedenklich und falsch ist, denn zumeist werden mit ihnen Äpfel und Birnen – also Unvergleichbares – verglichen.

Ich möchte vielmehr dem Leser aufzeigen, wie Kinder lernen und welche Schlussfolgerungen sich daraus für die Gestaltung der Schule ergeben. Ich greife dabei im Sinne eines Netzwerkes Schule einige viel debattierte Netzmaschen, also Elemente, heraus, die zum Umdenken bei der Herangehensweise an junge Menschen verführen sollen. Das meiste, das ich vorschlage, ist übrigens kostenneutral umsetzbar, denn Geld wird den Schulen mit Sicherheit künftig nicht mehr, sondern eher weniger zur Verfügung stehen.

Hartmut von Hentig hat in der Vor-PISA-Zeit sein Büchlein ›Die Schule neu denken‹ geschrieben. Darum geht es mir: Lieber Leser, schalte den Hebel in deinem Kopf um, nimm einen Paradigmenwechsel vor, damit du als Lehrer, du als Elternteil, du als Schüler, du als Student, du als Referendar, du als Bildungspolitiker einen anderen, hoffentlich effizienteren Zugang zum Lernen findest. Wir müssen endlich die Belehrungsanstalt zu einer Lernwerkstatt umbauen, wir müssen – wie die Finnen sagen – aus dem Belehrten einen Lerner, aus dem Be-Lehrer einen Lernberater, aus der Klasse eine Lernfamilie und aus der Schule ein Lerndorf machen.

Das folgende Mosaik von Bausteinen kann dabei nur unvollständig sein, aber es vermag zu Weichenstellungen in eine bessere Zukunft des Wissens- und Wirtschaftsstandortes Deutschland beizutragen. Wie sagen doch Politiker in Sonntagsreden so gern und richtig? Der einzige Rohstoff, den unsere Gesellschaft hat, sind die Kinder.

Wenn ich im Folgenden von Schülern und Lehrern spreche, sind das für mich geschlechtsneutrale Funktionsbegriffe. Selbstverständlich meine ich dann stets auch Schülerinnen und Lehrerinnen, zumal Schülerinnen zurzeit erfolgreicher sind als männliche Schüler und Lehrerinnen in den deutschen Schulen zahlreicher vorkommen als männliche Lehrer.

Gelegentliche Wiederholungen im Text sind beabsichtigt, weil Schule nur als sehr komplexes Netzwerk verstanden werden kann und einzelne Aspekte deshalb zur Vollständigkeit von zwei oder gar mehreren Kapiteln beitragen müssen.

Hamburg, im Januar 2007 Peter Struck
Die 15 Gebote des Lernens

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