Читать книгу Zeit und Ort im Markusevangelium - Peter Weigandt - Страница 8

1. Vorüberlegungen 1.1 Das Markusevangelium als erzählte Geschichte

Оглавление

Markus – wer auch der unbekannte und so benannte Verfasser des zweiten Evangeliums gewesen sein mag – erzählt in seinem Evangelium nicht Geschichten, sondern Geschichte, und zwar die Geschichte der Offenbarung Gottes in Jesus von Nazaret, wie sie sich zwischen Taufe und leerem Grab ereignet hat. Das Markusevangelium ist die Biographie eines Boten Gottes als Offenbarungserzählung1, ist historiographische Struktur2 und enthält, wie Eve-Marie Becker definiert, „Aspekte einer personenzentrierten Historiographie“3. Es ist eine Mischform aus historischer Monographie und Biographie4 – und die hier erzählte Geschichte ist zugleich Verkündigung (14,95)6.

Der Evangelist beginnt sein Werk mit der Vorstellung dessen, von dem er berichten will, des Jesus Christus. Er gibt Auskunft über dessen Herkunft, teilt in einer Zusammenstellung vieler Einzelszenen – oder Episoden7 – mit, was er gesagt und getan hat, und berichtet zum Schluß ausführlich über seine letzten Tage, seinen Tod, sein Begräbnis und das am Ende leere Grab. Das Markusevangelium enthält vermutlich das, was dem Verfasser an Material zur Hand war (s.u. S. 120f.). Freilich ist eine gewisse Skepsis geboten, denn auf Jesus ist „kein einziger Ausspruch … mit letzter Gewißheit … zurückzuführen, auch wenn gelehrte Forschung wenigstens in diesem oder jenem Fall sein eigenes Zeugnis zu vernehmen meint“8.

Markus wagte es als erster „allwissender Autor“ (vgl. nur 1,9-12.35; 3,6.19; 6,46; 14,35f.), die Geschichte der Gründergestalt des Christentums darzustellen9. Dabei schuf er – zumeist faktual berichtend, jedoch nicht auf fiktionale Einschübe verzichtend – mit dem „Evangelium“ seine eigene, dem zu Berichtenden gemäße Form10, mit deren Hilfe er zusammenfügte, was er von Jesus in Erfahrung gebracht hatte. Nun ist aber das „Verständnis von Texten … abhängig von dem Verstehenshintergrund des Lesenden, je nachdem, welche »Brille« man aufsetzt, offenbart der Text andere mögliche Zugänge. Dabei ist nicht von Bedeutung, welches der »richtige« Zugang ist (das setzte eine Metaperspektive voraus, die nicht menschenmöglich ist), sondern es geht darum, verschiedene Zugangsmöglichkeiten zu eröffnen und so immer wieder neu Geschichten »zur Sprache« zu bringen.“11 Das gilt auch für den hier vorgelegten Zugang zur Erzählung des Markus.

Die Art eines solchen geschichtlichen Stoffes wie des Markusevangeliums bedarf, wie einst Cicero schrieb, der zeitlichen Folge der Begebenheiten und der Ortskunde – rerum ratio ordinem temporum desiderat, regionum descriptionem (De oratore II 63)12, also einer zeitlichen und räumlichen Ordnung, eines Zeit-Raum-Gefüges. Zeit, auch die Lebenszeit des Menschen, und Ort mit seinen geographischen, topographischen und topologischen Gegebenheiten sind die unverzichtbaren und allen menschlichen Handlungen vorausliegenden Bedingungen und „metahistorische“ Vorgaben13 jeglicher Erzählung, gleich wie sie zu deuten sein mögen. Nicht nur die „Welt- beziehungsweise Universalgeschichte hat zwei Komponenten: die zeitliche und die örtliche“14, sondern auch die Geschichte der Offenbarung Gottes in Jesus von Nazaret. Und darum geht es mir, nämlich »zur Sprache« zu bringen, wie der Evangelist in seinem Werk Zeit und Ort verwendet, um seine Geschichte von der Offenbarung Gottes in Jesus von Nazaret zu erzählen. Dabei muß „jede räumliche Struktur … in ein zeitliches Nacheinander überführt werden“15, wobei in den Kapiteln 1 bis 9 Galiläa mit dem See Gennesaret und in den Kapiteln 11 bis 16 Jerusalem als die Bezugspunkte dienen16.

Doch auch hier gilt, was Johannes Fried in seiner Biographie Karls des Großen schreibt: „Kein Erinnern bringt das Gestern zurück, jede erinnerte Vergangenheit ist bald unbewußte, bald bewußte Gedächtniskonstruktion einer Gegenwart … mit der Gesamtheit ihrer Erfahrungen, mit ihrem Wissen und ihren Wertungen der in ihr aus der Vergangenheit zugeflossenen Informationen, mit ihren Wünschen, Zielen und Hoffnungen“, und „nur Annäherungen an jene fernen Epochen sind möglich.“17 „Was sich langfristig in der Geschichte ›tatsächlich‹ – und nicht etwa sprachlich – ereignet hat, das bleibt sozialhistorisch eine Rekonstruktion, deren Evidenz von der Überzeugungskraft ihrer Theorie abhängt.“18 Und auch wenn die Zahl der Wörter einer Sprache ebenso wie deren Syntax und Semantik begrenzt sind, sind die damit zur Sprache gebrachten Sachverhalte und Meinungen unbegrenzt.19

Wir haben nur das Markusvangelium selber, kennen aber keine einzige seiner Quellen20, seien es einzelne Episoden oder vielleicht auch thematische Sammlungen, wie etwa Heinz-Wolfgang Kuhn21 und andere vermuten. Jeder Versuch, zu ermitteln, was Markus bewegt haben könnte, sein Evangelium so zu gestalten, wie es uns zwischen 1,1 und 16,8 vorliegt, kann über mehr oder minder gut begründete Vermutungen nicht hinaus gelangen, denn der Evangelist ist uns eine Erklärung dazu schuldig geblieben. Seinen chronologischen Angaben läßt sich weder die Dauer des Wirkens Jesu noch das Datum seines Todes mit hinreichender Sicherheit entnehmen, und die von ihm genannten und oft mit Varianten überlieferten Ortsangaben bieten mannigfache Möglichkeiten, ein markinisches Itinerar Jesu zu gestalten, gleich was sich hinter ihnen verbergen mag.

Zeit und Ort im Markusevangelium

Подняться наверх