Читать книгу Menschenspuren im Wald - Peter Wohlleben, Peter Wohlleben - Страница 10
Dauerwald: urwaldfern, aber kahlschlagsfrei
ОглавлениеNeulich habe ich in einem Naturschutzgebiet am Oberlauf der Ahr etwas beobachtet, was es überall im deutschsprachigen Raum zu sehen gibt. Dort wurde zunächst der alte Buchenwald stark aufgelichtet. So etwas nennt man Schirmhieb, weil zwar rund die Hälfte aller Stämme gefällt wird, die andere Hälfte aber noch einige Jahre als Schattenspender stehen bleibt. Unter den großen Buchen kommen Sämlinge auf, die durch den starken Lichteinfall rasch emporwachsen. Sind sie deutlich über kniehoch, dann ist die letzte Stunde der Altbäume gekommen. Sie werden in ein bis zwei Durchgängen fast völlig entfernt. Als winziges Zugeständnis an den Naturschutz bleiben ein paar »Ewigkeitsbäume« stehen, die sich allerdings wegen des rapide ändernden Kleinklimas innerhalb weniger Jahrzehnte verabschieden. Ökologisch unterscheidet sich solch ein Kahlschlag von der ersten beschrieben Variante durch nichts. Alle Tierarten, die auf alte Bäume angewiesen sind, verschwinden. Das Kleinklima ändert sich, der Humus wird abgebaut, die Langzeitfolgen sind dramatisch. Und doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die kniehohen Buchensämlinge gelten als Wald im Sinne des Gesetzes. Förster und Waldbesitzer, die so arbeiten, dürfen also ohne rot zu werden behaupten, sie arbeiteten kahlschlagsfrei.
Der Schirmhieb ist ein Kahlschlag auf Raten.
In der prallen Sonne sterben die letzten Altbuchen langsam, aber sicher ab.
Das Wort »Kahlschlag« mag heute kaum noch jemand in den Mund nehmen. Zu viele Menschen sind gut informiert und wissen, dass so etwas nicht ökologisch ist. Und da manch ein Forstbetrieb trotz starker Holznutzungen weiterhin als Vorreiter in Sachen Naturschutz gelten will, wurde ein wenig Wortkosmetik betrieben. »Dauerwald« nennt sich die Wirtschaftsform, die ganz ohne Kahlschläge auskommen möchte. In den Anfängen zu Beginn des letzten Jahrhunderts war das durchaus ehrlich gemeint. Die Vorreiter der ökologischen Waldwirtschaft, später zur »Arbeitsgemeinschaft naturgemäße Waldwirtschaft« zusammengeschlossen, meinten damit einen Wald, in dem schonend immer nur einzelne Stämme geerntet werden durften. Der Boden sollte gesunden, das artenreiche Tierleben zu seiner Entfaltung gelangen.
Doch heute wird der Begriff zunehmend für verdeckte Kahlschläge missbraucht. Und diese funktionieren über »Z-Bäume« (Zukunfts-Bäume). Das sind besonders gerade Exemplare mit makellosen Stämmen, die von den Förstern dauerhaft mit Farbe markiert werden (siehe Foto auf Seite 21). Diese Elite wird von nun an bei jeder Durchforstung kräftig gefördert, indem jeweils ein bis zwei Nachbarn entfernt werden. So können die Z-Bäume eine große Krone ausbilden und besonders viel Holz bilden. Bei 50 bis 100 Stück pro Hektar, die so gefördert werden, kommt irgendwann der Tag X: Dann sind alle Nachbarn gefällt, und die Auserwählten sind unter sich. Alle etwa gleich dick, gleich schön, gleich alt und gleich groß – das ist ein uniformer Wald, der sich gut zu Geld machen lässt. Und weil alle Bäume gleichzeitig ihr optimales Erntealter erreichen, werden innerhalb weniger Jahre auch alle gefällt. Hat sich durch die permanente Auflichtung schon ein wenig Nachwuchs angesiedelt, dann zählt dies wie zuvor beschrieben als Schirmhieb und damit offiziell als ökologisch nachhaltig. Wehe jedoch, Stürme oder Borkenkäfer vergreifen sich an den Auslesebäumen und bringen ihnen den Tod! Da die weniger attraktiven Stämme meist schon entfernt wurden, kann nun nicht auf Ersatzkandidaten umgesattelt werden, wodurch lokal kleine Löcher im Wald entstehen, die sich so schnell nicht wieder schließen.
Dauerwald heißt: Wirtschaften ohne Kahlschlag. Anfangs war das auch wirklich so.
Naturnahe Forstwirtschaft in einem Naturschutzgebiet in der Eifel.
Am Rande sei vermerkt, dass Betriebe, die den Dauerwaldbegriff so verwenden, noch ein anderes Wort verfälscht haben. Echte Ökobetriebe (und davon gibt es einige!) wirtschaften naturgemäß. Sie möchten sich in allen Eingriffen an natürlichen Prozessen orientieren und diese in ihrer Entfaltung so wenig wie möglich stören. Konventionelle Betriebe haben das aufgegriffen – allerdings nur verbal. »Naturgemäß« änderten sie ab in »naturnah«, und schon konnten sie sich dieses bedeutungslose Etikett anheften. Tatsächlich behaupten die meisten Kahlschlagsförster, ihre Betriebsweise sei naturnahe Waldwirtschaft. Das beruhigt zumindest das Gewissen der Bürgerinnen und Bürger, die ihren Waldhütern völlig vertrauen.
Hinter den Kulissen wird jedoch bereits auf großer Fläche die Renaissance der Nadelholzplantagen eingeleitet. Während unter dem Eindruck der 1990er-Windwürfe ein großer Umschwung zu mehr Naturnähe einsetzte, ist momentan der gegenläufige Trend zu beobachten. Schon macht das hässliche Wort der »Verbuchung« in der Branche die Runde; Laubbäume werden damit zu Unkraut abgestempelt. Und mit der Verhärtung der Sichtweise gelten nun auch kleinere Kahlschläge wieder als salonfähig, wenn sie zur Umwandlung naturferner Plantagen in Dauerwald dienen.
Ein Zukunfts-Baum – er wird im Dauerwald regelmäßig von seinen Nachbarn »befreit«.
Doch Moment: Führt ein Kahlschlag mit anschließender Bepflanzung nicht wieder zu einem monotonen gleichaltrigen Baumbestand? Ich habe den Eindruck, dass es momentan überwiegend darum geht, den immer rascher wachsenden Holzhunger der Industrie zu befriedigen. Um die Bevölkerung zu beruhigen, werden für diese naturfernen Wirtschaftsweisen sämtliche Vokabeln aus dem Bereich der Ökologie so verbogen, dass sich zumindest in den PR-Broschüren der Forstverwaltungen ein harmonisches und nachhaltiges Bild unserer Wälder ergibt.
Künstlich, aber nahe an der Natur: der Laubplenterwald.