Читать книгу Neun richtig, eins falsch. - Peter Zulehner - Страница 10
ОглавлениеWoher kommt unser Fokus auf das Negative?
WEIL WIR ES VON KLEIN AUF GELERNT HABEN
Wie soll ein Volksschulkind auf die Idee kommen, sich über neun richtig geschriebene Wörter zu freuen, wenn ihm nur das eine falsche, das rot markierte Wort in die Augen springt? Anstatt neunmal die Farbe Grün zu benutzen, setzt die Lehrerin einmal Rot ein – und eine »Strafaufgabe« gibt es obendrein (denn wie soll ein Volksschüler das als »Vertiefungsübung« sehen können?). Auch wenn in den vergangenen Jahren viel darüber diskutiert und geschrieben wurde, dass wir uns darauf konzentrieren sollten, die Talente unserer Kinder zu fördern, und nicht ausschließlich auf die Schwächen zu blicken, hat sich in der gelebten Praxis dahingehend nicht sehr viel bewegt. Von klein auf werden wir durch das rote Kennzeichnen darauf hingewiesen, was falsch ist. Das Augenmerk liegt auf jenen Aspekten, die es zu korrigieren und zu verbessern gilt – nicht auf Stärken und auf Talenten. Wir haben gelernt, dass es im Leben darum geht, das Negative auszumerzen, besser werden zu müssen und so wenige Fehler wie möglich zu machen. Der Preis, den wir dafür bezahlt haben, ist der, dass wir für die positiven Dinge keinen Blick und kein Sensorium mehr haben. Wir kennen es nicht anders, wir sind daran gewöhnt: Gewohnheiten sind vergleichbar mit ausgetretenen Wegen in einem großen Garten – wir nehmen den bereits bekannten, sichtbaren Weg und nicht zuallererst den unbekannten durch dichtes Gestrüpp.
Unser Gehirn ist evolutionsbedingt darauf ausgerichtet, uns vor Gefahren zu schützen. Das bedeutet, dass wir sehr achtsam für Negatives in unserem Leben sind und sehr schnell auf gefährliche Situationen reagieren. Das ist zunächst einmal nicht schlimm, sondern sichert unser Überleben.
Wenn Sie mit Ihrer Hand eine heiße Herdplatte berühren, ziehen Sie Ihre Hand automatisch zurück. Sinnes- und Nervenzellen nehmen den Schmerz wahr und leiten ihn weiter, wir empfinden Schmerz, und aus unserer Empfindung »heiß!« wird die Reaktion »Hand wegziehen!«. Synapsen – vom griechischen Wort synapsis (Verbindung) abgeleitet – sind die Verbindungsstellen zwischen Nervenzellen, zwischen Nerven- und Sinneszellen oder zwischen Nervenzellen und Muskelfasern, und diese Verbindungen brauchen wir, damit solche wichtigen Informationen wie in obigem Fall schnellstmöglich übertragen werden und Informationen sowie Impulse weitergeleitet werden, um beispielsweise »heiß!« augenblicklich zu erkennen und die Hand mithilfe der Muskelfasern auf der Stelle wegziehen zu können.
Verhaltensmuster setzen sich durch ihre permanente Wiederholung fest und hinterlassen an diesen Stellen verdickte Synapsenstränge. Unter Druck oder in Stresssituationen reagieren diese Stellen durch ihre stärkere Ausformung schneller als die anderen, die weniger benutzten, und so wiederholen wir uns in diesem gelernten Verhalten – wir benutzen den bequemeren, bekannten, fein ausgetretenen Weg durch den Garten.
Unsere persönliche Wertewelt wird von tief in uns eingeprägten Parametern gesteuert: von unserem Umgang mit richtig oder falsch, von dem Stellenwert, dem wir positiv oder negativ beimessen und von unserer Gewichtung von »Grün« und »Rot«. Je nachdem, welchen Rang richtig und falsch in unserer Kindheit hatten und welche Reaktionen und Verhaltensweisen uns von unseren Bezugspersonen und unserem Umfeld von klein auf vorgelebt wurden – die Summe unserer Erfahrungen ist das Fundament für unsere eigene Priorisierung von gut oder schlecht, richtig oder falsch, »Grün« oder »Rot«.
DER SOZIALE VERGLEICH PRÄGT UNSERE VERHALTENSMUSTER
Viele unserer Verhaltensmuster sind durch Erwartungshaltungen geprägt. Wir verhalten uns schon von Kindheit an so, wie wir denken, es könnte den Bezugspersonen gefallen – sei es der Mutter, dem Vater, der Kindergärtnerin oder dem Handarbeitslehrer. Der soziale Vergleich spielt dabei eine immens große Rolle.
Bei der Erstkommunion sind viele Eltern darauf erpicht, dass ihr Kind das hübscheste ist – welches der Kinder sich bei der Erstkommunionvorbereitung am interessiertesten und präsentesten hervorgetan hat, ist den meisten Eltern weniger wichtig, es gibt so viele andere, nach außen gerichtete Dinge zu organisieren und vorzubereiten. Die Hochsteckfrisuren vieler Erstkommunionmädchen lassen manche erwachsene Braut erblassen – eine außergegenständliche Wertung dominiert das Geschehen, eine optische nämlich, und es geht maximal am Rande um ein gemeinsames Erleben dieser schönen und bedeutsamen Feier. Schon während Firmungen und Erstkommunionfeiern wird unter den Eltern hinter vorgehaltener Hand über jene gesprochen, die »ein ausgeborgtes Kleid« und »keine ordentliche Frisur« haben. Sei hübsch, sei perfekt, sei brav, bringe keine Flecken an das teure Outfit und mache keine Fehler beim Vorlesen in der Kirche – das ist es, was die meisten Kinder aus diesen Events mitnehmen (neben ein paar Geschenken und später hoffentlich dem angenehmen Gefühl, dass alles fehlerlos über die Bühne gegangen ist).
Der Sportlehrer sagt zum jüngeren Bruder: »Die Sportsachen zu Hause vergessen … das hätte es bei deinem älteren Bruder nicht gegeben!« Er sagt nicht: »Schön, dich in meiner Klasse zu haben – dieses Jahr haben wir endlich einen Fußballer in der Mannschaft, mit dem wir die Fußballmeisterschaft der Schule gewinnen können.« Er sagt auch nicht: »Dein Bruder konnte nicht Fußball spielen, schön dass wir jetzt dich in der Klasse haben – und bitte vergiss die Sportsachen nicht mehr, damit du immer mitmachen kannst!« Nein, er sagt: »Die Sportsachen zu Hause vergessen … das hätte es bei deinem älteren Bruder nicht gegeben!« – Anstatt auf Motivation setzt er auf eine herabwürdigende, fehleraufzeigende und damit sehr effiziente Methode, um den jüngeren Bruder dazu zu bringen, die Sportsachen nicht mehr zu vergessen. Mein älterer Bruder ist einfach so viel besser als ich, dem passieren solche Fehler nicht – das ist es, was der jüngere so von klein auf lernt.
Vielleicht findet sich auch der eine oder andere Leser in einem der beiden Beispiele wieder. In meinen Seminaren und Vorträgen erzählen die Teilnehmer regelmäßig von ähnlich gelagerten Erlebnissen. Woran erinnern Sie sich zuerst, wenn Sie an Ihre Tanzschulzeit, Ihre Hochzeit, den letzten Urlaub oder die letzte Firmen-Weihnachtsfeier denken? Zumeist sind es die Fehler, die Ausrutscher, die negativen Aspekte, die wir in Sekundenbruchteilen abrufen können, oder Situationen, in denen wir (oder andere) im sozialen Vergleich (vermeintlich) schlechter abgeschnitten haben.
Zum sozialen Vergleich gehört auch der Vergleich mit den Eltern: »Du bist wie dein Vater.« Was uns als kleine Kinder noch entzückt, kann später zur Beleidigung oder zur Bedrohung werden. Oder als Entschuldigung herhalten: »Stimmt. Ich trinke ab zu ein Glas Wein zu viel. Mein Vater hat das auch gemacht!«, »Stimmt. Mir rutscht hin und wieder die Hand aus. Ich bin selbst auch geschlagen worden!«, »Meine Mutter hatte einen Putzfimmel, den habe ich offensichtlich von ihr übernommen!« Solche Sätze hören wir regelmäßig, aber kaum jemand kommt auf die Idee, zu artikulieren, was er Gutes von seinen Eltern mitbekommen hat. Wie oft haben Sie schon jemanden sagen gehört: »Ich bin ein fleißiger Mensch, das habe ich von meinem Vater gelernt«, »Ich bin ein guter Sportler, denn meine Mutter war auch vielseitig sportlich begabt«, »Ich bin sehr ordnungsliebend, das habe ich von meiner Mutter übernommen« oder »Ich kann Rückschläge gut wegstecken, das haben mir meine Eltern beigebracht«.
Schreiben Sie ganz spontan Eigenschaften auf, die Sie von Ihren Eltern vermeintlich geerbt haben – links die negativen, rechts die positiven. Darf ich raten, welche Spalte länger ist? Und darf ich fragen, bei wie vielen Begriffen in der Spalte mit den positiven Eigenschaften Sie in Gedanken ein »Eigentlich« oder »Durchaus« hinzugefügt haben, weil Sie sich zwar schon »durchaus mutig« oder »eigentlich ganz klug« finden, sich aber schwergetan haben, sich selbst das Attribut »mutig« oder »klug« zuzuordnen?
Für den sozialen Vergleich ziehen wir in der Regel die Kategorie »Negativ« heran. Wir blicken auf die Dinge, die vermeintlich nicht der allgemeinen Erwartungshaltung – und damit auch nicht der unseren – entsprechen. Wir haben es so gelernt und dieses Verhaltensmuster ist aufgrund der intensiven Prägung so stark in uns verankert, dass es sich nicht so ohne Weiteres ablegen lässt. Wir praktizieren diese Projektion auf das Falsche und das Negative so lange und so intensiv, dass wir als Erwachsene mit Lob und Anerkennung überhaupt nicht mehr umgehen können. In meinen Seminaren orte ich auf diese Aussage hin gelegentlich den einen oder anderen skeptischen Blick, denn wer steht schon gern dazu, zuerst auf das Negative zu blicken und auf das, was seiner Ansicht nach nicht der allgemeinen Erwartungshaltung entspricht? Ich trete dann mithilfe einer kleinen Übung den Beweis für meine These an:
EINE KURZE GEDANKLICHE ÜBUNG ZUM BEWEIS
Stellen Sie sich vor, Ihr Vorgesetzter bittet Sie in sein Büro. Sie wissen nicht genau worum es geht, der Assistent Ihres Chefs hat Ihnen nicht sagen können, was der Grund für den kurzfristig einberufenen Termin ist und Sie gehen daher davon aus, dass von Ihnen nichts Spezielles dafür vorzubereiten ist. Sie nehmen etwas zum Schreiben und Ihr Notizbuch mit und begeben sich zum Termin.
Der Grund für das kurzfristige Treffen überrascht Sie sehr, denn Ihr Vorgesetzter entschuldigt sich für die kurze Arbeitsunterbrechung, aber es war ihm ein großes Anliegen, sich bei Ihnen für Ihren Einsatz bei einem bestimmten Projekt zu bedanken. Er sagt Ihnen, Sie hätten das super gemacht und eine sensationelle Leistung gezeigt.
Lassen Sie diese Situation bitte kurz auf sich wirken und stellen Sie sich vor, wie Sie reagieren werden.
Ich nehme an, Sie werden sich bedanken und die meisten von Ihnen werden etwas in der Art hinzufügen: »Danke. Aber das war ich nicht allein« oder »Danke. Das hätten Sie aber auch ohne mich hinbekommen«.
Die Übung besteht aus zwei Teilen.
Stellen Sie sich bitte ein weiteres Mal vor, Ihr Vorgesetzter bittet Sie in sein Büro. Sie wissen nicht genau worum es geht, der Assistent Ihres Chefs hat Ihnen nicht sagen können, was der Grund für den kurzfristig einberufenen Termin ist und Sie gehen daher davon aus, dass von Ihnen nichts Spezielles dafür vorzubereiten ist. Sie nehmen etwas zum Schreiben und Ihr Notizbuch mit und begeben sich zum Termin.
Der Grund für das Treffen ist leider kein angenehmer. Ihr Vorgesetzter konfrontiert Sie mit einem Fehler, den Sie gemacht haben und der leider sehr kostspielig für das Unternehmen werden kann.
Lassen Sie auch diese Situation bitte kurz auf sich wirken und stellen Sie sich vor, wie Sie reagieren werden.
Ich nehme an, Sie werden den Fehler zur Kenntnis nehmen, sich vielleicht bestürzt zeigen, sich entschuldigen und versichern, für sofortige Abhilfe zu sorgen. Eines aber werden Sie ganz gewiss nicht machen – Sie werden mit Sicherheit nicht sagen: »Das war ich nicht allein, das hat das ganze Team vergeigt« oder gar: »Sie bauen selbst auch gelegentlich Mist«.
An dieser gedanklichen Übung offenbart sich unsere intensive Prägung auf das Negative besonders deutlich: Verläuft ein Gespräch mit dem Vorgesetzten positiv, dann zählt der Zusammenhalt, denn Positives zu betonen und für sich zu reklamieren, wäre eitel – so haben das die meisten von uns gelernt. Negatives auf andere abzuwälzen ist hingegen noch strenger verpönt und deshalb würde im Normalfall kaum jemand sagen: »Das habe ich nicht allein verbockt, da war das ganze Team beteiligt …«
FAZIT: WIR KENNEN ES NICHT ANDERS
Unsere Verhaltensmuster setzen sich durch ihre permanente Wiederholung fest. Unser Umgang mit richtig oder falsch, der Stellenwert, dem wir positiv oder negativ beimessen und unsere Gewichtung von »Grün« und »Rot« ist erlernt, tief in uns eingeprägt und steuert unsere persönliche Wertewelt. Wir leben und wir führen fort, was wir von klein auf gelernt haben: Wir haben gelernt, dass es im Leben darum geht, auf das Negative zu fokussieren, Falsches auszumerzen, besser werden zu müssen und so wenige Fehler wie möglich zu machen. Der Preis, den wir dafür bezahlen, ist der, dass wir für die positiven Dinge kaum mehr einen Blick und vor allem kein Sensorium mehr haben. Wir kennen es nicht anders, wir sind daran gewöhnt.