Читать книгу Neun richtig, eins falsch. - Peter Zulehner - Страница 8

Weshalb es dieses Buch gibt

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»Jeder Mensch sollte die Welt mit seinem Leben ein ganz klein wenig besser machen.«

Frances Hodgson Burnett, Schriftstellerin, 1849–1924

Wertschätzung und Anerkennung sind zentrale Bedürfnisse von uns Menschen, sie steuern uns und führen uns zur Entfaltung und Selbstverwirklichung. Für unser Selbstwertgefühl sind sie so wichtig wie die Nahrung. Nicht umsonst ist »Feedback is the breakfast of Champions« von Kenneth H. Blanchard – US-amerikanischer Unternehmer und Autor von Managementbüchern – eines der bekanntesten Zitate in der Managementliteratur, und es drückt sehr gut aus, was ich meine: Positive wie auch negative Rückmeldungen dienen uns zur Orientierung, wie unser Verhalten von Außenstehenden bewertet und verstanden wird. Diese Rückmeldungen einzuholen, zu geben und mit ihnen souverän und dankbar umzugehen, sind wesentliche Grundpfeiler sozialer Kompetenz und wichtige Zutaten für ein gutes Miteinander – sowohl im beruflichen wie auch im privaten Kontext. Wir wollen wahrgenommen und wertgeschätzt werden sowie Anerkennung für unsere Leistungen und unser Verhalten bekommen. Über weite Strecken meines Lebens fällt mir dabei eines auf: Aus verschiedensten Gründen fokussieren wir bei anderen – wie auch bei uns selbst – auf das, was nicht passt, was uns nicht in Ordnung erscheint oder nicht unseren Erwartungen entspricht. Egal wie gut jemand etwas macht oder wie positiv etwas ist: Beinahe reflexartig rücken wir das Negative ins Zentrum unseres Blicks, sogar dann, wenn es in der Fülle des Positiven eigentlich untergehen müsste.

Negativ wiegt schwerer – warum ist das so? Auf diese Frage ein paar Antworten zu geben und effiziente Methoden zu zeigen, die uns aus diesem fehlerorientierten Denken herausführen können, ist mein Antrieb für dieses Buch.

Ratgeber zum Thema Rückmeldung – das gutbekannte Feedback, eines der wichtigsten Werkzeuge wirksamer Führungsarbeit, – füllen ganze Wände in den Buchfachhandlungen rund um den Globus, dasselbe gilt für Literatur zu den Methoden, wie man kritisch-korrigierende wie auch positive Rückmeldung passgenau beim Gegenüber platziert. Das Thema scheint bis zur Erschöpfung und bis in die letzten Winkel ausgeleuchtet, viele winken gelangweilt ab, sobald es zum Gesprächsinhalt wird (»Wissen wir alles …«, »Schon hundertmal gehört …«, »Lernen die doch heute schon im Kindergarten …«), und dennoch finde ich folgenden Umstand auffällig: Wir sind sofort zur Stelle, wenn es Negatives rückzumelden gibt, Positives hingegen ruft kaum oder zumindest deutlich weniger Reaktionsbedarf bei uns hervor. Was ist passiert, dass wir auf »richtig« kaum reagieren, während wir bei »falsch« sofort in Gang kommen? Haben wir verlernt, das Richtige, das Positive, das Gute zu sehen oder konnten wir es noch nie, weil wir es nicht vermittelt bekamen und ab einem bestimmten Punkt unseres Lebens auf das Falsche, das Negative, das Schlechte geprägt wurden?

Einer meiner Coachees – als Coachee wird jene Person bezeichnet, die sich coachen (von seinem Coach zu unterschiedlichen Themen und Herausforderungen des beruflichen und / oder privaten Alltags begleiten) lässt – ist Führungskraft im Dienstleistungssektor und es sind 15 Kennzahlen, an denen er monatlich gemessen wird. Bei 14 dieser betriebswirtschaftlichen Kennzahlen ist er immer unter den Top Drei, also entweder bester, zweitbester oder drittbester Performer unter insgesamt 27 Kollegen mit dem gleichen Stellenprofil. Bei einer einzigen Kennzahl bewegt er sich selten aber doch im Mittelfeld – zwar im oberen, aber eben im Mittelfeld.

Die 14 unter den Top Drei sind kein Thema bei den regelmäßigen Vorstandssitzungen und werden von den Anwesenden bei der Präsentation regungs- und kommentarlos zur Kenntnis genommen – dafür wird von den Sitzungsteilnehmern ausführlich und ausgedehnt zu analysieren versucht, weshalb es »bei dieser einen Kennzahl wieder einmal nicht für ganz oben gereicht hat«.

Ist das nicht völlig bizarr? Über »diese eine Kennzahl« wird oft stundenlang diskutiert, das Lob und die Anerkennung für die herausragende Leistung, bei 14 aus insgesamt 15 Kennzahlen unter den drei Besten zu sein, werden meinem Coachee verwehrt und er verlässt – wenig überraschend – jede Vorstandssitzung mit dem Gefühl der Demotivation und Frustration.

Hand aufs Herz. Dachten Sie beim Lesen obiger Zeilen über meinen Coachee auch gerade, dass das Verhalten des Vorstands völlig normal ist und es doch vorrangige Aufgabe des obersten Gremiums eines Unternehmens sein muss, sich auf das zu konzentrieren, was nicht so gut läuft und was optimiert werden muss? Meine jahrzehntelange berufliche Praxis und meine mehr als tausend Stunden mit Coachees jeglicher Hierarchiestufen in unterschiedlichsten Branchen haben mir gezeigt, dass Sie mit dieser Ansicht in bester Gesellschaft wären.

Warum denken die meisten von uns so? – Weil wir es nicht anders lernen, und zwar von Kindesbeinen an. Selbst wenn Eltern oder Erziehungsberechtigte ihren Kindern ein wertschätzendes und auf das Positive fokussierte Miteinander vorleben, treffen unsere Kinder (und natürlich auch wir selbst) außerhalb der Familie in der Realität auf ein System, in dem spätestens ab der Volksschule nicht das Richtige und das Positive zählen, sondern mit einem großen Überhang das Falsche und das Negative im Mittelpunkt des Interesses stehen.

Bei Kleinstkindern ist aus Prinzip noch alles richtig und großartig. Selbst für ein »Stinkerl« in die Windel oder den Topf kassieren unsere Kleinen frenetischen Applaus. Zeichnet ein Kind einen Tausendfüßler, schenkt dem Vater das Bild und sagt: »Schau Papa, ich habe ein Pferd für dich gezeichnet!«, wird der begeistert antworten: »Wow! Ein tolles Pferd hast du da gezeichnet!« Oder kennen Sie tatsächlich jemanden, der zum Kind sagen würde: »Das ist doch kein Pferd, das ist im besten Fall eine Raupe oder ein Tausendfüßler, aber eigentlich kenne ich überhaupt kein Tier, das so aussieht wie das auf deiner Zeichnung!«? Egal, was unsere Kleinsten sagen oder tun – wir finden immer etwas Positives oder etwas, das es zu loben gilt. Wir übertreiben es geradezu mit unserer positiven Bestärkung. Dass zu viel Lob, manipulatives oder pauschalierendes Lob mehr schadet als nützt, ist durch Studien untermauert. Doch darauf möchte ich an dieser Stelle nicht das Augenmerk richten, sondern auf die Tatsache, dass es uns bei unseren Kleinsten mühelos gelingt, an wirklich allem etwas Gutes zu sehen – und wenn sich das Positive nicht sofort und freiwillig offenbart, geben wir uns wie selbstverständlich ein wenig Mühe, und schon finden wir etwas Gutes, etwas Positives, etwas Herausragendes.

Irgendwann jedoch dreht sich der Wind. Ab der Vor- und Volksschule sind wir plötzlich Bewertungen ausgesetzt und lernen sehr, sehr schnell, dass das Negative, das, was wir falsch machen oder nicht so gut können wie andere, sehr viel mehr Gewicht hat als die positiven Dinge und das, was wir richtig machen. Ab dem Zeitpunkt, wo die Bewertung in unser Leben tritt, dreht sich das uneingeschränkte und bedingungslose Positivdenken und Positivbewerten ins Gegenteil. »Jetzt beginnt der Ernst des Lebens«, lautet der Unheil verkündende und mit einem Schluss-mit-lustig-Unterton ausgestattete Satz, den die meisten von uns irgendwann zu hören bekamen oder womöglich selbst gesagt haben. Der Ernst des Lebens also. Das bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass es vorher lustig war und ab sofort wird es nicht mehr lustig sein, sondern eben ernst. Da kommt Freude auf, nicht wahr? Unsere Kinder werden unvermittelt und weitgehend unvorbereitet in eine Umwelt katapultiert, in der nicht mehr alle gleichermaßen fabelhaft und genial sind, sondern in der in »richtig« oder »falsch« eingeteilt wird. In positiv oder negativ. In gut, weniger gut oder schlecht. Was falsch ist, wird kräftig rot markiert – für das Richtige gibt es keine Farbe. Die Kinder erkennen, dass es einen Unterschied macht und dass es eine Bedeutung hat, in welche Kategorie – richtig oder falsch – man fällt und dass plötzlich nicht mehr alles brillant und fantastisch ist, was sie sagen oder tun. Richtig und falsch lassen sich nicht einmal mehr eindeutig auseinanderhalten, denn was vorher toll war, ist plötzlich verkehrt: »Ein Pferd hat vier Beine. Das kann also kein Pferd sein, was du hier gezeichnet hast!«, heißt es plötzlich in der Schule. Das Leben bekommt einen ernsten Unterton, wenn sich die Bewertung in unserem Leben breitmacht. Damit nicht genug – es wird auch noch verwirrend. Wir lernen, was richtig ist und was falsch, aber das scheint nicht immer eindeutig zu sein. Die Bewertung ist nämlich keine fixe Größe, sie unterliegt neben ein paar harten und weitgehend unbestechlichen Kriterien (Punkteanzahl, Grammatik, Rechenergebnis und so weiter) ein paar sehr variablen Parametern (Belieben, Ermessen, Geschmack, Laune, Zufall, um nur ein paar zu nennen). An der Bewertung klebt also ein gehöriges Maß an Willkür und Schwankungsbreite, und diese Unstetigkeit nimmt im Lauf unseres Lebens Fahrt auf. Sind es anfangs noch die Kleinigkeiten (»Wie viele Beine hat ein Pferd?«), kommen recht schnell gewichtigere Dinge hinzu (»Bin ich richtig angezogen?«, »Werde ich den gesellschaftlichen Codes gerecht?«). Im Mittelpunkt unseres Interesses steht das Dazugehören, denn wir können nicht auf unser Umfeld verzichten, es nicht abschütteln, und damit liegt der Fokus automatisch auf den Fehlern, die es dafür auszumerzen gilt. Das Positive, das lernen wir früh und schnell, ist eine Selbstverständlichkeit und nichts, das es hervorzuheben gilt – ganz nach dem Motto: »Nicht geschimpft ist schon gelobt genug!«

Zappen Sie einmal in Gedanken durch die Fernsehkanäle. Die erfolgreichsten Unterhaltungsshows spiegeln das perfekt wider. Was wir zu sehen bekommen, ist das Gegenteil von Wertschätzung und Anerkennung: nämlich Herabwürdigung, Demütigung, Bloßstellung. Wir lassen uns von Mobbingsituationen berieseln und sehen zu, wie Kandidaten vor einem Millionenpublikum verlacht werden. Wir sehen zu, wie sich Menschen weit jenseits ihres beruflichen Zenits in Container oder in den Regenwald sperren lassen und sich der endgültigen Demontage jeglichen Ansehens und Respekts aussetzen. Ist es Ihnen schon einmal aufgefallen? Kurz bevor es den Kandidaten reicht (»Ich bin raus«, »Es ist Zeit für mich zu gehen«) oder es den Zusehern sogar daheim in den sicheren vier Wänden zu viel zu werden droht, kommen von den Juroren oder vom Publikum Lob oder Wertschätzung (»Du hast mich heute positiv überrascht«, »Du warst heute für mich die Beste«, »Du hast die meisten Anrufe bekommen«, »Du hast die meisten Likes erhalten«) – und die Show geht weiter.

Ab dem Moment, wo wir zur Schule gehen, wird mit Rot markiert, was falsch ist. Für das Positive gibt es keine farbliche Entsprechung. Was richtig und gut gemacht wurde, bleibt unbeachtet – wie die 14 Top Drei-Kennzahlen meines Coachees. Es ist die Farbe Rot, der das Los zuteil wurde, jeweils mit Ausrufezeichen für »stopp«, »falsch« oder »Achtung« zu stehen. Ein rotes Kleid muss absolut perfekt sitzen, heißt es in eingeweihten Kreisen, denn es zieht alle Blicke auf sich. Das ist natürlich nicht mein Fachgebiet, aber ich meine, dass es auch bei einem blauen oder grünen Kleid nicht schadet, wenn es gut sitzt. Aber sehen Sie, was diese Farbe mit uns macht?

Ein Kompliment an ein Gegenüber wird in den meisten Fällen mit einem abschwächenden, relativierenden Hinweis quittiert. Wenn Sie zum Beispiel zu jemandem sagen: »Das haben Sie echt gut gemacht, Herr Kollege!«, dann hören Sie: »Aber nein, das ist doch mein Job!« Wenn Sie zu einer Frau sagen: »Du siehst toll aus heute!«, hören Sie: »Nicht doch, ich bin überhaupt nicht geschminkt!« Wenn Sie sagen: »Das Kleid steht dir ausgezeichnet!«, hören Sie: »Rot, ich weiß, sehr gewagt …« Wenn Sie zu jemandem sagen: »Ich bedanke mich, dass Sie das für mich gemacht haben!«, hören Sie: »Das ist doch nicht der Rede wert!« Wenn Sie zu einem Mann sagen: »Wunderschöner Wagen!«, hören Sie: »Unvernünftig viele PS, ich weiß …« Ich gehöre noch zu jenen Menschen der alten Schule, die anderen gern ein Kompliment machen: »Gut siehst du aus!«, »Tolles Kleid – steht dir hervorragend!« oder »Super gemacht! Ich bin beeindruckt!«, »Tolle Vorgangsweise, Kompliment!«, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Nur äußerst selten ist die Reaktion ein »Vielen Dank, das freut mich sehr!« Viel öfter hingegen kommt Folgendes: »Aber nein, ich muss doch dringend zum Friseur!«, »Das Kleid ist doch ein uraltes Ding!«, »Ohne die Unterstützung der Kollegen hätte ich das nicht geschafft!« und so weiter. Die Aufzählung ließe sich nahezu endlos weiterführen.

Wir sind dermaßen auf Negatives konditioniert, dass wir das Positive überhaupt nicht mehr sehen – nicht bei uns und nicht bei anderen. Wir sehen das Negative zuerst – die Signalfarbe Rot, das personifizierte Falsch. Unsere Antennen für das Negative sind so fein justiert, dass wir etwas orten, wo es nichts zu orten gibt, und das geht so weit, dass wir (vermeintlich) Negatives sofort auf uns beziehen. Wenn Sie, einmal angenommen, zu Ihrem Gegenüber sagen: »Es war ein anstrengender Tag heute, aber das gemeinsame Abendessen macht das mehr als wett, danke, dass du mich überredet hast, noch ein wenig auszugehen!«, hören Sie nicht selten etwas wie: »Wir hätten zu Hause essen sollen, das wäre entspannter für dich gewesen!« Wenn Sie sich bei Ihrem Reisebüro für die unkomplizierte Umbuchung Ihres Fluges bedanken, hören Sie vielleicht etwas wie: »Es tut mir leid, dass wir unter den gegebenen Umständen nicht den gesamten Rechnungsbetrag erstatten konnten!«

Achten Sie darauf! Wenn zu Ihnen jemand sagt: »Vielen Dank für die Unterstützung!«, und Sie darauf antworten: »Mehr konnte ich leider nicht für Sie tun!«, stellen Sie sich bitte die Frage, wie Ihre abschwächende Antwort bei Ihrem Gegenüber ankommt! Sie wirkt entwertend und Ihr Gegenüber hat im schlimmsten Fall das Gefühl, Sie hätten ihm das Wort im Mund umgedreht.

Während der Text für dieses Buch entsteht, ist die Welt von einer Pandemie betroffen. Viele Länder haben Ausgangsbeschränkungen erlassen, manche Regionen befinden sich quarantänebedingt in der totalen Isolation, der weltweite Flugbetrieb ist fast gänzlich zum Erliegen gekommen. Kindergärten, Schulen, Restaurants und Geschäfte sind geschlossen, viele verlieren ihre Arbeitsplätze oder befinden sich in der Kurzarbeit. Die Menschen verfolgen während dieses »Notbetriebs« gebannt die diesbezügliche Berichterstattung. Und auch hier fällt mir auf, dass sich diese vorwiegend auf das Verheerende, Apokalyptische und das Angsteinflößende der Pandemie konzentriert.

Meldungen über Todes- und Infektionsraten, explodierende Arbeitslosenzahlen und gesundheitliche Auswirkungen der Lockdowns auf Körper und Psyche der Menschen dominieren die Nachrichten. Weshalb wird uns nicht – im Sinne einer ausgewogenen Gewichtung – auch das Positive, Ermutigende, Motivierende präsentiert? Denn das gibt es! Es gibt Länder, in denen greifen die dort getroffenen Maßnahmen, und diese Tatsache würde den Menschen Mut machen und die Einschränkungen würden etwas erträglicher erscheinen. Wir orientieren uns jedoch an jenen Ländern, in denen es aktuell am schlimmsten ist, und nicht an jenen, in denen sich die Entwicklung klar positiv darstellt. Hören wir in Ausnahmefällen doch einmal positive Meldungen zur Pandemie, kommen diese zumeist verknüpft mit einer Warnung und einem Dämpfer des Weges: Wir dürften uns nicht zur Unvorsichtigkeit verleiten lassen, heißt es dann, oder: Die kulturellen Gegebenheiten, Einwohnerzahlen, klimatische oder sonstige Bedingungen ließen sich überhaupt nicht vergleichen mit den unseren, und so weiter. Jeder positiven Meldung wird mit einem negativen oder abschwächenden Beisatz ihre positive und ermutigende Wirkung genommen.

Egal, um welchen Lebensbereich es sich handelt, ich stelle immer wieder fest, wie sehr wir auf das Negative konditioniert sind.

In ihrer Sendereihe Liebesg’schichten und Heiratssachen lud die mittlerweile verstorbene Journalistin Elisabeth T. Spira Menschen zur Partnersuche vor der Kamera. Die Kandidaten präsentierten sich in ihrem privaten Umfeld und zeigten sich im Interview sehr ehrlich und offen mit ihren Schwächen und Eigenheiten – dank Elisabeth T. Spiras Feingefühl für das richtige Setting und die richtigen Fragen gab es keine Bloßstellung, nur ungefilterte Ehrlichkeit. Das machte auch den großen Erfolg ihrer Sendungen aus. Wenn die Teilnehmer danach gefragt wurden, wie der gesuchte perfekte Mensch an ihrer Seite denn sein solle, passierte regelmäßig etwas Spannendes: Die Kandidaten hatten enorme Mühe, die schönen Eigenschaften des potenziellen Partners (wer sucht schon einen Partner mit negativen Attributen?) in Worte zu fassen. Wie er nicht sein soll, was er nicht darf, was er nicht erwarten darf – das wussten alle genau, da sprudelten die Sätze nur so aus ihnen heraus, häufig verbunden mit Geschichten über negative Erfahrungen mit Partnern in der Vergangenheit. Das Negative können wir sofort abrufen. Das Positive – und letztlich vorrangig Wichtige insbesondere in einer erfüllenden Partnerschaft – zu benennen, gestaltete sich in den Beiträgen deutlich sperriger. Die Kandidaten rangen nach den passenden Formulierungen, so, als würden sie etwas Unerhörtes einfordern, etwas, das ihnen nicht zusteht, sie nicht kennen oder in Worte fassen können. Dasselbe Stocken ist wahrzunehmen, wenn es darum ging, den Sehern zu vermitteln, was sie selbst an Gutem und Schönem in eine Partnerschaft einbringen würden – das Positive abzurufen und hervorzuheben, fällt den meisten von uns unendlich schwer.

Wenn ich meine Kunden am Beginn von Meetings oder beim Start eines Coaching-Prozesses frage, was denn bei den Gesprächen oder beim Coaching das ideale Endresultat sein und wie die Situation nach Beendigung unserer Zusammenarbeit aussehen sollte, herrscht zumeist ratlose Stille, und angestrengtes Nachdenken folgt. Wenn ich aber frage, was auf keinen Fall passieren beziehungsweise was nicht das Resultat unserer Zusammenarbeit sein dürfe, dann geht es Schlag auf Schlag.

Frage ich in Mediationen oder Coachings, was mein Kunde an seinem Partner, seinem Mitarbeiter oder seiner Führungskraft besonders schätzt, zeigt sich mir das gleiche Bild: intensives Nachdenken und im besten Fall ein paar mühsam herausgepresste Floskeln. »Er ist eigentlich ganz nett«, »Ich kann mich immer melden, wenn ich etwas brauche«, »Er ist immer pünktlich und korrekt«. Wenn ich danach frage, was mein Kunde an seiner Führungskraft weniger schätzt, ist die Schlagzahl bei den Antworten eine um vieles höhere. Völlig anders als das Positive scheint das Negative eine extrem ergiebige Quelle. Es ist für mich jedes Mal aufs Neue erstaunlich, wie stark sich besonders in solchen Momenten unsere intensive Prägung auf das Negative offenbart.

Egal ob Führungskräfte, Mitarbeiter, Großeltern, Eltern, Lehrer, Erziehungsberechtigte oder Partnersuchende – wir sind auf das Negative, das Falsche gepolt. Selbst, wenn das Positive und das Richtige überwiegt – wir übersehen es und wissen nichts daraus zu machen, geschweige, uns darüber zu freuen. Ich möchte Ihren Blick dafür schärfen, was dieses Mangeldenken mit uns anstellt und Ihnen zeigen, wie viel Leichtigkeit in unser Leben kommt, wenn es uns gelingt, den imaginären Rotstift beiseitezulegen. Mein Wunsch ist es, Ihnen mit diesem Buch Denkanstöße für ein leichtfüßigeres und wertschätzenderes Miteinander zu liefern und Ihnen ein paar sofort umsetzbare Handlungsweisen und Werkzeuge in die Hand zu geben, deren Wirkung Sie verblüffen wird. Auf den folgenden Seiten finden sich viele Beispiele und Erzählungen aus meinem beruflichen wie auch privaten Alltag. Einige Geschichten sind darunter, die mich und meinen Umgang mit anderen nachhaltig geprägt haben. Beinahe täglich macht es mich demütig und dankbar zu sehen, wie auf meinen Input hin bereits eine leichte Kurskorrektur im Verhalten eine sofortige Verbesserung im Miteinander bewirkt, sei es in der Führungsarbeit, im Berufsleben, bei erzieherischen Fragen oder in der Partnerschaft. Mit Lob, Anerkennung und Wertschätzung – in diesen dreien findet das Positive seinen Ausdruck – haben wir völlig unterbewertete Instrumente in der Hand, die wir viel zu wenig nutzen, wenn es darum geht, uns gegenseitig zu motivieren. Sie stehen jedem von uns unbegrenzt zur Verfügung, sie kosten nichts, für sie brauchen wir kein Budget zu beantragen (eine sehr beliebte Ausflucht im Berufsleben), und sie entfalten ihre positive Wirkungsweise unverzüglich. Es ist so leicht und es tut so gut, sie anzuwenden – das möchte ich gern ins Bewusstsein rücken. Ich möchte, dass Sie lernen, das Positive zu fokussieren und das Richtige zuerst zu sehen – und danach erst das Negative, das Falsche. Ich möchte, dass Grün – bildlich gesprochen – Ihre neue Signalfarbe wird.

Neun richtig, eins falsch.

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