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1.2Der gesellschaftliche Kontext der Entstehung von Postmoderne und Dekonstruktion: Frankreich in den 1960er Jahren
ОглавлениеIm Mai 1982 habe ich in Paris Gespräche mit Michel Foucault, Jacques Rancière, Jean-François Lyotard, Vincent Descombes und Michel Serres geführt.3 Diese Gespräche vermitteln einen lebendigen Eindruck der damaligen gesellschaftlichen und politischen Situation sowie ihrer Beurteilung durch die damals aktiven und an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beteiligten Philosophen. Sie können die Gedankenwelt dieser Umbruchzeit näherbringen und so das Umfeld und die Atmosphäre, in dem Postmoderne und Dekonstruktion entstanden sind, nachvollziehbar machen. Nachdem wir hier auch die politische Dimension der Dekonstruktion mitbedenken wollen, können uns die Andeutung des sozio-historischen Panoramas und die persönlichen Statements der französischen Intellektuellen zumindest Hinweise darauf liefern, wie die damalige philosophische Umwälzung gemeint war. Daher führen wir hier einige Statements aus diesen Gesprächen an.
Im europäischen Vergleich ist Frankreich traditionell ein stark zentralisiertes Land, das deshalb eine eingeschränkte Reformfähigkeit hat, was wiederum zu einer Revoltenkultur führt, die man beispielsweise im föderalistisch organisierten Deutschland nicht kennt. Während in Deutschland der Interessensausgleich über die verschiedenen föderalen Strukturen läuft, gibt es in Frankreich immer wieder Revoltenschübe, die Probleme auf die Straße tragen, die von der Verwaltung und der politischen Klasse nicht gelöst werden.
Wissenschaftssoziologisch ist es deshalb nicht verwunderlich, dass die relevanten zeitgenössischen differenzphilosophischen Ansätze zur Zeit einer besonders ausgeprägten Krise des französischen Zentralstaats in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Die Militarisierung des französischen Staates durch die Résistance als Antwort auf die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg sowie später durch den Algerienkrieg, hat die ohnehin schon zentralistische Verfassung Frankreichs noch einmal verstärkt. Diese Militarisierung des öffentlichen Lebens ließ wenig Spielraum für die Entfaltung der Zivilgesellschaft in Frankreich, wie sie zur gleichen Zeit von den westlichen Siegermächten in Westdeutschland erzwungen wurde. Frankreich fiel die Rückkehr zur Zivilgesellschaft schwer, weshalb notwendige Reformen der Nachkriegszeit immer wieder aufgeschoben wurden, bis die Studentenbewegung 1968 den gesellschaftlichen Umbruch durch die Revolte erzwang.
Als intellektuelle Vorläufer und philosophische Wegbereiter und Begleiter der 68er-Revolte finden wir eine Reihe französischer Philosophen und Schriftsteller, die auf dem Gebiet der Philosophie die Revolte der Differenzphilosophie gegen die vorherrschende Identitätsphilosophie als intellektuelle Basis zentralistischen Denkens betrieben. Derrida, Lyotard, Deleuze, Michel Foucault entwickelten jeweils eigene differenzphilosophische Ansätze. Diese Ansätze waren in unterschiedlichem Maße als politische Philosophien konzipiert. Während Foucault, Deleuze und Lyotard ihre theoretische Arbeit eher als politische Aktivisten betrieben und in den Dienst ihrer politischen Engagements stellten, sah sich Derrida nicht in erster Linie als politischen, sondern eher als theoretisch arbeitenden Philosophen, der allerding im Lauf der Jahre zu vielen politischen Fragen Stellung beziehen sollte.
Auch wenn man den Mai 68 nicht zu einem mythischen Ursprungsdatum der neueren französischen Philosophie verfälschen darf, ist er ein Schlüsseldatum für die Erneuerung der Rolle des Philosophen in der französischen Gesellschaft als öffentlich wirksamer Intellektueller. Philosophen wie Michel Foucault oder Jean-François Lyotard, Gilles Deleuze, Michel Serres, François Châtelet und Jacques Derrida wurden neben ihrer fachlichen Bedeutung zugleich auch Figuren des öffentlichen Lebens in Frankreich.
Dieses politische Engagement der Philosophen hat in Frankreich eine lange Tradition, die Michel Serres so beschreibt:
Ich glaube, dass wir seit dem 16. Jahrhundert eine Tradition haben, die man eher Tradition der Denker nennen könnte als Tradition der Philosophen. „Philosoph“ hätte einen eher technischen und akademischen Sinn und Denker, sagen wir, einen eher volkstümlichen Sinn. Montaigne im 16. Jahrhundert, das ist ein Denker, ein Moralist. Für die Franzosen ist er ein Philosoph. Es ist nicht völlig sicher, dass er auch in anderen Ländern als Philosoph gilt. Im 18. Jahrhundert gelten die französischen Aufklärer und Enzyklopädisten, angeführt von Leuten wie Voltaire oder Diderot, als Philosophen. Sie werden im Ausland wenig studiert, in Frankreich übrigens auch. Diese Tradition hat aus Frankreich ein Land werden lassen, in dem sich die Öffentlichkeit für Philosophie interessiert, in dem sie sich sehr für Philosophen interessiert. Denn diese Philosophen benutzen traditionellerweise ein Vokabular der gewöhnlichen Sprache und nicht ein sehr technisches Vokabular, wie das an den Universitäten der Fall ist. Infolgedessen beschäftigt sich die französische Gesellschaft, nicht die ganze Gesellschaft, aber ein großer Teil der französischen Gesellschaft, intensiv mit der Geschichte der Ideen, mit der Geschichte der Kultur oder mit der Geschichte philosophischer Ideen. Diese Gebiete sind hier nicht vollständig eingeschlossen in universitären oder wissenschaftlichen Spezialdisziplinen. Ich glaube, dass dies die französische Tradition charakterisiert. Und ich glaube, dass seit 50 Jahren Frankreich nicht mehr seiner eigenen Tradition folgt. Frankreich folgt nicht seiner eigenen Tradition, weil es versucht, an den Universitäten eine Art von Philosophie zu betreiben, die man in anderen Ländern machte.4
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten in Frankreich Albert Camus und Jean-Paul Sartre in dieser Tradition die Rolle des kritischen Intellektuellen besetzt. Sartres Engagement gegen den Algerienkrieg war weit über Frankreich hinaus wirksam. Allerdings war Sartre politisch noch stark mit der Kommunistischen Partei Frankreichs und ideologisch mit dem Marxismus als kritischer Theorie verbunden. Die wesentliche Erneuerung der Rolle des Intellektuellen in der französischen Gesellschaft ergab sich aber gerade aus dem Bruch mit dem Marxismus als kritischer Theorie und mit der Kommunistischen Partei als selbst ernannte, alleinige Vertretung der kritischen gesellschaftlichen Kräfte. Damit entwickelten sich die Positionen der neuen französischen kritischen Theorie im Einklang mit der französischen Gesellschaft, die spätestens im Mai 1968 aus der Haltung der Kommunistischen Partei Frankreichs schließen konnte, dass diese Teil des Machtapparates war und zu den konservativen Kräften im Land gehörte.
Als im Mai 1968 Studenten und Arbeiter revoltierten und Unruhen Paris und andere französische Städte erschütterten, veränderte sich auch das politische Gefüge Frankreichs. Die Kommunistische Partei Frankreichs, die bis zu diesem Zeitpunkt als Träger kritischen Denkens, aber auch als Sammelpunkt kritischer, politischer Kräfte galt, verbündete sich in dieser Situation mit der gaullistischen Macht und stoppte gemeinsam mit ihr die Mai-Bewegung. Nach dem Mai 68 hat sie bei der Restauration sowohl im universitären Bereich als auch im gewerkschaftlichen Bereich eifrig mitgewirkt. Für die kritische Intelligenz, aber auch für die Arbeiter und für weite kleinbürgerliche Schichten in Frankreich, war dieses Verhalten enttäuschend. Es entstand ein Vakuum im Feld gesellschaftskritischen Denkens und der kritischen politischen Kräfte.
In diesem Vakuum erlangten eine Reihe von Philosophen den Status kritischer Intellektueller, sie wurden in den 1970er und 1980er Jahren nicht nur in Frankreich, sondern auch darüber hinaus zu wichtigen gesellschaftlichen Kräften. Diese Philosophen befriedigten den Bedarf an Reflexion und Theorieentwicklung, der durch die politische, ganz Frankreich aufwühlende und umwälzende Erfahrung des Mai 68 entstanden war.
Natürlich waren diese neuen Theorien nicht Resultat einer Arbeit, die erst nach dem Mai 68 einsetzte. Es waren Theorien, die zum Teil schon Jahre vorher entwickelt worden waren, etwa von Foucault, die aber im Moment des historischen Bruchs eine Aktualität erlangten, die vorher nicht abzusehen war, und die sich dann im Wechselspiel mit politischen Kräften, die sich jetzt auch auf der Seite der kritischen gesellschaftlichen Kräfte dezentralisierten, weiter entwickelten.
Zu dieser Entwicklung hat sich Foucault ausführlich geäußert:
Wissen Sie, am Anfang der 60er Jahre waren wir einige Leute, die versuchten, einige Probleme aufzuwerfen, die theoretische und geschichtliche Probleme waren, die aber auch Probleme waren, die Institutionen betrafen, die heutige Institutionen und heutige Praktiken berührten. Ich war zum Beispiel nicht der Einzige, der sich interessiert hat für psychiatrische Institutionen, für das Strafsystem, für die Organisation der Medizin, auch für die Gestaltung der Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern, für die Situation der Frauen usw. – All das waren Fragen, die damals in der Luft lagen. Charakteristisch ist nun, dass vor 1968 die politischen Parteien diese Art von Fragen nicht aufnehmen wollten in ihre Reflexionen, in ihre Programme und in ihre Aktionen, wenigstens in Frankreich nicht. Das Gleiche gilt für einige Denker, die ein wenig die Rolle eines universellen Bewusstseins spielen wollten. Sie wollten nicht billigen, dass diese Art von Problemen aufgeworfen wird, die sie für nebensächlich oder für marginal gehalten haben. Es ist richtig, dass diese Arbeit bis 1968 eine Arbeit ein wenig im Stillen war, eine Arbeit ohne Echo. Es bedurfte der Studentenbewegung von 1968 und der folgenden Jahre und auch der Bewegung anderer sozialer Gruppen in dieser Zeit, damit diese Probleme voll ans Licht treten konnten, an die Öffentlichkeit gestellt werden konnten und beachtet wurden.
Und die politischen Parteien haben sich erst in diesem Moment um diese Probleme gekümmert . . . Zum Beispiel hat die Kommunistische Partei Frankreichs sich lange Zeit geweigert, sich mit diesen Problemen zu befassen. Und man kann sogar sagen, dass sie sich auch jetzt diesen Problemen nur äußerst widerwillig stellt. Auch die alte Sozialistische Partei, die in den Jahren zwischen 1960 und 1970 im Sterben, in der Agonie lag, wollte sich diesen Problemen nicht stellen. Und es war erst die erneuerte Sozialistische Partei, die ab 1972/73 diese Art von Fragen endlich aufgriff.5
Die politische Entwicklung nach dem Mai 68 kann man am besten als Dezentralisierung der bis dahin relativ einheitlichen politischen Opposition charakterisieren. In dem Moment, wo auf der politischen Ebene ein Prozess der Dezentralisierung vollzogen wurde, hatten Denkweisen, die auch in der Theorie zentralistische Diskurse auflösten und den Nomadismus, die Vielheit, die Einzelheit legitimierten, Konjunktur. Deleuze und insbesondere Foucault waren Denker der Vielheit, der ungebundenen freien Kräfte, der ungebundenen Opposition. Der Verlust der globalen politischen Konzeptionen der marxistischen Theorie und der Kommunistischen Partei führte dazu, dass sich die politischen Kämpfe dezentralisierten. An vielen Orten und in vielen Institutionen wurde aus der aktuellen Situation, aus der aktuellen Betroffenheit heraus Widerstand gegen die Macht der Institution geleistet. Die Texte von Foucault und Lyotard lieferten die theoretischen Überlegungen, die diese neuen politischen Strategien begründeten.
Diese Entwicklung führte allerdings auch zu einem für die antiautoritäre Bewegung typischen Konflikt. Der Widerspruch zwischen dem antiautoritären Selbstverständnis dieser Philosophen und der gleichzeitigen Zuweisung einer Führungsrolle durch die sozialen Bewegungen und antiautoritären politischen Kräfte war von Anfang an deutlich und konnte nie aufgelöst werden.
Die französischen Philosophen des Mai 68 verstanden sich als antiautoritär, wurden aber zugleich in den 1970er Jahren zu Leitfiguren einer antiautoritären Bewegung, sowohl im Bereich der Philosophie als auch im Bereich autonomer, politischer Bewegungen, sei es im Gefängnis, in der Psychiatrie, in den Wohngebieten, bei Bürgerinitiativen und so weiter. Sie selbst lehnten diese Rolle ab, aber sie wussten, dass sie durch ihr Verbleiben in Institutionen der Gefahr ausgesetzt waren, gegen ihren Willen zu diesen Autoritäten zu werden.
Ohne ihr Zutun wurden sie, den herrschenden Rezeptionsgewohnheiten entsprechend, zu Leitfiguren und ihre Theorien wurden als Leittheorien rezipiert. Damit waren sie in die Rolle gedrängt, die sie mit ihren Theorien kritisierten und dem Vorwurf ausgesetzt, sie seien einer perfiden Strategie der Macht aufgesessen, die darin bestünde, dass sie einerseits radikale Theorien entwickelten, diese dann andererseits in den Institutionen verträten, die ihnen der Staat zur Verfügung stellte.
Weder Foucault noch andere wurden wirklich von dieser Kritik getroffen, denn dass sie als Autoritäten fungierten, lag weniger an ihrem eigenen Auftreten, vielmehr setzte sich in dieser Betrachtungsweise die Autoritätsfixierung sowohl ihrer Anhänger als auch ihrer Kritiker durch.
Michel Foucault hat seine Sichtweise der Rolle des Intellektuellen folgendermaßen beschrieben:
Ich habe gesagt, die Rolle eines Intellektuellen heute scheint mir nicht die eines Propheten zu sein, welcher der Geschichte den Weg zu zeigen hat, den sie nehmen muss, oder der festzusetzen hat, welche Gesetze sich die Gesellschaft geben müsse. Man weiß sehr gut, wohin diese Rolle des Intellektuellen als Prophet im 19. und besonders im 20. Jahrhundert hat führen können. Die intellektuelle Prophezeiung, die Funktion des universellen Intellektuellen, der seine Gesetze diktiert, das scheint mir nicht nur eine Rolle zu sein, die aus der Mode ist, sondern auch eine gefährliche Rolle. Dagegen scheint mir, dass der Intellektuelle, in dem Maße, in dem er auf einem bestimmten Gebiet arbeitet, das notwendigerweise ein begrenztes ist – sei es das Gebiet der Medizin, das Gebiet des Rechts, das Gebiet der Geschichte usw. – dass dieser Intellektuelle eine Erfahrung des Wissens hat, die er nutzen kann, die er zirkulieren lassen kann, die er mit anderen Formen der Erfahrung und mit anderen Formen des Wissens kommunizieren lassen kann, und dass er hier eine Rolle spielen kann, die sehr wichtig ist. Sehen Sie, was sich in Polen abgespielt hat. Die Intellektuellen haben in der Gewerkschaft Solidarność eine sehr wichtige Rolle gespielt. Diese Rolle hat nicht darin bestanden, dem polnischen Proletariat zu sagen, in welche Richtung es die Dinge voranzutreiben habe. Die Rolle der Intellektuellen war genau die Rolle von Experten. Man nannte sie Experten und sie nannten sich selbst Experten. Das heißt, ausgehend von ihrem eigenen Wissen konnten sie einer sozialen Bewegung, einer politischen Bewegung, einer gewerkschaftlichen Bewegung Elemente liefern, die wichtig waren. Ich glaube, dass man hier ein Beispiel für die Rolle des spezifischen Intellektuellen hat.6
Die heftigste Kritik daran, dass die französischen Philosophen des Mai 68 sich nicht aus den Institutionen zurückgezogen haben, kam von denjenigen, die das vertraten, was Jacques Rancière in dem weiter unten ausführlicher zitierten Gespräch mit mir das „institutionalisierte revolutionäre Dogma“ genannt hat. Diese Kritiker haben sich selbst nicht gescheut, sich in den Turbulenzen der 1970er Jahre in den Institutionen zu etablieren, mussten dann aber zusehen, wie die französischen Philosophen des Mai 68 auch in den Institutionen, insbesondere bei den Studenten, immer mehr an Einfluss gewannen, während der Einfluss marxistischer Theoretiker zurückging.
Die Hartnäckigkeit mit der Foucault und andere französische Philosophen von marxistischen Kritikern aller Prägungen bekämpft wurden, erklärte sich dadurch, dass sie einen direkten Angriff auf das im ganzen 20. Jahrhundert angemaßte Kritikmonopol marxistischer Theorie und kommunistischer oder sozialistischer Parteien darstellten. Die französischen Philosophen des Mai 68 haben die geschichtlichen Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent in eine Kritik marxistischer Theorie und Praxis umgesetzt, damit den Alleinvertretungsanspruch marxistischer Theoretiker auf kritische Theorie und Praxis gebrochen und sowohl neue kritische Theorien als auch neue kritische politische Dispositive geschaffen.
Jacques Rancière sagte in dem genannten Gespräch mit mir über Vincennes (Universität Paris VIII), über die Institution also, in der die meisten hier genannten Philosophen gelehrt haben:
Vincennes wurde als eine Art Geschenk der gaullistischen Regierung an die Linken gegründet, anstelle der alten, verstaubten Sorbonne-Kultur, die zurückgewiesen wurde. Vincennes war das, was das Avantgardistischste und Neueste sowohl im theoretischen als auch im politischen Sinne in der französischen Kultur war, insbesondere in der philosophischen Kultur. Michel Foucault stand an der Spitze des Instituts für Philosophie, umgeben von Althusserianern oder eher von ehemaligen Althusserianern. Foucault war im Grunde ein wenig der Prototyp eines neuen kämpferischen Intellektuellen, der von der marxistischen Tradition abwich. Vor 1968 hatte Foucault den Ruf eines strukturalistischen Denkers, des Mannes des Antihumanismus’, des Mannes des Antiidealismus, ein wenig des Anti-Sartre...
Nach 1968 hat er seine Rolle gewechselt. Er repräsentierte jetzt einen neuen Typus des Intellektuellen, des Intellektuellen auf dem Terrain, der zur gleichen Zeit theoretisch über die Probleme dieses Terrains nachdachte. Ich glaube, er hat eine doppelte Rolle gespielt: einerseits als Philosoph, der ausgehend von der Geschichte die Genesis und das Funktionieren unserer Systeme des Denkens zu verstehen suchte. Und andererseits als kämpferischer Intellektueller, der die soziale Ordnung und Unordnung in Kategorien zu denken versuchte, die nicht mehr die traditionellen Kategorien waren wie die der Bourgeoisie, des Proletariats oder der Revolution.7
Und noch deutlicher wird Rancière in dem folgenden Statement, wenn er die Bedeutung von Foucault und den anderen hier genannten Philosophen beschreibt, die sie für die Kritik des Marxismus und den Übergang zu neuen theoretischen und praktischen Formen der Kritik hatten:
Ihre Rolle war, glaube ich, vor allem eine Rolle gegenüber dem Marxismus. Das heißt, sie waren die Befreier, oder wenn man es negativ ausdrücken will, die Liquidatoren des Marxismus’. Ihre politische Rolle hatten sie im Wesentlichen im Bereich der linken Bewegungen. Sie haben versucht, sich an solche Formen des Protestes, an solche Formen der politischen Aktion anzuschließen, die nicht mehr in die marxistischen Kriterien des Klassenkampfes hineinpassten. Sie haben insbesondere versucht, all die Formen des Protestes ins Licht zu rücken, die als nebensächlich betrachtet wurden: Foucault den Protest der Frauen, den Kampf der Häftlinge und die Problematik des Gefängnisses. Selbstverständlich waren auch die Problematik der Psychiatrie und die Problematik der sexuellen Befreiung sehr wichtig bei Foucault und Deleuze. Sie beschäftigten sich also mit allen diesen Bewegungen. Es ist sicher, dass sie versucht haben, sich diesen Bewegungen anzuschließen. Sie haben sich nicht einfach an diese Bewegungen angehängt – es handelt sich nicht um Opportunismus! – sondern sie haben versucht, über das subversive Gewicht nachzudenken, das diesen Bewegungen zukommt, die nicht in die revolutionären Normen passen. Sie haben also ein wenig das zerstört, was man das institutionalisierte revolutionäre Dogma nennen könnte.8