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Vorwort
ОглавлениеIn allen meinen philosophischen Arbeiten habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wie das Individuelle, das Heterogene gegen jegliche Art von Übergriffen eines wie auch immer bestimmten Allgemeinen seine eigenständige Geltung erhalten könne. Dabei geht es nicht darum, die „Existenz“ eines Allgemeinen oder die Notwendigkeit von Allgemeinem zu negieren, sondern darum, es in seiner Macht über das Heterogene auf das Notwendige zu beschränken. Jedenfalls soll dem Allgemeinen nicht die Bedeutung zukommen, dass das Individuelle seine Geltung nur aus seiner Bestimmung als Moment des Allgemeinen erhält.
Diese Motivation resultiert aus meinen Erfahrungen mit dem politischen System, in dem ich aufgewachsen bin. Für mich, der ich aus Ostberlin komme und dort mit dem politischen System der DDR kollidierte, ist diese Fragestellung auch die Übersetzung persönlicher Erfahrungen mit der „Diktatur des Proletariats“, mit der Willkür des Parteiapparates, mit den alltäglichen Schikanen, denen Menschen bürgerlicher Herkunft ausgesetzt waren, und schließlich mit der gnadenlosen Allmacht der Stasi, in das Feld philosophischer Forschung. Über diesen biografischen Hintergrund hinaus ist es allgemein die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die die Frage nach der eigenständigen Geltung des Heterogenen zu einer über das Persönliche hinausgehenden Problematik macht.
Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert, in dem sich zwei totalitäre politische Systeme, Nationalsozialismus und „Diktatur des Proletariats“, im Namen einer Allgemeinheit über das Individuum hinweggesetzt und unendliches Leid über die Menschen gebracht haben, bis hin zum millionenfachen Mord aus ideologischen Motiven. Aufgrund dieser Erfahrung mit totalitären Gesellschaftssystemen, einer mittelbaren und einer unmittelbaren, musste die Generation der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen und womöglich in der DDR aufgewachsen Deutschen nicht nur klären, wie die Verbrechen der Nationalsozialisten möglich gewesen waren, sondern auch, wie sich direkt im Anschluss daran ein neues totalitäres Regime in Ostdeutschland etablieren konnte.
Die Nachkriegsgeneration in Deutschland musste eine Erklärung dafür finden, wie selbst ihre humanistisch gebildete Elterngeneration in der Mehrheit das System des Nationalsozialismus mittragen konnte, aber auch dafür, wie diese Generation und auch sie selbst im Namen des Sozialismus eine totalitäre „Diktatur des Proletariats“ errichten konnten, als wäre nicht gerade eine Periode totalitärer Herrschaft zu Ende gegangen.
Die Entwertung des Individuellen zugunsten eines übergeordneten Allgemeinen war mit dem Zweiten Weltkrieg nicht beendet. In Deutschland prägte sie die DDR bis zu deren Untergang 1989. „Die Partei hat immer recht“ war in der DDR mehr als ein Slogan, dieses Motto war lebensbestimmende Norm und diente dem Repressionsapparat als einfache Richtschnur. Der sowjetische Überfall auf die Tschechoslowakei 1968 zur Beendigung des Prager Frühlings machte klar, dass es einen demokratischen Sozialismus nicht geben konnte, wenn schon seine Anfänge auf diese Weise vernichtet werden mussten. In den Augen der in der DDR herrschenden Schicht handelte es sich bei der Verknüpfung von Sozialismus und Demokratie offensichtlich um einen Systembruch, der mit den schärfsten Mitteln bekämpft werden musste.
Tatsächlich erwies sich damit das sozialistische Lager als nicht reformierbar und kollabierte dann auch 1989. Die wesentliche Strukturursache für den Zusammenbruch dieser Gesellschaftsform war die mangelnde Flexibilität und die deshalb fehlende Anpassungsfähigkeit des sozialistischen Systems.
Auf einer abstrakteren Ebene war die Ursache für den Zusammenbruch des sozialistischen Systems die mangelnde Verbindung eines sich selbst überhebenden Allgemeinen mit dem Individuellen, das es nur als Moment seiner selbst, nicht aber in seiner Eigenheit, seinem Eigensinn wahrzunehmen in der Lage war. Das System erhielt auf die Weise keine Rückmeldungen mehr. Statt zu reagieren und sich anzupassen, brach das System bei verstärktem Druck zusammen.
Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989, mit dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der Auflösung der Sowjetunion 1991, schien sich die Frage nach dem Totalitarismus zunächst von selbst erledigt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt, am Ende des 20. Jahrhunderts, konnte man noch annehmen, dass der Kampf gegen totalitäre Strukturen, die dieses Jahrhundert geprägt hatten, gewonnen sei. Sowohl der Faschismus als auch der Kommunismus waren besiegt, ein demokratisches Zeitalter schien sich anzukündigen, in dem rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen und die Menschenrechte für alle gelten würden. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sich nicht nur in den westlichen Demokratien, sondern weltweit menschenwürdige Verhältnisse durchgesetzt hätten.
Das Thema Totalitarismus war mit dem Zusammenbruch des Systems des realen Sozialismus historisch jedoch nicht erledigt. Heute muss man feststellen, dass der Traum vom Ende totalitärer politischer Verhältnisse nach 1989 nicht wahr geworden ist. Gefestigte demokratische Verhältnisse herrschen nach wie vor allein in den traditionellen Kernländern der Demokratie, auch wenn die Europäische Union sich nach Osten ausgeweitet hat, was auch dort – mit Ausnahme der seit 2011 zu beobachtenden Entwicklungen in Ungarn – zu einer Stabilisierung der 1989 errungenen Demokratie führte.
In den USA kann man spätestens seit 9/11 eine Re-Ideologisierung der Politik und eine Einschränkung der Bürgerrechte unter dem Titel der Terrorabwehr in bisher unbekanntem, besorgniserregendem Ausmaß beobachten. Dem islamischen Fundamentalismus stellte sich als Reaktion auf seinen Terroranschlag auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington DC am 11. September 2001 auf amerikanischer Seite mit George W. Bush und den Republikanern ein christlicher Fundamentalismus entgegen, der den Eindruck vermittelt, es hätte die Aufklärung nie gegeben, und der den Anschein erweckt, wir wüssten nichts mehr von den Folgen ideologisch gesteuerter Politik. Heute gilt es daher, vor den Gefahren einer längst re-ideologisierten Politik zu warnen, die zum einen als religiös-fundamentalistische und zum anderen als nationalistisch-fundamentalistische Politik auftritt.
Die islamisch-fundamentalistische Ideologie, die Selbstmord und Mord zu heiligen und Heil bringenden Taten verklärt, folgt mit ihrer Ausgrenzung der Andersgläubigen traditionellen totalitären Ideologien. Auf der anderen Seite stellen wir in den westlichen Demokratien eine schleichende Erosion der wesentlichen Errungenschaften demokratischer Verfassungen im Namen der Verteidigung dieser Errungenschaften fest.
Auch die Wiederbelebung nationalistischer Politikkonzepte im ehemaligen Jugoslawien und in der ehemaligen Sowjetunion hat totalitäre Züge.
Heute können wir feststellen, dass erstarkender Nationalismus und religiöser Fundamentalismus einerseits, Einschränkungen der Bürgerrechte und Verletzungen von Verfassungsnormen im sogenannten „Krieg gegen den Terror“ andererseits, die Gefahr totalitärer Entwicklungen auch in den westlichen Demokratien wieder heraufbeschwören und damit eine erneute Reflexion des Totalitarismus verlangen.1
Durch die Kriege im Irak und in Afghanistan und durch die innere Aufrüstung ist die Verschuldung der USA ausgeufert. Die US-Immobilienkrise 2007 hat eine Krise des amerikanischen und dann des weltweiten Finanzsystems ausgelöst. In Europa führte diese Bankenkrise zur Krise von Staaten, die sich für die Bezahlung der Gläubiger und für die Rettung der Banken selbst immer höher verschulden mussten. Diese Entwicklung führte schließlich zu einer bis heute andauernden Legitimationskrise des politischen Systems der westlichen Demokratien. Denn es wurde immer schwerer zu erklären und zu verteidigen, dass einer ungekannten privaten Bereicherung nicht eine ebenso radikale Haftung für den Fall von Fehlspekulationen gegenüberstand. Die Summen, die für die Abdeckung der Spekulationsverluste aufgewendet wurden, fehlten zudem für Sozialleistungen der Staaten. Das brachte die Frage nach gesellschaftlichen Alternativen zu Recht wieder auf die Tagesordnung westlicher Demokratien.
Je länger die Krise dauert und je unfähiger die Politik erscheint, die Finanzindustrie so zu regulieren, dass ihre unheilvollen Wirkungen auf die Realwirtschaft und schließlich auf unsere gesellschaftliche Verfassung ausgeschlossen werden können, desto mehr Menschen stellen sich die Systemfrage. Die Occupybewegung ist ein gutes Beispiel dafür, wie selbst die Mittelklasse durch die Bankenkrise antikapitalistisch politisiert wurde. Denn diese Krise zeigte, dass unsere politischen Institutionen nicht in der Lage sind, für unsere westliche Gesellschaft vertretbare Lösungen zu entwickeln. Die bisherigen Maßnahmen der Politik laufen in Europa z.B. auf eine Vergesellschaftung der Schulden hinaus, während die Profite, die mit diesen Krediten gemacht wurden, durchaus privat waren und zu ungeheurem Reichtum bei Bankern führte.
Auf den ersten Blick scheint heute vor allem Wirtschafts- und Finanzwissen gefragt. Aber das allein wird nicht reichen, weil es längst nicht mehr nur um finanztechnische Fragen geht. Inzwischen wird immer klarer, dass die durch die Finanzindustrie induzierte Krise alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat und dabei ist, die Grundlagen unserer westlichen Demokratien zu zerstören. Die Kritik an der Finanzindustrie und an der Politik, die scheinbar hilflos zuschaut wie ein Partikularinteresse an Profitmaximierung durch Spekulation unsere Gesellschaft zerfrisst, hat inzwischen alle Kreise und Schichten unserer Gesellschaft erreicht.
Nachdem die Finanzindustrie trotz ihrer ungeheuren Hebelwirkung auf die Realwirtschaft und auf unsere sozialen und politischen Strukturen, und trotz vieler kluger Vorschläge bis jetzt politisch nicht regulierbar erscheint, werden verständlicherweise immer mehr Metafragen nach unserem System laut, in dem es aus heutiger Sicht unmöglich erscheint, die Finanzindustrie so zu regulieren, dass ihre Profite nicht mehr nur privat eingestrichen und die Kosten der Fehlspekulationen nicht mehr nur gesellschaftlich getragen werden.
Die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen drängt sich angesichts der krisenhaften Entwicklung der westlichen Demokratien heute immer stärker auf. Wenn man die ungeheuren gesellschaftlichen Verwerfungen und Zerstörungen des Faschismus und des Sozialismus nicht vernachlässigen will, darf man aber nicht auf die totalitären politischen Konzepte des 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Die Frage nach dem gesellschaftlichen System kann nicht mit der einfachen Wiederbelebung eines Systemkonzepts beantwortet werden, das im 20. Jahrhundert unendliches Leid über die Menschen in seinem Einflussbereich gebracht und sich ökonomisch als nicht erfolgreich erwiesen hat.
Heute wird der Kommunismus nicht nur von der Nachfolgepartei der SED, der Linkspartei, wieder als Lösungsmodell für die gegenwärtige Gesellschaftskrise ins Spiel gebracht, sondern auch von Intellektuellen und Philosophen wie Alain Badiou oder Slavoj Žižek.2 Mit der Rückkehr zu historisch längst verworfenen Vorschlägen wird jedoch die Suche nach wirklich neuen Alternativen behindert oder unmöglich gemacht, weil sie die kritischen Energien in eine historische Sackgasse lenkt. Deshalb soll dieses Buch auch eine warnende Stellungnahme zu der heute unbekümmert wieder aufflammenden Sehnsucht nach einer Rückkehr des Kommunismus sein.
Das vorliegende Buch ist von der Überzeugung getragen, dass die Kritik totalitärer Konzepte, die als Ausweg aus den gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart gehandelt werden, die Voraussetzung dafür ist, neue Ansätze zur Krisenbewältigung zu finden, die einerseits entschlossen die Missstände unserer Gesellschaft zu beseitigen suchen, andererseits die historischen Fortschritte der westlichen Demokratien dafür nicht aufgeben wollen. Denn erst mit der Ablehnung, historische Fehlentwicklungen zu revitalisieren, wird der Weg dafür frei, neue gesellschaftliche Konzepte zur Überwindung der der unsere Lebensform bedrohenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krise zu erarbeiten.
Das große Thema Jacques Derridas war die Prägung unserer Kultur durch das, was er Metaphysik nannte. Bisher wurde in der Diskussion seiner Thesen meines Erachtens zu wenig beachtet, dass die Metaphysikkritik Derridas eine wesentlich politische Motivation hatte. Mein Buch will diesen Zusammenhang sichtbar machen, indem es Dekonstruktion nicht nur als philosophisch begründetes Konzept erklärt, sondern immer auch den politischen Sinn und die politischen Konsequenzen dieses Unternehmens ins Licht rückt.
Im besten Fall ergeben sich aus diesen Überlegungen philosophische Argumente und Positionen, die uns helfen, bewusst Politikkonzepte gegen Totalitarismus zu entwickeln, die in der Lage sind, ihre eigene Tendenz zu totalitären Positionen zu kontrollieren und immer wieder zu brechen.
Abschließend möchte ich nicht versäumen allen zu danken, die an der Entstehung dieses Buches hilfreich beteiligt waren und so dessen Fertigstellung ermöglicht haben. Mein erster Dank gilt Jacques Derrida, der nicht nur mein Passagen Projekt, sondern auch meine philosophische Arbeit stets gefördert und unterstützt hat. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik hat mich auf die Idee gebracht und ermutigt, dieses Buch zu beginnen. Er, Mihály Vajda und Maria Bussmann haben Abschnitte der Arbeit gelesen und durch wertvolle Kritik und Ideen sowie durch viele Anregungen und Ermutigungen zu diesem Buch beigetragen. Bei Eva Luise Kühn, Dario De Rose und Georg Bauer bedanke ich mich für Lektorat, Korrektorat, Kontrolle der Bibliografie, Vereinheitlichung der Zitierweise und Satz. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Passagen Verlages haben mir immer wieder Arbeit abgenommen, sodass ich mich auf die Fertigstellung dieses Buches konzentrieren konnte. Ohne Johanna Hofleitner, Christina Pieber, Markus Mittmansgruber und die oben Genannten hätte ich nicht die Zeit für dieses Projekt gefunden. Schließlich danke ich besonders Alexandra Reininghaus Engelmann nicht nur für ihre geduldige Begleitung und Unterstützung meines Projektes über Jahrzehnte, sondern auch für ihre kompetente Hilfe beim Schlusslektorat dieses Buches.