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DREIHUNDERTVIERUNDSECHZIG UND EINE NACHT

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Mein Vater hatte vier große Ziegen im Stalle stehen, so wie er vier Kinder hatte, welche zu den ersteren stets in freundschaftlicher Beziehung standen. Jede der Ziegen hatte ihren kleinen Futterbarren, aus dem sie Heu und Klee fraß, während wir sie molken. Keine einzige gab die Milch am leeren Barren. Die Ziegen hießen Zitzerl, Zutzerl, Zeitzerl und Heitzerl und waren, einer schönen Schenkung zufolge, das Eigentum von uns Kindern. Das Zitzerl und das Zutzerl gehörten meinen zwei Schwesterchen; das Zeitzerl meinem achtjährigen Bruder Jackerl, das Heitzerl war mein!

Jedes von uns pflegte und hütete sein ihm zugeteiltes Gespons in Treue; die Milch aber taten wir zusammen in einen Topf, die Mutter kochte sie, der Vater schenkte uns dazu die Brotschnitten – und Gott der Herr den Hunger.

Und wenn wir so mit den breiten Holzlöffeln, die unser Oheim geschnitzt hatte, und die ihrer Ausdehnung wegen fürs erste kaum in den Mund hinein, fürs zweite kaum aus demselben herauszubringen waren, unser Nachtmahl ausgeschaufelt hatten, so nahmen wir jedes unseren Roßhaarkotzen und legten uns, eins wie’s andere, in den Futterbarren der Ziegen. Das waren eine Zeitlang unsere Betten, und die lieben Tiere befächelten uns mit ihren weichen Bärten die Wangen und beleckten uns die Näschen.

Aber, wie wir Kindlein auch in der Krippe lagen, so kam das Einschlafen auch nicht just immer nach dem ersten Lecken. Ich hatte von unserer Ahne wundersame Geschichten und Märchen im Kopfe.

Die erzählte ich nun in solchen Abendstunden, und meine Geschwister waren darüber glückselig, und die Ziegen hörten auch nicht ungern zu; nur daß diese dann und wann, wenn ihnen das Ding gar zu unglaublich vorkam, so ein wenig vor sich hinmeckerten oder mit den Hörnern ungeduldig an den Barren pufften. Einmal, als ich von der Habergeiß erzählte, die, wenn sie um Mitternacht auf dem Felde schreit, den Haber (Hafer) schwarz macht, und die nichts frißt, als die grauen Bärte alter Kohlenbrenner, da begann mein Heitzerl dermaßen zu meckern, daß die anderen drei auch mit einstimmten, bis meine Geschwister schließlich in ein Gelächter ausbrachen, und ich wie ein überwiesener Aufschneider erbärmlich schweigen mußte.

Von derselben Zeit an erzählte ich meinen Schlafgenossen lange keine Geschichten, und ich nahm mir vor, mit dem Heitzerl mein Lebtag kein Wort mehr zu reden.

Da kam der Sonnwendtag. An diesem Tage kochte uns die Mutter den üblichen Eierkuchen, mein liebstes Essen auf der Welt. In diesem Jahre aber hatte uns der Geier die beste Leghenne geholt, so wollte sich das Eierkörblein nicht mehr füllen und als am Sonnwendtag der Kuchen kam, war er ein gar kleinwinzig Küchlein. Wehmütig lugte ich hin auf den Holzteller.

Mein fünfjährig Schwesterchen guckte mich an, und wie wenn es meine Sehnsucht wahrgenommen hätte, rief es plötzlich: „Du, Peterl, du! wenn du uns ein ganzes Jahr in jeder Nacht eine Geschichte erzählen magst, so schenk’ ich dir meinen Teil von dem Kuchen!“

Dieser hochherzigen Entäußerung der Kleinen stimmten seltsamerweise auch die anderen bei, sie patschten in die Hände, und ich ging die Bedingung ein. So stand ich plötzlich am Ziele meiner Wünsche und hatte auch mein Ehrgeiz etwas davon.

Ich nahm meinen Kuchen unter die Jacke hinein und ging damit in die Milchkammer, wo mich niemand sehen und stören konnte. Dort verriegelte ich die Türe, setzte mich auf einen umgestülpten Zuber, und ließ meine zehn Finger und das wohlgeordnete Heer meiner Zähne über den armen kleinen Kuchen los.

Aber nun kamen die Sorgen; daß meine Geschwister strenge auf ihrer Forderung bestehen würden, daran konnte kein Zweifel sein. Ihr Opfer war groß genug gewesen. Anfangs tat es sich ja, ich hatte noch ein Vorrätchen seltsamer Historien, aber das war bald erschöpft. Dann ging ich auf meinen Hirtenzügen Pecher, Kohlenbrenner, Halter und manches wohlerfahrene Weiblein, wie ich’s im Wald und auf der Heide traf, um eine Geschichte an. Es waren ergiebige Quellen, und ich war jeden Abend in der Lage, meiner Schuldigkeit nachzukommen. Mitunter allerdings war’s ein Elend, bis ich was Neues auftrieb, und nach einer Zeit geschah es nicht selten, daß das Schwesterlein mich unterbrechend von seinem Barren herüberrief: „Du! die wissen wir, die hast uns schon erzählt!“

Ich sah wohl, daß ich auf neue Wege sinnen mußte, und war daher bemüht, das Lesen besser zu lernen, um aus manchen Geschichtenbüchern, wie sie in den Waldhütten nutzlos auf den rußigen Wandstellen herumlagen, Schätze zu ziehen. Nun hatte ich neue Quellen: die Geschichte von der Pfalzgräfin (das Jackerl sagte immer Schmalzgräfin) Genovefa; die vier Heymonskinder; die schöne Melusina; Wendelin von Höllenstein – ganz wunderbare Dinge. Da sagte mein Bruder wohl oft aus seiner Krippe heraus: „Mein Kuchen reut mich gar nicht! Das ist wohl soviel unmöglich schön. Gelt, Zeitzerl?“

Nun wurden die Abende zu kurz und ich mußte eine solche Geschichte in Fortsetzungen geben, womit aber klein Schwesterchen schier nicht einverstanden sein wollte, denn es behauptete, für jede Nacht eine ganze Geschichte! so sei es ausgemacht.

So verging das Jahr. Ich erwarb mir nach und nach eine gewisse Fertigkeit im Erzählen, und tat es sogar hochdeutsch, wie es in den Büchern stand! Oft geschah es auch, daß sich während des Erzählens meine Zuhörer tief in die Kotzen vergruben und vor Schauer über die Räuber- und Geistergeschichten zu stöhnen anhuben; aber aufhören durfte ich doch nicht.

Es war schon wieder der Sonnwendtag nahe, und mit ihm die Lösung meines Vertrages. Doch – ein eigen Geschick! – noch vor dem letzten Abend ging mir gänzlich der Faden aus. Alle meine Erinnerungen, alle Bücher, deren ich habhaft werden konnte, alle Männlein und Weiblein, denen ich begegnete, waren erschöpft – alles ausgepumpt – alles hoffnungslose Dürre. Bat ich meine Geschwister: „Morgen ist der letzte Abend – schenkt ihn mir!“ War ein Geschrei: „Nein, nein, nichts schenken! Du hast deinen Sonnwendkuchen kriegt!“ Wieder die Ziegen meckerten mit.

Am nächsten Morgen ging ich herum, wie ein verlorenes Schaf. Da kam mir plötzlich der Gedanke: Betrüge sie! Dichte was zusammen! Aber alsogleich schrie das Gewissen drein: Was du erzählst, das muß wahrhaftig sein! Du hast den Kuchen wahrhaftig bekommen!

Doch geschah im Laufe dieses Tages ein Ereignis, von dem ich hoffte, daß es im Drange der Aufregung mich meiner Pflicht entbinden würde.

Mein Bruder Jackerl verlor sein Zeitzerl. Er ging in kreuz und krumm über die Heide, er ging in den Wald und suchte klagend und rufend die Ziege. Aber endlich spät am Abend brachte er sie heim. Ruhig aßen wir unsere Suppe, gingen in unsere Krippen und von mir wurde die Geschichte verlangt.

Es war still. Die Zuhörer harrten in Erwartung. Die Ziegen scharrten im Wiederkauen mit den Zähnen. Nun denn, so sollen sie die Geschichte haben. Ich sann – – ich begann:

„Es war einmal ein großer, großer Wald gewesen. Und in dem Wald war es allweg finster gewesen. Keine Vöglein haben gesungen; nur der Totenvogel hat geschrien. Mitten in diesem Wald ist eine Heide, wie der Totenacker so still, und wer über dieselbe hingeht und nicht umkehrt, der kommt nicht mehr zurück. Über diese Heide sind einmal zwei blutige Knie gegangen.“

„Jesses Ma-!“ rief mein älteres Schwesterl aus und alle drei krochen unter die Kotzen.

„Ja, zwei blutige Knie“, fuhr ich fort, „und die sind über die Heide dahingeschwebt gegen den finsteren Wald, wie verlorene Seelen. Aber auf einmal sind die zwei blutigen Knie –“

„Ich schenk’ dir mein blaues Hosenband, wenn du still bist!“ wimmerte mein Bruder angstvoll und verbarg sich noch tiefer in die Decke.

„– sind die zwei blutigen Knie stillgestanden“, fuhr ich fort, „und auf dem Boden ist ein Stein gelegen, so weiß, wie ein Leichentuch. Dann sind zwei funkelnde Lichtlein gewesen zwischen den Bäumen, und darauf sind vier andere blutige Knie dahergegangen.“ –

„Mein neues Paar Schuh’ schenk’ ich dir, wenn du aufhörst!“ hauchte das Jackerle in seinem Trog und zog aus lauter Furcht das Zeitzerl am Barte zu sich.

„Und so sind alle sechs zusammengegangen durch den finsteren Wald, und heraus auf die Heide und über das Haferfeld herab zu unserem Hause – und herein in den Stall –“

Jetzt kreischten alle drei auf, und sie wimmerten vor Angst, und klein Schwesterlein versprach mir mit Zagen seinen Teil von dem auch heuer wieder zu erwartenden, morgigen Sonnwendkuchen, wenn ich aufhöre. Ich aber fuhr fort:

„Jetzt – na, jetzt hab’ ich zum Anfang zu sagen vergessen, daß die zwei ersten blutigen Knie unserem Jackerl und die vier letzteren seinem Zeitzerl gehört haben – wie sie heut’ im Wald herumgegangen sind, und daß die Knie nicht auswendig, sondern nur inwendig blutig sind gewesen.“

Brach das Gelächter los. „Jeder Mensch hat zwei blutige Knie!“ rief Schwesterlein, und die Ziegen meckerten, daß es ein Spott war.

Ich hatte meine Rolle ausgespielt. Dreihundertvierundsechzig Nächte lang hatte ich geglänzt als weiser, wahrhaftiger Geschichtenmann; die dreihundertfünfundsechzigste hatte mich entlarvt als argen Schwätzer.

Das Versprechen in betreff des zweiten Sonnwendkuchens wurde rückgängig gemacht; Schwesterlein erklärte, die Zusage sei nichts als Notwehr gewesen.

Und die Gläubigkeit meiner Zuhörerschaft hatte ich mir verdorben ganz und gar, und wenn sie in Zukunft an irgendeinem Erzählten ihre Zweifel ausdrücken wollte, so hieß es einstimmig: „Aha, das ist wieder ein blutiges Knie!“

Ob nicht auch die Leser meiner gedruckten Geschichten schon manchmal mit eingestimmt haben?!

Waldheimat

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