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ALS ICH DAS ERSTE MAL AUF DEM DAMPFWAGEN SASS
ОглавлениеNoch viel seltsamer als diese Dinge waren, ist jenes Erlebnis gewesen, das hier erzählt wird.
Mein Oheim, der Knierutscher Jochem – er ruhe in Frieden! – war ein Mann, der alles glaubte, nur nicht das Natürliche. Das Wenige von Menschenwerken, was er begreifen konnte, war ihm göttlichen Ursprungs; das Viele, was er nicht begreifen konnte, war ihm Hexerei und Teufelsspuk. – Der Mensch, das bevorzugteste der Wesen, hat zum Beispiel die Fähigkeit, das Rindsleder zu gerben und sich Stiefel daraus zu verfertigen, damit ihn nicht an den Zehen friere; diese Gnade hat er von Gott. Wenn der Mensch aber hergeht und den Blitzableiter oder gar den Telegraphen erfindet, so ist das gar nichts anderes als eine Anfechtung des Teufels. – So hielt der Jochem den lieben Gott für einen gutherzigen, einfältigen Alten (ganz wie er, der Jochem, selber war), den Teufel aber für ein listiges, abgefeimtes Kreuzköpfel, dem nicht beizukommen ist und das die Menschen und auch den lieben Gott von hinten und vorn beschwindelt.
Abgesehen von dieser hohen Meinung vom Luzifer, Beelzebub (was weiß ich, wie sie alle heißen), war mein Oheim ein gescheiter Mann. Ich verdankte ihm manches neue Linnenhöslein und manchen verdorbenen Magen.
Sein Trost gegen die Anfechtungen des bösen Feindes und sein Vertrauen war die Wallfahrtskirche Mariaschutz am Semmering. Es war eine Tagreise dahin und der Jochem machte alljährlich einmal den Weg. Als ich schon hübsch zu Fuße war (ich und das Zicklein waren die einzigen Wesen, die mein Vater nicht einzuholen vermochte, wenn er uns mit der Peitsche nachlief), wollte der Jochem auch mich einmal mitnehmen nach Mariaschutz.
„Meinetweg’“, sagte mein Vater, „da kann der Bub gleich die neue Eisenbahn sehen, die sie über den Semmering jetzt gebaut haben. Das Loch durch den Berg soll schon fertig sein.“
„Behüt’ uns der Herr“, rief der Jochem, „daß wir das Teufelszeug anschau’n! ’s ist alles Blendwerk, ’s ist alles nicht wahr.“
„Kann auch sein“, sagte mein Vater und ging davon.
Ich und der Jochem machten uns auf den Weg; wir gingen über das Stuhleckgebirge, um ja dem Tale nicht in die Nähe zu kommen, in welchem nach der Leut’ Reden der Teufelswagen auf und ab ging. Als wir aber auf dem hohen Berge standen und hinabschauten auf den Spitalerboden, sahen wir einer scharfen Linie entlang einen braunen Wurm kriechen, der Tabak rauchte.
„Jessas Maron!“ schrie der Jochem, „das ist schon so was! spring’ Bub!“ – Und wir liefen die entgegengesetzte Seite des Berges hinunter.
Gegen Abend kamen wir in die Niederung, doch – entweder der Jochem war hier nicht wegkundig oder es hatte ihn die Neugierde, die ihm zuweilen arg zusetzte, überlistet, oder wir waren auf eine „Irrwurzen“ gestiegen – anstatt in Mariaschutz zu sein, standen wir vor einem ungeheuren Schutthaufen und hinter demselben war ein kohlfinsteres Loch in den Berg hinein. Das Loch war schier so groß, daß darin ein Haus hätte stehen können, und gar mit Fleiß und Schick ausgemauert; und da ging eine Straße mit zwei eisernen Leisten daher und schnurgerade in den Berg hinein.
Mein Oheim stand lange schweigend da und schüttelte den Kopf; endlich murmelte er: „Jetzt stehen wir da. Das wird die neumodische Landstraßen sein. Aber derlogen ist’s, daß sie da hineinfahren!“
Kalt wie Grabesluft wehte es aus dem Loche. Weiter hin gegen Spital in der Abendsonne stand an der eisernen Straße ein gemauertes Häuschen; davor ragte eine hohe Stange, auf dieser baumelten zwei blutrote Kugeln. Plötzlich rauschte es an der Stange und eine der Kugeln ging wie von Geisterhand gezogen in die Höhe. Wir erschraken baß. Daß es hier mit rechten Dingen nicht zuginge, war leicht zu merken. Doch standen wir wie festgewurzelt.
„Oheim Jochem“, sagte ich leise, „hört Ihr nicht so ein Brummen in der Erden?“
„Ja, freilich, Bub“, entgegnete er, „es donnert was! es ist ein Erdbiden (Erdbeben).“ Da tat er schon ein kläglich Stöhnen. Auf der eisernen Straße heran kam ein kohlschwarzes Wesen. Es schien anfangs stillzustehen, wurde aber immer größer und nahte mit mächtigem Schnauben und Pfustern und stieß aus dem Rachen gewaltigen Dampf aus. Und hintenher –
„Kreuz Gottes!“ rief der Jochem, „da hängen ja ganze Häuser dran!“ Und wahrhaftig, wenn wir sonst gedacht hatten, an der Lokomotive wären ein paar Steirerwäglein gespannt, auf denen die Reisenden sitzen konnten, so sahen wir nun einen ganzen Marktflecken mit vielen Fenstern heranrollen, und zu den Fenstern schauten lebendige Menschenköpfe heraus, und schrecklich schnell ging’s, und ein solches Brausen war, daß einem der Verstand still stand. Das bringt kein Herrgott mehr zum Stehen! fiel’s mir noch ein. Da hub der Jochem die beiden Hände empor und rief mit verzweifelter Stimme: „Jessas, Jessas, jetzt fahren sie richtig ins Loch!“
Und schon war das Ungeheuer mit seinen hundert Rädern in der Tiefe; die Rückseite des letzten Wagens schrumpfte zusammen, nur ein Lichtlein davon sah man noch eine Weile, dann war alles verschwunden, bloß der Boden dröhnte und aus dem Loche stieg still und träge der Rauch.
Mein Oheim wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß vom Angesicht und starrte in den Tunnel. Dann sah er mich an und fragte: „Hast du’s auch gesehen, Bub?“
„Ich hab’s auch gesehen.“
„Nachher kann’s keine Blenderei gewesen sein“, murmelte der Jochem.
Wir gingen auf der Fahrstraße den Berg hinan; wir sahen aus mehreren Schachten Rauch hervorsteigen. Tief unter unseren Füßen im Berge ging der Dampfwagen.
„Die sind hin wie des Juden Seel’!“ sagte der Jochem und meinte die Eisenbahnreisenden. „Die übermütigen Leut’ sind selber ins Grab gesprungen!“
Beim Gasthause auf dem Semmering war es völlig still; die großen Stallungen waren leer, die Tische in den Gastzimmern, die Pferdetröge an der Straße waren unbesetzt. Der Wirt, sonst der stolze Beherrscher dieser Straße, lud uns höflich zu einer Jause ein.
„Mir ist aller Appetit vergangen“, antwortete mein Oheim, „gescheite Leut’ essen nicht viel, und ich bin heut’ um ein Stückel gescheiter worden.“ Bei dem Monumente Karls VI., das wie ein kunstreiches Diadem den Bergpaß schmückt, standen wir still und sahen ins Österreicherland hinaus, das mit seinen Felsen und Schluchten und seiner unabsehbaren Ebene fern dorthin lag. Und als wir dann abwärts stiegen, da sahen wir drüben in den wilden Schroffwänden unseren Eisenbahnzug gehen – klein wie eine Raupe – und über hohe Brücken, fürchterliche Abgründe setzen, an schwindelnden Hängen gleiten, bei einem Loch hinein, beim andern hinaus – ganz verwunderlich.
„’s ist auf der Welt ungleich, was heutzutag’ die Leut’ treiben“, murmelte der Jochem.
„Sie tun mit der Weltkugel kegelscheiben!“ sagte ein eben vorübergehender Handwerksbursche.
Als wir nach Mariaschutz kamen, war es schon dunkel. Wir gingen in die Kirche, wo das rote Lämpchen brannte, und beteten.
Dann genossen wir beim Wirt ein kleines Nachtmahl und gingen an den Kammern der Stallmägde vorüber auf den Heuboden, um zu schlafen.
Wir lagen schon eine Weile. Ich konnte unter der Last der Eindrücke und unter der Stimmung des Fremdseins kein Auge schließen, vermutete jedoch, daß der Jochem bereits süß schlummere; da tat dieser plötzlich den Mund auf und sagte:
„Schläfst schon, Bub?“
„Nein“, antwortete ich.
„Du“, sagte er, „mich reitet der Teufel!“
Ich erschrak. So was an einem Wallfahrtsort, das war unerhört.
„Ich muß vor dem Schlafengehen keinen Weihbrunn’ genommen haben“, flüsterte er, „’s gibt mir keine Ruh’, ’s ist arg, Bub.“
„Was denn, Pate?“ fragte ich mit warmer Teilnahme.
„Na, morgen, wenn ich kommuniziere, leicht wird’s besser“, beruhigte er sich selbst.
„Tut Euch was weh’, Oheim?“
„’s ist eine Dummheit. Was meinst, Bübel, weil wir schon so nah’ dabei sind, probieren wir’s?“
Da ich ihn nicht verstand, so gab ich keine Antwort.
„Was kann uns geschehen?“ fuhr er fort, „wenn’s die anderen tun, warum nicht wir auch? Ich lass’ mir’s kosten.“
Er schwätzt im Traum, dachte ich bei mir selber und horchte mit Fleiß.
„Da werden sie einmal schauen“, fuhr er fort, „wenn wir heimkommen und sagen, daß wir auf dem Dampfwagen gefahren sind!“
Ich war gleich dabei.
„Aber eine Sündhaftigkeit ist’s!“ murmelte er, „na, leicht wird’s morgen besser, und jetzt tun wir in Gottes Namen schlafen.“
Am anderen Tage gingen wir beichten und kommunizieren und rutschten auf den Knien um den Altar herum. Aber als wir heimwärts lenkten, da meinte der Oheim nur, er wolle sich dieweilen gar nichts vornehmen, er wolle nur den Semmeringbahnhof sehen, und wir lenkten unseren Weg dahin.
Beim Semmeringbahnhof sahen wir das Loch auf der anderen Seite. War auch kohlfinster. – Ein Zug von Wien war angezeigt. Mein Oheim unterhandelte mit dem Bahnbeamten, er wolle zwei Sechser geben, und gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, wollten wir wieder absteigen.
„Gleich hinter dem Berg, wo das Loch aufhört, hält der Zug nicht“, sagte der Bahnbeamte lachend.
„Aber wenn wir absteigen wollen!“ meinte der Jochem.
„Ihr müßt bis Spital fahren. Ist für zwei Personen zweiunddreißig Kreuzer Münz.“
Mein Oheim meinte, er lasse sich was kosten, aber soviel wie die hohen Herren könne er armer Mann nicht geben; zudem sei an uns beiden ja kein Gewicht da. – Es half nichts; der Beamte ließ nicht handeln. Der Oheim zahlte; ich mußte zwei „gute“ Kreuzer beisteuern. Mittlerweile kroch aus dem nächsten, unteren Tunnel der Zug hervor, schnaufte heran, und ich glaubte schon, das gewaltige Ding wolle nicht anhalten. Es zischte und spie und ächzte – da stand es still.
Wie ein Huhn, dem man das Hirn aus dem Kopfe geschnitten, so stand der Oheim da, und so stand ich da. Wir wären nicht zum Einsteigen gekommen; da schupfte der Schaffner den Jochem in einen Wagen und mich nach. In demselben Augenblicke wurde der Zug abgeläutet und ich hörte noch, wie der ins Gelaß stolpernde Jochem murmelte: „Das ist meine Totenglocke.“ Jetzt sahen wir’s aber: im Wagen waren Bänke, schier wie in einer Kirche; und als wir zum Fenster hinausschauten – „Jessas und Maron!“ schrie mein Oheim, „da draußen fliegt ja eine Mauer vorbei!“ – Jetzt wurde es finster und wir sahen, daß an der Wand unseres knarrenden Stübchens eine Öllampe brannte. Draußen in der Nacht rauschte und toste es, als wären wir von Wasserfällen umgeben, und einums andermal hallten schauerliche Pfiffe. Wir reisten unter der Erde.
Der Jochem hielt die Hände auf dem Schoß gefaltet und hauchte: „In Gottes Namen. Jetzt geb’ ich mich in alles drein. Warum bin ich der dreidoppelte Narr gewesen.“
Zehn Vaterunser lang mochten wir so begraben gewesen sein, da lichtete es sich wieder, draußen flog die Mauer, flogen die Telegraphenstangen und die Bäume und wir fuhren im grünen Tale.
Mein Oheim stieß mich an der Seite: „Du, Bub! Das ist gar aus der Weis’ gewesen, aber jetzt – jetzt hebt’s mir an zu gefallen. Richtig wahr, der Dampfwagen ist was Schönes! Jegerl und jerum, da ist ja schon das Spitalerdorf! Und wir sind erst eine Viertelstunde gefahren! Du, da haben wir unser Geld noch nicht abgesessen. Ich denk’, Bub, wir bleiben noch sitzen.“
Mir war’s recht. Ich betrachtete das Zeug von innen und ich blickte in die fliegende Gegend hinaus, konnte aber nicht klug werden. Und mein Oheim rief: „Na, Bub, die Leut’ sind gescheit! Und daheim werden sie Augen machen! Hätt’ ich das Geld dazu, ich ließe mich, wie ich jetzt sitz’, auf unseren Berg hinauffahren!“
„Mürzzuschlag!“ rief der Schaffner. Der Wagen stand; wir schwindelten zur Tür hinaus.
Der Türsteher nahm uns die Pappeschnitzel ab, die wir beim Einsteigen bekommen hatten, und vertrat uns den Ausgang. „He, Vetter!“ rief er, „diese Karten galten nur bis Spital. Da heißt’s nachzahlen, und zwar das Doppelte für zwei Personen; macht einen Gulden sechs Kreuzer!“
Ich starrte meinen Oheim an, mein Oheim mich. „Bub“, sagte dieser endlich mit sehr umflorter Stimme, „hast du ein Geld bei dir?“
„Ich hab’ kein Geld bei mir“, bekannte ich.
„Ich hab’ auch keins mehr“, murmelte der Jochem.
Wir wurden in eine Kanzlei geschoben, dort mußten wir unsere Taschen umkehren. Ein blaues Sacktuch, das für uns beide war und das die Herren nicht anrührten, ein hart Rindlein Brot, eine rußige Tabakspfeife, ein Taschenfeitel, etwas Schwamm und Feuerstein, der Beichtzettel von Mariaschutz und der lederne Geldbeutel endlich, in dem sich nichts befand als ein geweihtes Messingamulettchen, das der Oheim stets mit sich trug im festen Glauben, daß sein Geld nicht ganz ausgehe, solange er das geweihte Ding im Sacke habe. Es hatte sich auch bewährt bis auf diesen Tag – und jetzt war’s auf einmal aus mit seiner Kraft. – Wir durften unsere Habseligkeiten zwar wieder einstecken, wurden aber stundenlang auf dem Bahnhofe zurückbehalten und mußten mehrere Verhöre bestehen.
Endlich, als schon der Tag zur Neige ging, zur Zeit, da, auf ehrlichen Füßen wandernd, wir leicht schon hätten zu Hause sein können, wurden wir entlassen, um nun den Weg über Berg und Tal in stockfinsterer Nacht zurückzulegen.
Als wir durch den Ausgang des Bahnhofes schlichen, murmelte mein Oheim: „Beim Dampfwagen da – ’s ist doch der Teufel dabei!“