Читать книгу Der Keim unserer Zivilisation - Peter Thompson - Страница 6
Einleitung
Оглавление„Ich glaube fest an die Kraft eines Samenkorns ... Falls du wirklich einen Samen da hast, bin ich bereit, Wunder zu erwarten.“ Henry D. Thoreau, Die Artenfolge der Waldbäume, 1860
„Pflanzensamen sind wichtig für Gärtner” – das dachten etliche Menschen, mit denen ich gesprochen hatte. „Pflanzensamen sind von naturhistorischer Bedeutung: Ohne sie gäbe es keine Wildpflanzen“ – das war eine andere weitverbreitete Ansicht. In Wirklichkeit aber sind Pflanzensamen für uns alle bedeutsam, aber kaum jemand, mit dem ich über dieses Buch gesprochen habe, war sich dessen bewusst, dass ihre Rolle bei der Gärtnerei und in der Naturgeschichte nebensächlich ist, verglichen mit der Rolle, die Samen in unserem alltäglichen Leben spielen – eine so tragende Rolle, dass es ohne sie ein Leben, wie wir es führen, überhaupt nicht geben würde. Wir würden nicht in zivilisierten Gesellschaften leben; die meisten von uns wären gar nicht am Leben. Pflanzensamen sind so sehr Teil unseres Alltags, dass wir sie für selbstverständlich erachten und nicht einmal bemerken, dass sie da sind.
Pflanzensamen versorgen uns nicht nur mit Nahrungsmitteln (von Kakaobohnen und Hülsenfrüchten bis zu Getreide und Speiseöl), sondern auch mit Textilien, Waschmitteln und Kraftstoffen. Doch nicht nur in diesen unmittelbaren Zusammenhängen sind Pflanzensamen lebensnotwenig. Gleiches gilt auch für effizienten Ackerbau, Gemüseanbau und Viehzucht. Wechselwiesen aus Gras- und Kleesorten, die aus Samen gezogen werden, haben die Dauerweiden in vielen Teilen der Welt ersetzt, und Hühner, Schweine und Mastrinder werden in Intensivzucht aufgezogen, die fast vollkommen von jeweils einer bestimmten Getreideart abhängig ist. Solch eine großflächige Agrarwirtschaft bildet das Fundament moderner Volkswirtschaften und damit der Lebensstile, die sie dem Konsumenten ermöglichen.
Die lange und faszinierende Geschichte der Verbindung von Mensch und Pflanzensamen, die vor mehr als 10.000 Jahren begann, ist das Thema dieses Buches. Innerhalb weniger Tausend Jahre haben Menschen in einem halben Dutzend weit verstreuter Regionen auf der Welt unabhängig voneinander gelernt, Land zu bestellen, die Samen von Gräsern und anderen Pflanzen, die sie davor in der Wildnis gesammelt hatten, auszusäen, die Pflanzen, die diese hervorbrachten, zu kultivieren, und die Samen, die sie produzierten, zu ernten und zu lagern. In den folgenden Jahrhunderten breiteten sich von diesen wenigen ursprünglichen Zentren Kulturpflanzen auf dem gesamten Erdball aus. Auf den verschiedenen Kontinenten lieferten die Samen von Weizen, Gerste, Linsen und anderen Hülsenfrüchten, von Reis, Sojabohne, Sorghum- und Millethirse, Mais, Bohnen, Quinoa und Amarant die Grundnahrungsmittel für Millionen Menschen.
Die nomadische Lebensweise der Jäger und Sammler wurde von sesshaften Gesellschaften aus Ackerbauern abgelöst. Die Leichtigkeit, mit der Samen transportiert werden konnten, ihre leichte Verfügbarkeit und die Möglichkeit, sie lange zu lagern, enthoben die Menschen von ihrer Abhängigkeit von dem, was sie Tag für Tag sammeln, ausgraben oder erjagen konnten. Dörfer wuchsen zu Städten an, in denen Händler, Handwerker, Ladenbesitzer und andere ihren Geschäften nachgingen, da ihre Versorgung mit Lebensmitteln durch die Erzeugnisse der Bauernhöfe im Umland gewährleistet war. Die Standorte der Städte wählte man danach aus, wie gut sie sich als Zentren der Macht oder des Handels eigneten, oft in einiger Entfernung von den Feldern der Bauern, die ihre Einwohner ernährten.
Diese Strukturen hatten im Prinzip noch bis in jüngste Zeit Bestand. Über Jahrtausende hinweg säten, kultivierten, ernteten und pflückten Kleinbauern die Früchte, die sie anbauten, wobei sie das Saatkorn alljährlich beiseitelegten, um auch im nächsten Jahr wieder Erträge zu haben. Dürre und Frost, Schädlingsplagen, Pilzbefall und das Klima hatten an verschiedenen Orten einen unterschiedlichen Einfluss auf die Pflanzen, und je nachdem, wo Nutzpflanzen angebaut wurden, konnte es sein, dass eine jeweils andere Kombination aus Sorten den Gegebenheiten besser entsprach. Die landwirtschaftlichen Erträge erhielt man Jahr für Jahr aus einer komplizierten Durchdringung und einer sich stetig ändernden Vermischung von Sorten, den Landrassen. Einige Landrassen lieferten eine bessere Ernte, andere eine schlechtere, aber für alle gilt, dass ihr Ertrag ungleich geringer war, als das, was man heute erwartet.
Im Verlauf der letzten 300 Jahre beschleunigte sich das Tempo, mit dem sich Änderungen vollzogen. Durch die erstaunliche Entdeckung im 18. Jahrhundert, dass Pflanzen ein Geschlecht besitzen, erschlossen sich den aufgeklärten Bauern, Landbesitzern und Gärtnern 100 Jahre später die Möglichkeiten, neue und verbesserte Frucht-, Gemüse- und Getreidesorten zu züchten. Die Pflanzenzüchter des 20. Jahrhunderts machten sich die neu gewonnenen Erkenntnisse der Vererbungslehre zunutze, um die Grundlage der Agrarproduktion durch gezüchtete Hochertragssorten umzugestalten. Diese begannen die alten Landrassen zu verdrängen, zunächst nur langsam und dann in einer alles hinwegspülenden Flut, finanziert von Regierungen und großen Agrarkonzernen. Mit dem Verlust der alten Landrassen verschwand die genetische Vielfalt, die sich über Jahrtausende unkontrollierter Fortpflanzung auf den Feldern von Kleinbauern herausgebildet hatte.
Das vorliegende Buch erzählt die Geschichte der Beziehung des Menschen zu den Pflanzensamen und seiner Abhängigkeit von ihnen. Es erkundet wie wir, widerwilligen Schülern gleich, allmählich lernten, was Pflanzensamen sind, woher sie kamen und welche Rolle sie beim Fortbestand von Wildpflanzen und beim Ertragsreichtum von Kulturpflanzen spielten. Es zeigt auf, wie wir dieses Wissen einsetzten, um größere und bessere Pflanzen in unseren Gärten und auf den Feldern anzubauen, und wie sich dies als zweischneidiges Schwert herausstellen sollte. Dieses Buch deckt auf, wie Selbstüberschätzung beinahe dazu geführt hatte, dass wir die vererbte genetische Widerstandsfähigkeit unserer Pflanzen gegenüber Krankheiten und Trockenheit ebenso wie andere Eigenschaften verloren hätten, von denen der Erfolg zukünftiger Pflanzenzüchtung – und der Fortbestand zivilisierter Gesellschaften – abhängig ist. Und schließlich zeichnet es nach, wie man auf diese Bedrohung reagiert hat, worüber sich die meisten Menschen überhaupt nicht bewusst waren – zumindest bis vor Kurzem. Und doch sollte ein Teil der Lösung des Problems in der Gründung eines weltweiten Netzwerks aus Samenbanken und Einrichtungen zur Pflanzenzüchtung bestehen, in einem der ältesten und sicherlich mit Abstand weitreichendsten und teuersten Konservierungsprojekte, die jemals in Angriff genommen wurden.