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BRANDUNG

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Portofino nicht, Laigueglia nicht, auch Nizza nicht. Aber Stresa, vielleicht Stresa. Wenn überhaupt. Während Wochen schieben wir die Fragen hin und her, manchmal überhören wir sie, es kann sein, dass wir Joshuas Fragen überhören wollen. Bis wir wieder seinen Blick sehen. Joshuas verlorenen und verletzlichen Blick, der tief unter die Haut zieht. Vielleicht Stresa, drei oder vier Stunden Fahrt, es wäre nicht unmöglich. Für Martha ist es unmöglich. Sie hört nie hin, wenn wir Pläne in die Luft werfen, um wieder an ihnen zu zweifeln, um sie zu verwerfen, aber vielleicht hört sie auch ganz genau hin und lässt uns einfach reden. Nur einmal sagt sie streng: Stresa nicht und überhaupt nirgendwohin, wisst ihr denn nicht, was das bedeuten würde? Martha weiss, was es bedeutet. Sie hört jede Nacht Joshuas schleppenden, seinen rasselnden Atem, seit sie es nicht mehr ausgehalten hat, im Nebenzimmer zu schlafen, seit sie ihr Bett ganz nahe an seines geschoben hat. Das laute Rasseln, das oft während Stunden nicht aufhört, reisst wie schweres Bohrgeräusch durch Marthas Schlaf, bis sie verstört aufschreckt, manchmal fünfmal in der Nacht oder mehr, bis sie den Sauerstoffschlauch holen muss.

Joshua liegt nur noch wie ein dünner Strich im Bett, seit die Lähmung auch die linke Körperseite befallen hat, man kann ihn wie Leichtgepäck aufheben. Wenn er, selten genug, einmal redet, reicht die Kraft noch für einen, vielleicht zwei Sätze, dann sind die Batterien leer, die Stimme wird tonlos, nur an seinen Lippen hängen noch Zeichen, stumme Sprachzeichen für etwas, was er will oder auch nicht will. Eigentlich will Joshua gar nichts mehr, nur eines will er noch. Er will noch einmal ans Meer, an eine Brandung, noch ein einziges und letztes Mal im Leben.

Überhaupt nirgendwohin, sagt Martha, nie mehr. Sie wendet sich ab und sieht uns an, als hätten wir jedes Mass verloren, wenn wir das Unvorstellbare weiterdenken. Wenn wir sagen, manchmal muss man an die Grenzen gehen, wenn alles nur noch ein Warten auf die allerletzte Grenze ist. Wir könnten auch sagen, Joshua hat im Leben nur wenig zu verlieren, aber er kann noch etwas gewinnen, vielleicht etwas wie Glück, einen Atemzug brennendes Leben. Wir können Joshua von Tag zu Tag besser verstehen. Meer und Brandung hören wir immer wieder in seinen Sätzen, und wir verstehen ihn genau. Auch wenn es einfacher wäre, ihn nicht zu verstehen.

Wir brüten über Landkarten, klopfen Orte der Erinnerung ab, und irgendwann fällt der Name, vielleicht Stresa, schon tief in Italien und ein See wie ein Meer, und es ist nahe, drei oder vier Stunden? Der Name hakt sich fest, er ist nicht mehr wegzubringen, und wir sehen, dass Joshua zu warten beginnt, dass er in Gedanken schon unterwegs ist, vielleicht schon nach Stresa unterwegs ist, und dass sein Blick anders geworden ist, wacher. Es ist unmöglich, Joshuas Blick zu begegnen und ihn nicht zu enttäuschen. Wir beginnen, die Reise ins Ungewisse zu planen, wir suchen einen grossen Wagen mit Liegefläche, zu Martha sagen wir: Wir nehmen alles mit, was Joshua braucht, Inhalationsgerät, Notfallkoffer, Sauerstoff. Sie lässt sich nicht anmerken, was sie noch immer vom Unternehmen hält, gar nichts, aber sie ist nachgiebiger geworden, vielleicht hat sie Joshuas fiebrige Erwartung umgestimmt, schliesslich sagt sie: Natürlich fahre ich mit.

Als wir an einem grauen Junimorgen aufbrechen wollen, verlässt uns für einen Augenblick der Mut. Joshua sieht blass aus und atmet schwer, er hat kaum geschlafen. Nur seine Augen haben einen warmen Glanz, und wir glauben zu wissen, was er jetzt denkt, er denkt, wenn wir heute nicht fahren, fahren wir nie mehr. Martha sieht uns mit eisigem Blick an, als wäre sie sich sicher, dass wir bei erster Gelegenheit, bei der ersten Ausfahrt wieder umkehren würden. Wir kehren nicht um. Die Fahrt dauert länger als vier Stunden, wir haben das Gefühl, es sind zehn Stunden oder mehr. Zweimal, dreimal legen wir die Sauerstoffmaske um Joshuas schmalen Kopf, der endlose Simplontunnel ist ohne Sauerstoff nicht zu überstehen, nach Domodossola geraten wir in ein Gewitter, das so heftig ist, dass wir auf der löchrigen Strasse durch sprühende Wasserlachen katapultiert werden. Als endlich der See vor uns liegt, bricht erstmals die Sonne durch, mit fahlem Glanz.

In Stresa ist es schon brütend warm, die Sonne steht direkt über uns. Auf dem Parkplatz vor der Schiffsstation stauen sich die Wagen, Männer mit Shorts und weissen Mützen versuchen erfolglos Ordnung zu schaffen, die Luft vibriert vom Staccato der Stimmen, von der lustvollen fremden Sprache, es riecht nach Maschinenöl und Espresso. Leute kommen an oder brechen auf, viele stehen in Gruppen zusammen und warten darauf, dass jemand ein Zeichen gibt. Die Senioren einer Reisegruppe schauen mit offenem Mund zu, wie wir Joshua aus dem Wagen und in den Rollstuhl heben, wie wir ihn stützen müssen, weil er sich nicht aus eigener Kraft halten kann, und das Sauerstoffgerät an den Rollstuhl hängen. Sie starren Joshua an, als gehörte er auf die nächste Notfallstation. Aber Joshua gehört nicht auf eine Notfallstation, er gehört hierher.

Er atmet jetzt ruhiger, das Rasseln ist kaum zu hören, und seine Augen leuchten, als wollte er den See und mit ihm die Welt umarmen. Das Leuchten hält an, als wir uns langsam in Bewegung setzen, als wir uns in die Kolonne der Uferwanderer einreihen. Vorne Martha, die den Weg freihält für Joshua, den wir mit den Händen stützen und mit dem Rollstuhl über Treppen und Wegabbrüche heben wie einen König in seiner Sänfte. Vielleicht ist Joshua jetzt auch wirklich eine Stunde lang König, ein anspruchsloser König, der noch einmal sein verlorenes Land sehen kann. Die Leute begegnen uns mit besorgtem Blick, ein paar lächeln Joshua ergriffen zu, einige bleiben stehen und starren ihn an wie eine Erscheinung. Ein bewegungsloser Mime in weissem Gewand und mit weiss bemaltem Gesicht gibt seine Versteinerung auf und verneigt sich so tief vor Joshua, dass sein Weisskopf den Boden berührt.

Weit draussen, schon ausserhalb der Stadt stossen wir auf eine kleine Bucht, wo zwei Kinder Steintürme bauen, sonst ist da niemand. Joshua gibt uns ein Zeichen, und wir halten an. Er will ganz nahe ans Wasser, so nahe, dass die Wellen bis an den Rollstuhl schwappen, dass sie ihm ins Gesicht spritzen, Joshua lässt sich davon nicht abhalten, er will bleiben. Wir bleiben lange, eine Stunde, zwei, wir haben nicht gewusst, dass Joshua das schaffen kann, sich so lange im Rollstuhl halten, er hat ihn nie länger benutzt. Er horcht reglos in die Brandung hinein, die manchmal schweigt und dann wieder in rythmischen Schlägen heranrollt, es sieht aus, als hätte er alles andere vergessen, die unselige Fahrt und den griffbereiten Sauerstoff und auch uns, als hätte er auch sich selbst vergessen. Auch wir horchen jetzt auf die Sprache der Brandung, die hart und wieder versöhnlich ist, in jedem Wellenschlag beides, aber wir können nicht hören, was Joshua hört. Vielleicht hört er etwas, das über ihn hinausgeht, das über die Zeit hinausgeht, wir würden es gerne wissen. Vielleicht ist es etwas, das ihn aufnimmt, ihn in einen anderen Raum trägt, nicht greifbar und nicht erklärbar. Wir hören es nicht, aber wir sind uns sicher, Joshua hört es die ganze Zeit. Wir bleiben lange, der Himmel ist schon grauweiss und milchig, wir bleiben, bis das Prasseln von Joshuas Atem laut und gefährlich geworden ist, bis sein Kopf ganz leicht zur Seite kippt, fast unbemerkt, und er tonlos sagt, nun ist es gut. Seine Augen sind fest auf Martha gerichtet, es ist keine Unruhe darin zu erkennen.

Einen Augenblick warten wir unschlüssig, als könnte uns irgendeine Antwort erreichen, als würde sich etwas entscheiden. Wir wissen nicht, was kommt, wie der Weg zurück sein wird, ob wir das schaffen, ob Joshua es schafft und ob er eine Rückfahrt überhaupt will. Aber wir haben Joshuas Augen gesehen, etwas wie Glück in seinen Augen, und wir halten uns an den Gedanken, dass es nicht falsch gewesen sein kann, hierherzukommen. Dass man manchmal etwas tun muss, das viele für unsinnig halten und das dennoch einen Sinn ergibt.

An den Rändern

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