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AN DEN RÄNDERN

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Es ist gut, dass Sara auf einmal aufsteht und ins Schweigen eines seiner Gedichte vorträgt. Sie redet stockend, ein paarmal bricht sie ab, aber es stört niemanden, später wird ihre Stimme sicherer. Ralph hätte sein Gedicht anders gelesen, langsam und ruhig, mit gesetzten Pausen. Aber irgendwie können wir seine Stimme hören, wir sehen ihn vor uns, wie er liest, wie er immer gelesen hat, mit diesem Blick, der nirgendwohin und doch auf alle gerichtet ist, wir können ihn hören.

Wörter / halten mich fest / wenn ich kein Land mehr sehe / meine Wehrhäute / um wieder / festen Boden zu betreten. Es ist gut, dass ein Gedicht das Schweigen beendet, es ist wie mit dem Stein, den man aufs Eis wirft und sieht, dass das Eis hält, dass man darauf gehen kann. Jeder redet jetzt über ihn, irgendwann beginnt jeder über Ralph zu reden, als wäre er mit dem Gedicht zu uns gekommen, als könnte man ihn mit einem einzigen Gedicht herholen, wieder aus dem Wasser ziehen. Wann hast du ihn zuletzt gesehen, wo war es? Letzte Gespräche, die jetzt schwer werden, die Dinge mit Bedeutung überladen oder auch verschweigen. Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen, ein Jahr, vielleicht zwei, andere standen ihm näher und erinnern sich genauer, an den Nachklang von Gesprächen, an Orte. Luzia und Jonas sind ihm als Letzte begegnet, kurz vor seiner Abreise, zwei oder drei Wochen davor, und wir denken, vielleicht wissen sie etwas, was keiner von uns weiss, vielleicht haben sie uns etwas zu sagen, eine Antwort auf so viele offene Fragen, aber sie haben keine Antwort. Luzia sagt, wir haben ihn auf dem Markt getroffen, ich glaube, er wollte Blumen kaufen, und dann hat er über ein Buch von Peter Nadas gesprochen, die ganze Zeit hat er nur über das Buch gesprochen. Das Buch habe ihn getroffen, es habe ihn verändert, und er wisse jetzt, was er als Nächstes schreiben werde, er habe Pläne, die Entwürfe seien schon da. Macht man solche Pläne, wenn man gehen will?

Das Ringheft mit den ersten Manuskriptseiten hat am Strand gelegen, neben dem Rucksack, den offenen Schuhen, neben Hemd und Hose, nicht einfach hingeworfen, aber sorgsam zusammengelegt, als würden die zurückgelassenen Gegenstände warten, als läge in ihnen eine Botschaft.

Wir sind froh, dass Ralph Pläne hatte, dass er mit Plänen aufgebrochen ist. Weil es so leichter ist? Ich muss an einen Satz denken, den ich einmal gehört habe: Lebenskraft und Todeskraft sind nicht unvereinbar, nicht zwei Seelenwelten – es sind nur andere Seelenzustände, die tiefer oder flüchtiger am Leben haften. Freunde von Ralph werfen ein paar Grossaufnahmen aus seinem Leben an die Wand. Er sitzt in seiner Arbeitshöhle, zwischen Büchertürmen, zwischen herumliegenden Zeitschriften, und hält ein zerbeultes Plakat in die Höhe, ZUVIELISATION. Er liest an einer Literaturveranstaltung und beugt sich tief über die Manuskriptseiten, um dem blendenden Lichtkegel zu entkommen. Er rennt mit einem Transparent durch die Strasse, es ist nicht zu erkennen, warum er rennt. Er liegt auf einer Bergwanderung ausgestreckt auf dem Rücken und hat seinen Körper mit dürren Grasbüscheln zugedeckt. Er kauert in der Innenstadt vor einer Frau in abgerissenen Kleidern und gestikuliert mit den Händen, um irgendetwas zu sagen oder zu verstehen. Es kommen noch andere Bilder, verstreute Augenblicke, die kurz aufblitzen und wieder verschwinden, wie Lichtpunkte auf dunklem Grund.

Eine junge Frau, die ich nicht kenne, zögert und sagt dann doch so laut, dass alle es hören können, muss ein Zerbrechlicher nicht irgendwann zerbrechen, und wieder wird es ganz still im Raum, nur das leise Sirren einer Installation ist zu hören. Wollen wir jetzt ein Leben ergründen oder ein Leben würdigen, fragt Sara und schaltet ein CD-Gerät ein, wenn wir ihm nahe sein wollen, können wir ihm in der Musik nahe sein, die er geliebt hat: Sailing von Rod Stewart, Me and Bobby McGee von Janis Joplin und Leonard Cohens Halleluja.

Mit den Klängen ist Ralph da, irgendwie ist er jetzt da, jeder von uns spürt das, vielleicht sieht ihn jetzt jeder in einem Bild, sieht ihn dort, wo ein Bild eine Bedeutung erhält, eine Botschaft vorauswirft. Ich sehe ihn am Fluss, es ist ein heisser Sommertag, der heisseste seit Langem, wir reihen uns in die Karawane der Flussschwimmer ein, und ich begreife nicht gleich, warum er auf einmal sagt, hier toben wir uns aus im Wasser, und im Mittelmeer sterben sie darin. Er sagt es zornig, wie zusammenhangslos, obwohl es natürlich Zusammenhänge gibt, unser glückliches Schwimmen im Fluss und das Versinken der Glücklosen im Meer. Die Nachrichten, die jeden Tag zu hören sind, ohne dass etwas geschieht, die Ohnmacht vor dem grossen Sterben trifft Ralph tief im Inneren, wie eine offene Wunde. Er ereifert sich, wird immer lauter, schliesslich brüllt er, sodass sich die halb nackten Leute um uns umdrehen und verstört stehen bleiben. Erst nach dem Sprung in den Fluss beruhigt er sich und schwimmt mir davon, er schwimmt wie einer, dem keine Strömung etwas anhaben kann, der jedes Ufer wieder erreichen kann.

Die Meerbucht, wo man Rucksack, Schreibheft und Kleiderturm gefunden hat, ist schwer zugänglich, abgeschirmt hinter Steinbrocken und Ufergras, man findet die Sachen erst nach Tagen.

Muss ein Zerbrechlicher nicht irgendwann zerbrechen? Er ist an den Rändern gegangen, sagt Jonas, immer an den äussersten Rändern, dort hat er Antworten gefunden, aber kann man nur immer an den Rändern gehen? Auch ein anderer ist an den Rändern gegangen, hämmert es in meinem Kopf, Büchners Lenz, über den Ralph geschrieben hat, den er bewundert hat, könnte man diesem Büchner das Wasser reichen, der aus einer Krankengeschichte eine gewaltige Erzählung geformt hat. Der Sog des Textes hat Ralph gepackt, und im Text die Verwundbarkeit vor der Welt, diese brennenden Linien von Lenz zu Büchner und von Büchner zu allen Lenz-Nachfahren, es sind viele, zu Ralph. Der ruhelose Rebell hat Ralph gepackt, bei ihm ist er auf etwas gestossen, vielleicht auf die eigenen Grenzzonen, innen und aussen, Luft und Erdkraft, Macht und Ohnmacht. Bei Lenz hat er gesehen, dass sich die Welt plötzlich weit öffnen kann und wieder verschliesst. Dass schwarze Nacht werden kann, wo vorher Licht war. Die paar Lenz-Zitate in seiner Arbeit haben jetzt ein anderes Gewicht; aber ich, wär ich allmächtig, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten.

Wörter / halten mich fest / wenn ich kein Land mehr sehe. Das Schlimmste ist, das wir nichts wissen, sagt Sara, auch wenn wir glauben, etwas zu wissen von einem Menschen. Dass da einer neben uns geht und lacht und uns umarmt und wir nicht wissen, was gilt, ob er hier ist oder auch dort, an einem entfernten Ort. Dass wir nicht wissen, ob wir etwas hätten verändern können. Und ob er uns die Chance dazu gegeben hätte. Dieser Schmerz, draussen zu bleiben, zu spät zu kommen, und dabei zu wissen, dass er das vielleicht gewollt hat. Dass er gewollt hat, dass keiner wirklich weiss, was er selbst offengelassen hat, was er nur zwischen die Zeilen geschrieben hat. Zu spät / kehren die Kraniche zurück / sind die Delfine aufgebrochen / zu spät / haben die Wörter / ihre Häuser verlassen. Früher, später, nicht früh genug, sagt Jonas und wirft die Hände in die Luft, lässt sie fallen, wer zurückbleibt, hat immer verloren, er bleibt zurück mit der Gewissheit, zu wenig begriffen zu haben.

Wir müssten das Meer fragen, sagt Luzia, das Meer weiss alles. Vielleicht wollte er nur einfach weit hinausschwimmen und hat die Kraft nicht mehr gehabt, wieder an Land zu kommen. Oder er wollte so weit hinausschwimmen, dass man gar kein Land mehr erreichen kann. Oder er hat die Entscheidung dem Meer übergeben, er wollte einen Grenzbereich berühren, wo alles Eindeutige zerfliesst, vielleicht ist das Leben stärker, vielleicht nicht.

Meine Wehrhäute / um wieder / festen Boden zu betreten – Wörter als Fluchtraum in einer feindseligen Welt. Ich sehe wieder Ralphs Schreibheft vor mir neben dem halb leeren Rucksack am Strand, die ersten Manuskriptseiten in genauen, entschiedenen Schriftzügen, sehe ihn in den Fluss springen und schwerelos davonschwimmen wie ein Delfin, wie einer, den kein Wellengang beunruhigen kann. Müssen wir alles wissen? Ich weiss nicht, ob Wissen besser ist als Nichtwissen, ob Wissenwollen nicht Anmassung ist, Vereinnahmung.

Ralph hat sich nie vereinnahmen lassen. Auch nicht durch Fotografien aus seinem Leben, die jetzt noch einmal über eine weisse Wand flimmern: Fragmente. Man kann sie zusammenlegen, aber sie ergeben keine gerade Linie, die innere Lebenslinie liegt zwischen den Bildern. Unzugänglich und kaum fassbar. Er steht auf einem Felsturm, über wilden Berghängen, und breitet die Arme aus. Er schreibt auf einer Steinplatte am Flussufer und schaut unwillig hoch. Er sitzt gedankenverloren vor einer Alphütte und raucht. Er rennt einer Kuhherde hinterher und reisst das Handy hoch, um zu filmen. Er tanzt in Pflegemontur mit einer Hundertjährigen, die strahlend zu ihm hochblickt. Auf dem letzten Bild, einer Grossaufnahme, schaut er mit unergründbarem, mit ruhigem und prüfendem Blick direkt in die Kamera. Er sieht nicht aus wie einer, der sich von der Welt abwenden möchte. Er sieht aus wie einer, mit dem man lange über die Rätsel der Welt reden möchte.

An den Rändern

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