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HERZVERSAGEN

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An Tagen wie diesem, wenn die schwarzen Schatten nicht wegwollen, lässt Christa einfach alles liegen und geht zur Grossen Schanze hinauf, zu der eisernen Sitzbank, wo sie oft neben Vincent gesessen hat. Er hat diesen Platz geliebt, den Blick über die ineinander geschobenen Dächer, über die Bundeshauskuppel zur Alpenkette hin, zu den Wolkenstimmungen, er hat sich dann unbeirrt neben den bronzenen Einstein gesetzt und reglos und nachdenklich ins Weite geschaut wie sein festgeschraubter Nachbar. Jetzt hat man den erstarrten Denker abmontiert, nur die Schraubenlöcher sind noch da und die abgenutzte Sitzfläche auf dunklem Metall, daneben der Sockel mit Inschrift zu Einsteins berühmter Formel, E = mc2. Energie lässt sich in Masse umwandeln und umgekehrt.

Christa weiss nicht mehr, wann sie zum letzten Mal mit Vincent zusammen da war. Sie hat das Gefühl, es ist Jahre her, aber es sind nur ein paar Monate. Vincent konnte nur noch mit Mühe gehen, eigentlich gar nicht mehr, aber er wollte das, er wollte noch einmal zu seinem Platz, Christa kann noch heute hören, wie er geatmet hat, er hat geatmet, als wäre nie genug Luft da, als wäre nicht einmal zum Sitzen und Schweigen genug da. Er hat noch immer darauf gewartet, dass etwas geschieht, dass etwas zu Ende geht, vielleicht hatte er das Warten auch schon aufgegeben, Christa kann das nicht mehr sicher sagen. Wie lange hält mein Herz noch durch?

Hinter Neubauten und Baukränen ist der hohe Klotz des Unispitals nicht zu sehen, wo man Vincent einen Tag lang von Untersuchung zu Untersuchung geschleppt hat, wo die Gesichter immer ernster wurden, immer verschlossener, und man schliesslich versuchte, es ihm so schonend wie möglich zu sagen: Ohne Spenderherz können Sie nicht überleben.

Der Rasenplatz vor der Uni ist jetzt kalt und leer, nur ein paar Kinder toben lustlos herum, werfen sich auf die leeren Liegestühle, die wie kahle Gerippe herumstehen. Die jungen Wilden sind weg, die hier im Sommer ihre Freizeit zelebrieren, träge ausgestreckt oder eng umschlungen und elektrisiert vom Sound ihrer Technorhythmen. Auch die Schachspieler sind weg. Eine Gruppe von Japanern mit Fotoausrüstung kommt aufgeregt näher, bleibt gestikulierend und ratlos stehen. Einstein ist weggesperrt, sagt Christa, he is in reparation, vielleicht kommt er mit neuem Metallglanz und winterfest wieder zurück. Die Japaner nicken und lachen zustimmend, Christa ist sich nicht sicher, ob sie verstanden haben. Sie denkt, vielleicht ist es gut, dass Einstein in stillem Einverständnis mit Vincent verschwunden ist.

Der Schock hatte Wochen gedauert. Aber die Gespräche auf der Herzabteilung gaben Vincent Halt, er wusste jetzt, was auf ihn zukommen würde. Die Informationen waren beruhigend, an ihnen konnte er sich aufrichten: Herztransplantationen sind heute Routineeingriffe; Verlegung auf die Bettenstation am zweiten oder dritten Tag. Erste Spaziergänge nach einer Woche, wenn alles gut geht, Heimkehr nach drei bis vier Wochen. Er begann sich einzurichten in der neuen Denkordnung – Warteliste, Wartezeit, Operation. Die Wartezeit unbestimmt, nur immer bereit und erreichbar sollte er sein.

Vincent begann wieder an etwas zu glauben, woran er lange nicht mehr geglaubt hatte. Er stellte sich vor, wie das sein könnte mit einem neuen Herz. Nicht mehr schleppend langsam gehen und nach Luft ringen, nicht mehr mit fünfundvierzig Jahren alle paar Meter stehen bleiben wie ein alter Mann. Wieder zu den blühenden Alpwiesen hochsteigen mit der Kamera. Christa hat Vincents Satz nie vergessen, den er auf seiner Einsteinbank gesagt hat: Eigentlich ist das Leben ein fragiles Gesamtkunstwerk, aus hundert kleinen Kunstwerken zusammengesetzt, jetzt weiss ich es. Seit das Herz immer schwächer wird, weiss ich es.

Sie hat Vincent nie gefragt, warum er diesen Platz so geliebt hat, warum er ausgerechnet neben dem Monument Einstein sitzen wollte, aber sie hat es geahnt. Es gefiel ihm einfach, den Passanten zuzuschauen, wie sie vorbeiströmen, mit ihren Zielen und den letzten Textnachrichten beschäftigt, und plötzlich ins Stocken geraten, wenn sie die reglose Figur auf der Bank sehen und nicht wissen, lebt er oder ist er ein Kunstgeschöpf. Sie beschleunigen ihre Schritte oder verlangsamen sie, je nachdem, oder sie kommen neugierig näher, bis sie befreit auflachen und dem hohlen Körper auf die Schulter klopfen. Einmal war Christa dabei, als ein junger Eritreer Vincent ansprach, und natürlich dachten sie beide, er will Geld, aber er wollte kein Geld, er zog ein paar Unterschriftenbögen hervor und sagte in gebrochenem Deutsch, ich sammle Namen gegen ein neues Tram, das Tram tötet die Bäume, Bäume dürfen nicht sterben. Sein feuriger Eifer hatte etwas Rührendes und schwer Begreifbares. Ein anderes Mal blieb ein älterer Herr verstört stehen und fragte, wie kommt denn der alte Goethe hierher. Vincent hat nur mild gelächelt und nichts gesagt. Aber er hat das heitere Missverständnis genossen.

Christa nimmt einen abgebrochenen Ast und zeichnet ein Herz auf den körnigen Boden, sie weiss jetzt genau, wie ein Herz aussieht. Wie ein filigranes Wunderwerk, das in fliessender Bewegung ist und viel kleiner, als man denkt. Das rätselhafte innere Uhrwerk ist das Wunder, und auch die Kraft, mit der dieser kleine Muskel zu pumpen vermag. Über hunderttausendmal am Tag und vierzig Millionen Mal im Jahr.

Eine fieberhafte Erwartung trieb Vincent lange an. Die Anspannung vor einem Abenteuer, von dem man nicht weiss, wann es anfängt, wie es sein wird. Sie trug ihn durch die Monate, auch als er längst nicht mehr arbeiten konnte, als er sich immer mehr schonen musste wie ein Schwerbeschädigter. Christa wünschte sich, dass die Anspannung anhalten würde bis zu dem Tag, an dem es soweit wäre. Aber sie hielt nicht an, die Zeit verlangsamte sich, blieb stehen. Trocknete das dunkle Feld Zukunft aus. Christa weiss, dass es keine Worte dafür gibt, wie das Warten für Vincent wirklich war. Neun Monate, zehn? Dreihundertmal am Morgen aufstehen mit dem Blick aufs Mobiltelefon, das noch immer stumm ist. Das in der Nacht neben dem Bett liegt und durch den Schlaf zuckt, den Schlaf zerreisst. Manchmal hörte Vincent im Traum seinen Klingelton, immer nur im Traum, bis er es einfach fortwerfen wollte. Er warf es nicht fort. Es blieb seine Lebensbrücke, er klammerte sich daran. Aber die Erwartung wurde dumpfer, begann zu lähmen. Die Lähmung wucherte weiter, die Tage verloren ihre Zugkraft.

Die schwarze Wand vor dem Nichts, wozu noch warten? Warum die Medikamente nicht einfach fortwerfen, dann geht es schneller. Manchmal schreckte Vincent mitten in der Nacht auf und schleuderte weg, was ihm unter die Finger kam. Einfach immer bereit sein, den Koffer gepackt, die Transportwege geklärt, wenn der Anruf kommt.

Der Anruf kam nicht.

Der Koffer steht noch immer unberührt im Hausflur. Trainingsanzug, zwei gebügelte Hemden, Waschzeug. Soll ich ein Buch einpacken, hatte er sie gefragt. Christa versucht, genauer in die Gesichter zu schauen, die vom Bahnhof heraufkommen, sie versucht, sich ihre Geschichten vorzustellen, Anfänge von Geschichten, sie denkt, auch Vincent würde das jetzt tun. Die Hast, mit der die meisten blicklos unterwegs sind, kommt ihr vor wie ein Versehen, wie Gehen auf einer falschen Spur, ohne dass sie sagen könnte, wo denn die richtige Spur liegt. Im Strom der Passanten sieht sie ein altes Paar, das nur langsam vorankommt, er knickt immer wieder ein, sie hält ihn unaufgeregt und geduldig am Arm. Die Gelassenheit der beiden findet Christa tröstlich.

Über das fremde Herz aus unbekanntem Himmel hat Vincent nicht oft gesprochen. Aber Christa weiss, dass er jeden Tag daran gedacht hat. Auch dann noch, als er kaum mehr atmen konnte, als er nur noch mit der Sauerstoffzange im Bett lag und fast nur noch schlief. Dass einer sterben muss, damit ich leben kann. Dass der Tod eines anderen mein Leben retten soll. Keiner stirbt für dich, hat Christa dann gesagt. Ein sinnloser Tod ist immer ungerecht, aber ein Tod, den man verhindern kann, ist es auch.

Vincent hat auf ein neues Herz gewartet, nicht darauf, dass irgendjemand stirbt. An den letzten glasklaren Sommertagen, wenn Christa das Dröhnen von Rettungshelikoptern hörte, war das Wort Spenderwetter auf einmal da. Donor weather. Sie wollte nicht daran denken, der Gedanke kam dennoch. Sie scheuchte die Vorstellung weg, dass an einem solchen Tag jemand verunglücken könnte. Ein Unheil durfte nicht sein und war doch die einzige Rettung. Sie wusste nicht, ob Vincent überhaupt noch daran denken mochte. Oder ob nicht alles schon zu weit weg war. Ein Wettstreit mit der Zeit, der nicht mehr zu gewinnen war.

Es ist geschehen, es hätte auch früher sein können. Es hätte nicht geschehen müssen. Christa weiss, dass diese Fragen nirgendwohin führen. Dass man ohne zu warten und auch am Warten sterben kann. Vincent hatte um eine Chance gekämpft, die es vor zwanzig, vor dreissig Jahren noch nicht gegeben hat, sie weiss nicht, ob das gut war für ihn oder nicht. Ob es nicht alles noch schwerer gemacht hat. Sie ist von der Bank aufgestanden, sie muss sich loslösen von diesem Platz, an dem sie Vincent nahe sein kann. Andere haben Grabsteine, Vincent wollte keinen Grabstein. Aber hier hört sie seine Stimme, sein leichtes Lachen, und auch sein Schweigen, das er seinem stummen Nachbarn abgeschaut hat. Und manchmal auch sein Herz, das man nur hören kann, wenn man tief in sich hineinhorcht.

Sie weiss noch immer nicht, was sie sagen wird. Man hat sie gebeten, als Mitbetroffene an einer Tagung über Organspenden zu sprechen. Kann sie das überhaupt? Christa hat sich Sätze notiert, Stichworte, und sie wieder verworfen. Soll sie darüber sprechen, was das lange Warten mit einem macht? Dass man dabei jeden Halt verliert, alle festen Bezüge, und schlimmer: Sich selbst? Vielleicht wird sie sagen, das Warten ins Leere hinein ist ein Schrei nach Leben, ich höre ihn noch immer, vielleicht werde ich ihn immer hören. Über die Streitfrage, wann und mit welchem Recht über einen Körper verfügt werden soll, will sie nicht sprechen. Aber vielleicht wird sie sagen: Ein ungerechter Tod wird durch ein gespendetes Herz nicht weniger ungerecht, aber ein Spenderherz ist eine Antwort auf den sinnlosen Tod.

Sie geht langsam über den verlassenen Rasen, er kommt ihr sehr weit vor, eine leere Fläche, die sich im Ungefähren verliert. Sie spürt den weichen Grasboden unter den Füssen, die Luft riecht nach Erde und feuchtem Herbstlaub. Sie denkt an den einen Satz von Vincent, er war schon sehr geschwächt, aber er hatte die Gegenwärtigkeit desjenigen, der an den Grenzen geht: Das Leben ist ein fragiles Gesamtkunstwerk, erst jetzt weiss ich es. Als er das letzte Mal an seinem Lieblingsplatz sass, hat er das gesagt, neben dem stummen Nachbarn Einstein. Energie lässt sich in Masse umwandeln und umgekehrt. Sie schaut zur Alpenkette hinüber, einige Konturen sind sichtbar, Teile von Bergkörpern, sie werden vom Wolkenband sogleich wieder verschluckt. Niemand ist da, nur ein paar Raben stochern in den herumliegenden Laubblättern herum. Erst als Christa näherkommt, als sie die Flügelspitzen schon fast berühren kann, heben sie trotzig ab und kreisen in engen Bögen um ihr Areal.

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