Читать книгу Das Zeitalter der Angst - Pete Townshend - Страница 10
ОглавлениеKapitel 4
Als ich an diesem Morgen erwachte, 67 Jahre alt, fragte ich mich, was ich mir wohl am meisten zu meinem Geburtstag wünsche.
Mein erster Gedanke war so absurd, dass es mir schwerfällt, ihn auf diesen Seiten mitzuteilen. Ich wollte ein Geschehnis aus der Vergangenheit rückgängig machen, etwas, das ich getan hatte und das mich zutiefst beschämte. Wäre ich in der Lage gewesen, mir diesen Wunsch zu erfüllen, hätte diese Geschichte kein Ende. Tatsächlich gäbe es gar keine Story zu erzählen.
Doch lassen Sie mich eine einzelne Szene preisgeben. Es ist eine Hochzeit. Eine Pub-Rock-Hochzeit. Die Hochzeit. Es war die Hochzeit, die ich komplett bezahlte, da es Harry finanziell nicht gutging. Ich der Pate, in der Rolle des Paten. Auf eine bestimmte Art war es sowohl meine Hochzeit wie auch die von Walter und Siobhan. Dort standen Blumen, und es gab gutes Essen, obwohl die Menge überschaubar war. Die Feierlichkeiten abgeschlossen, hielten wir uns irgendwo in einem Garten auf. Man hörte Musik. Walter stand mit den Stand auf der Bühne. Schöne Mädchen überall. An zwei erinnere ich mich besonders. Selena und ihre langjährige Freundin Floss. Floss, die mit dem angedunkelten Schneidezahn? Dort hielten sich noch andere schöne Mädchen auf. Crows Frau Agneta gehörte dazu und auch ihre Schar fantastischer blonder Freundinnen aus Göteborg, ein überwältigender femininer Sinnesrausch.
„Bring auf jeden Fall ordentliches Zeug mit, Lou“, hatte mir Crow aufgetragen. „Agneta steht total auf die Bomber.“
Crow meinte damit den Pferdetranquilizer Ketamin. Ich war bei Walter und Siobhans Hochzeit oberster Tranquilizer-Verteiler-Boss, und so überrascht es nicht, dass ich mich an kaum etwas erinnern kann. Doch meine Gastgeberin hier in Frankreich verriet mir, dass ich etwas sehr, sehr Schlimmes angestellt habe. Etwas, das nur sie allein sah. Sie drängte mich auch, clean zu werden. Und so entschied ich mich zum Schreiben, zum Versuch, zu erklären und zu entwirren. Aus genau dem Grund halte ich mich hier auf. Für mich selbst wie auch für das Verarbeiten bestimmter Geschehnisse. Ich wünschte, mein Leben wäre so unbeschwert wie das von Bingo. Ich kraule seinen Kopf. Er wartet ständig darauf, ein Papierknäuel zu fangen, und steht für das exakte Gegenteil eines Tranquilizers. Klug und auf der Hut. Er wird älter als sein neues Herrchen, aber ist niemals bereit, aufzugeben.
Als ich aus dem Fenster meines Adlerhorsts sah, erschien die ganze Welt nebelig oder wie in eine Wolke gehüllt. Ich erkannte kaum die am Haus vorbei und ins Tal führende Straße. In solch einem Zwielicht konnte ich kein einziges Wort schreiben. Bingo fraß sein Frühstück begierig und versuchte, mich aufzuheitern, doch als ich mit ihm durch den Garten spazierte, war mir plötzlich klamm. Ich fühlte mich klamm und unvollkommen.
Ein wenig später bahnte sich glücklicherweise die Sonne ihren Weg durch die Wolken, und ich nahm wieder am Schreibtisch Platz. Bingo wirkte ganz aufgeregt, da ich mich wieder in Bewegung setzte, obwohl nur mit Stift und Papier.
Ist es relevant, dass die hier wiedergegebene Geschichte nun von mir handelt, obwohl ich versprach, sie würde sich um meinen jungen Helden Walter und seinen alten Helden Old Nik drehen? Heute werde ich 67! Lachen. Weinen. Eine Milliarde Seelen sind schon vor mir gegangen. Darum vielleicht Old Niks erntende Engel? Denn das ist die Einbahnstraße des Lebens, an deren Ende der Tod wartet, sanft oder quälend, willkommen oder gefürchtet, aber immer unvermeidbar.
Um die folgenden so tragischen wie transzendenten Ereignisse zu verstehen, müssen Sie die irischen Dimensionen der Story verstehen. Somit führe ich Sie zurück zum Ort Waterford, an dem Siobhan und ihre kleine Schwester Selena in der Obhut ihres Vaters Michael aufwuchsen.
Selena war die schönste Frau auf der Hochzeit. Sie kam zur Hochzeit und hatte nur Augen für Walter, doch nun wartet sie oben auf mich.
Selena hat mir alles aus ihrer Kindheit berichtet. Michaels Frau, ihre Mutter, die Mutter zweier Mädchen, starb bei Selenas Geburt. Damals war Siobhan gerade erst zehn Jahre alt. Ihr Vater Michael war viel zu fertig, um die Rolle des Alleinerziehenden zu übernehmen. Er war ein Säufer und ein Rüpel, ein großzügiger Mann mit einem großen Herzen. Doch er verstand es nicht, dass ein Faustschlag von ihm – ein Schlag, der einen Kontrahenten von der einen zur anderen Seite einer Bar katapultiert, wo dieser mit Lachen an die Wand krachte, bereit, sich mit einem ebenso heftigen Schlag zu bedanken –, dass so ein Faustschlag vielleicht ein kleines Kind zu töten vermochte. Er konnte seine eigene Kraft nicht einschätzen, und auch wusste er im betrunkenen Zustand nicht, dass seine ältere Tochter nicht seine Frau war.
In noch unglücklicheren Zeiten flohen sie mit ihrem Vater von Waterford nach West Acton im westlichen Teil Londons, um sich dort bei hilfsbereiten Verwandten durchzuschnorren und auf bessere Schulen zu gehen (zumindest ohne Priester). Dann schlug das Schicksal zu. An einem Abend im Jahr 1984 wischte sich die achtzehnjährige Siobhan Blut von ihren Lippen, berührte mit der Zunge einen lockeren Zahn und starrte ihren Vater furchtlos an. Ich stelle ihn mir vor – stehend, doch leicht schwankend, die lädierte rechte Faust noch geballt, sie mit der Linken haltend, seine überschäumende Wut das Blickfeld beschränkend. Ich male mir die Situation weiter aus. Er sah und fühlte es kurz darauf – wie etwas, das so aussah wie schimmerndes Eis oder Glas, sich durch das kleine, aber ordentliche Wohnzimmer auf ihn zubewegte. Er konnte wohl kaum sehen, dass sich seine ältere Tochter schützend vor ihn stellte.
Die kleine Selena stach Michael Collins in den Rücken, und er starb. Nach dem Mord musste Siobhan die Mutterrolle übernehmen. Es sollte einige Jahre dauern, bis sie sich selbstsicher genug fühlte, sicher ihrer Stärke, zu überleben in einer Welt voller geiler Männer mit fliegenden Fäusten, sicher, Selena ihren eigenen Weg finden zu lassen.
An einem Abend im Frühjahr 1994 fühlte sich Siobhan – nun in ihren Zwanzigern – sicher genug, um sich einen Drink zu genehmigen und zu tanzen. Sie fand sich als Rains Gast an der Theke des Dingwalls wieder, schon leicht angeheitert, und beobachtete Walter, der mit voller Kraft in seine Mundharmonika blies, seine berühmte Position, den „Stand“, einnahm und alle Frauen anheizte. Sie realisierte, dass dieser attraktive Rockstar einen eigenen Stil hatte, mit Wörtern umzugehen, der sie auf eine gewinnende Art an die Zeit im sanften Südwesten Irlands erinnerte, bevor ihr Vater seine Frau und danach seinen Verstand verlor. Siobhan entschied sich, Walter zu heiraten. Sie war nur ein Jahr älter als ihr neuer Mann.