Читать книгу Das Zeitalter der Angst - Pete Townshend - Страница 9

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Kapitel 3

Im Sommer 1996 war die Zeit gekommen, in der ich mit Andréevich ein offizielles Gespräch über unsere Geschäftsbeziehungen führen musste. Er, der Künstler. Ich, der Händler. Maud brachte ihn mit in mein Apartment. Schnell wurde klar, dass er Maud trotz der großen Liebe, die sie für Nik empfand, schrecklich zu irritieren und zu ärgern begann. Er war übernervös und fühlte sich unbehaglich, doch lächelte die ganze Zeit auf eine verträumte, unbeteiligte Art. Mittlerweile sah er viel älter als Maud aus. Seine langen, lockigen Haare, die sie einst als „golden“ beschrieb, sahen nun schmutzig aus. Die Sonne hatte seine Haut schrumpelig werden lassen. Er wirkte immer noch attraktiv, aber war deutlich kleiner als in meinen Vorstellungen. Doch Popstars aus der eigenen Jugend erscheinen immer anders, trifft man sie von Angesicht zu Angesicht. Sie sind oft kleiner oder größer, hässlicher oder sehen besser aus. Fotografien, Filme und das Fernsehen täuschen alle auf eine bestimmte Art und Weise. Ich sah nie einen Auftritt von ihm, kannte aber seine Platten. Er war älter geworden, schrumpfte geradezu und schien das absolute Zentrum seiner eigenen Welt zu sein.

„Sie mögen meine Werke?“ Er nahm eine seiner Holzkohlezeichnungen, nun wundervoll gerahmt und bereits an einen Sammler verkauft – zufälligerweise auch einen ehemaligen Rockstar, der sich zur Ruhe gesetzt hatte. (Tatsächlich einer von Niks Zeitgenossen.)

„Sehr sogar, Nikolai“, schwärmte ich. „Was Sie in den Lakes gesehen haben, war höchst ungewöhnlich. Aber auch, wenn Sie nur die Bilder aus Ihrer Vorstellungswelt gezeichnet hätten, wäre Ihre Arbeit verblüffend.“

„Ich habe sie aber gesehen!“, brüllte er, jedoch nicht aggressiv. Er schrie eher glückselig auf: „Ein großer Engel, der den ganzen Himmel ausfüllte.“

„Ja, Liebling“, beruhigte ihn Maud. „Was du gesehen hast – das steht außer Frage.“

„Mein Pate Walter würde seine Anerkennung ausdrücken, das weiß ich.“ Ich wollte sie beide ablenken. „Er besitzt all ihre Alben.“

„Von unserem erstes Album wurden in den ersten sechs Monaten 45.000 Einheiten verkauft und in zehn Jahre beinahe eine Million: 977.649 Einheiten.“

„Erstaunlich, dass Sie sich daran erinnern können.“

„Unser zweites war noch erfolgreicher. Wir verkauften zwei Millionen und siebenhunderttausend –.“

Maud unterbrach ihn: „Bitte, Nikolai …“

„Du kannst mich nicht aufhalten“, keifte er. Er streckte den Kopf hoch und schaukelte von einer zur anderen Seite. Sie konnte ihn nicht stoppen, woraufhin er die exakten Umsatzzahlen jedes der zwölf Alben der Band vor seinem Auftritt in Joe Boyds Film aufzählte. Das dauerte fast zehn Minuten.

„Zuletzt“, gab er bekannt, endlich dem Ende nahe, „kam das von uns so benannte Album Hero Ground Zero auf den Markt, das den Song ‚Hero Ground Zero‘ enthielt, geschrieben für Joe Boyds Film, in dem ich als Nikolai Andréevich auftrat. Das verkaufte sich schlecht, weil ich die Band vor den Aufnahmen verlassen hatte und wir nicht tourten. Ungefähr 850.000 Einheiten nur. Es ist das einzige, für das ich keine exakten Zahlen habe.“

„Präzise genug!“ Ich musste lachen.

„Nein!“ Er drehte sich zu mir, wirkte sehr ernst. „Überhaupt nicht genau genug; Ich wünschte, ich hätte die exakten Zahlen.“

„Der Film änderte einiges für Sie“, bemerkte ich, ein nüchternes, faktisches Statement, das ihn abzulenken schien und wieder in die Gegenwart zurückholte.

„Ich sah all diese wunderschönen Erscheinungen“, meinte er, glücklich lächelnd. „Und ich war in der Lage, sie zu zeichnen. Ich zeichne sie jetzt. Sie verkaufen sie. Maud bekommt das Geld. Das läuft alles optimal. Ich bin sehr glücklich darüber.“

„Gut“, stimmte ich zu, dabei Maud musternd, die sich fürchterlich unwohl fühlte, vielleicht peinlich berührt davon, als was für ein Einfallspinsel ihr Mann erschien.

Nik bemerkte Mauds Ängstlichkeit und schreckte uns beide auf, als er wieder sprach. „Louis mag dich, Maud“, sagte er. „Das kann ich sehen. Ich bin nicht eifersüchtig.“

Das warf mich aus der Bahn. Wie konnte er bloß wissen, dass Maud mich so stark anzog? Ich schätze mal, dass er ein Auge dafür hatte oder einen sechsten Sinn.

Er drehte sich zu seiner Frau. „Ich habe dich vernachlässigt, da die Band die ganze Zeit auf Tour war. Aber Liebling, ich habe dich niemals betrogen. Alle anderen Rocktypen sind fremdgegangen, doch ich liebte dich so sehr. Wir hätten Kinder bekommen sollen, Maud. Doch wie hätten wir ein Familienleben führen können, wenn ich die ganze Zeit unterwegs war? Das Leben ist jetzt besser. Denkst du das auch, Maud? Stimmst du mir zu, dass das Leben nun besser für uns ist?“

Maud nickte und sah mich schüchtern an. Nik war zweifellos ein gutherziger Mann, liebenswert und nett. Er empfand sich wegen des Gesehenen als auserwählt, und seine Präsentationen mit Holzkohle und Farbe bescherten ihm viel Freude.

„Das Leben ist gut, Nik“, stimmte sie ihm zu. „Besser, ja.“

Manchmal fragte ich mich, ob Niks Abhängigkeit von seiner Frau für sie schwer zu akzeptieren sei. Sie schaute mich betreten an, als wollte sie sagen: „Ich werde nun keinen Frieden mehr finden.“

Während unseres Gesprächs überlegte ich, ob Nik in der Lage wäre, Walter einen Ratschlag zu geben. Walter war verängstigt, verstört und stand am Rande einer Depression. Nik hingegen fühlte sich glücklich.

„Maud, Nik, dürfte ich euch um einen Ratschlag bitten?“

Beide nickten.

„Ich habe euch von meinem Patenkind Walter erzählt“, fuhr ich fort. „Er machte selbst einige merkwürdige und befremdliche Erfahrungen. Keine Visionen, sondern Sounds, ähnlich Musik, aber sie sind kaum als angenehm zu bezeichnen.“

„Sie meinen, Nik könnte ihm helfen?“ Maud blickte mich fragend an.

„Wissen Sie – ja, ich glaube, er ist dazu in der Lage“, betonte ich. „Nik scheint mit dem Erlebten – diesem vollständigen Zusammenbruch – mit großer Leichtigkeit fertigzuwerden und es durch seine Kunst zu einem wundervollen Ergebnis zu kanalisieren.“

„Nik war ja wie ihr Patensohn auch mal Profimusiker.“ Sie schien mich zu unterstützen. „Ein Versuch kann nicht schaden.“

Ich beschrieb das von Walter Erlebte, ohne es auszuschmücken: Mein Patensohn höre beängstigende Klänge, die seiner Meinung nach von den Leuten im Publikum stammten. Nik und Maud folgten den Worten aufmerksam. Dann schien sich Nik entschieden zu haben.

„Da gibt es überhaupt keine Frage“, warf er entschlossen ein. „Ich kann Ihrem Patenkind helfen und weiß auch genau, wie ich ihm helfen kann.“

Nachdem sie gegangen waren, dachte ich darüber nach, ob ich Walter anrufen sollte und wenn ja, wann.

Ich hatte schon eine ganze Zeit nicht mehr mit ihm gesprochen. Sein Manager Frank Lovelace war – ich wies bereits darauf hin – ein extrem fordernder Mann, der immer das Beste aus jedem herausholen wollte. Mir war zu Ohren gekommen, dass sich Walter hinsichtlich der Ausrichtung unwohl fühlte, in die seine Band unter Führung von Lovelace steuerte.

Lovelace ließ sich als gutaussehend beschreiben und wirkte leicht angeschlagen und zerknautscht wie so viele aus dem Osten Londons. Er hatte volles dunkles Haar, war mittelgroß, etwa 1,70 Meter, und strahlte eine bestimmte Leichtigkeit aus, die andeutete, dass er sich in einem Kampf blitzschnell bewegen konnte. Lovelace trat wie gewohnt in einem Anzug auf, dessen glänzender Mohair billig aussah, tatsächlich aber teuer war. Er trug nicht ständig eine Krawatte, sondern bevorzugte eher hochpreisige Hemden aus kostspieligem Stoff, oftmals mit goldenem oder silbernem Zwirn an den Nähten, bei denen die beiden oberen Knöpfe immer offen waren. Die Hände sahen ziemlich lädiert aus, da er einen Großteil der Freizeit mit seinem Hobby, dem Boxen, verbrachte, was auch die leicht ramponierte Nase verriet. Die Augen leuchteten blau, und die glänzend weißen Zahnreihen wirkten wie die eines Wolfes. Dennoch hatte er manchmal Mundgeruch. Man musste sich schon zusammenreißen, um weder das Gesicht zu verziehen noch den Kopf wegzudrehen, wenn er sich nährte, um etwas Vertrauliches oder ein Geheimnis mitzuteilen.

Um Verträge im Musikgeschäft abzuschließen war es für Manager durchaus üblich, als harte Typen aufzutreten. Sie schüchterten die Leute von den Plattenfirmen ein, um die von ihnen vertretenen Künstler durchzudrücken, konnten aber auch die Künstler in eine Ecke drängen, um Versprechen zu erpressen, die sie Plattenfirmen oder Veranstaltern sorglos gegeben hatten.

„Er macht, das, was ich ihm verflucht noch mal sage“, protzte Lovelace vor den Geschäftspartnern, mit denen er Deals arrangierte, also den Veranstaltern und den Plattenbossen. „Schieb den Vorschuss rüber, und überlass ihn ganz einfach mir.“

Gab es Vorbehalte oder Bedenken, ließ er sich sogar zu persönlichen Angriffen herab.

„Hör mal“, zischte er, das Gesicht nur wenige Zentimeter vor einem unwilligen Kontrahenten. „Du kleiner, mieser Idiot! Ich war schon im Geschäft, als du noch zur Schule gingst und geil auf Debbie Harry warst.“

Trotz meiner Überzeugung, dass Walter ein Künstler war, dessen Bestimmung weit über das Dingwalls hinausreichte, und der Tatsache, dass Lovelaces Anstrengungen ihn sicherlich reicher machen würden, schien Walter sich in dem alten Schuppen und ähnlichen Kaschemmen wohlzufühlen. Er stand auf verrauchte und bis zum Bersten volle Pubs, wo die Fans auf Tuchfühlung gehen und ihn berühren konnten, ihm eine verpassen oder ihn sogar anrotzen, wie es bei der Fourth Wave üblich war. Die Band verkaufte eine Menge Platten und CDs, aus deren Erlös Walter und Siobhan eine schöne kleine Wohnung in South Ealing finanzierten. Siobhan hatte zudem das Cottage ihres Vaters in Duncannon geerbt, nahe am Meer in Waterford, Irland. Wenn Walter neue Songs schreiben wollte, zogen sie sich manchmal dorthin zurück. Die Besetzung seiner Band war einfach und simpel: Ein Sänger mit Mundharmonika, Gitarre, Bass und Schlagzeug.

Ich bin oft im Dingwalls gewesen, um sie mir anzusehen – Proben und Konzerte. Meist nahm ich an der Bar hinten im Laden Platz. Crow Williams spielte Gitarre. Crow war Purist. Er muckte auf einer Fender Telecaster mit dicken Saiten und einem kleinen, aber lauten Fender-Deluxe-Verstärker.

„So eine verdammte Scheiße“, schrie er bei Proben. „Ich kann mich verdammt noch mal nicht hören. Und wenn ich was höre, klingen wir wie ein schlechtes Abziehbild der verfluchten Shadows.“ Danach ließ er seine Telecaster vom Boden hochfedern, und es entstand eine neue Narbe auf dem cremefarbenen Korpus. Die Bandmitglieder starrten unbeteiligt vor sich hin. Crow verletzte zwar niemals einen anderen, agierte aber unangenehm angsteinflößend.

Er benutzte keine Effektgeräte, keine Pedale, kein Echo, keinen Kompressor. Sein Spitzname stammte von seinem schwarzen Haar, das er in der Länge von Ronnie Wood von den Stones trug. Vielleicht lagen die Wurzeln von Crow aber auch in seinem grimmigen Gesichtsausdruck und der leicht gekrümmten Nase. Sein auffälliges Aussehen zog die Mädels an, und seine Frau Agneta, eine atemberaubende und sinnliche schwedische Geschäftsfrau glich einer Glamour-Mieze. Crow hatte Walter noch während der Studienzeit kennengelernt. Er studierte an einem nahe gelegenen College Kunst, während Rain dort Journalismus belegte, und so kannte er sie ebenfalls sehr gut. Rain verriet mir, das Crow der tatsächliche Leader der Band sei, obwohl er keine Songs schrieb und die Gruppe in der Öffentlichkeit nicht vertrat. Bei Bandinterviews mit der Presse brachte er kein einziges Wort über die Lippen und nickte nur selten, um das von den anderen Gesagte zu unterstreichen. Doch er entschied über die Zusammenstellung des Programms, wie sie die Songs spielen würden und sogar über die Länge der Auftritte. Er stemmte sich gegen Showeinlagen auf der Bühne, abgesehen von denen Walters, dem er einige Freiräume zugestand, einfach, weil er der Frontmann war. Crow war niemals neidisch auf Walters Status oder seinen Ruf. Wann immer es um das Thema Kreativität ging, zum Beispiel vor Aufnahmesessions, kramte er dieselben sechs Vinylscheiben aus der Versenkung hervor.

„Ich will euch alle mal an unser Mantra erinnern – worum es uns eigentlich geht.“ Dann riss er seine schäbige Armeetasche auf und zog einige alte Vinyls raus. „Das hier ist der Höhepunkt. Das sind die weißen Klippen von Dover, von denen wir runterspringen. Von hier aus fangen wir an. Wir sind eine Pub-Rock-Band und spielen keinen beschissenen Jazz.“

Die Alben waren Booker T and the MG’s Greatest Hits, Jimmy Reed at Carnegie Hall, The Everly Brothers Greatest Hits (zwei Scheiben), eine Promo-Collection der Singles von Johnny Kidd and the Pirates, The Best of Little Walter auf Chess Records und Bob Dylans Nashville Skyline. Crow wollte die musikalische Entwicklung kontrollieren, nicht nur beeinflussen. Nachdem er der kompletten Band – und jedem anderen, der sich kreativ engagierte – in andächtiger Stille jedes Album beziehungsweise Set zum Anhören aufgezwungen hatte, machten sie sich an die Arbeit. Schon bald stellte man sich angesichts der Musik, die sie spielten, einen großen amerikanischen Donnerhobel vor mit einem V8-Motor, der aus seinen Auspuffen fast einen Liter ungenutzten Kraftstoffs auf den Teer spuckte, bevor er sich, blauen Rauch in die Luft blasend, unbarmherzig auf einen zubewegte.

Steve Hanson bediente den Bass. Hanson, wie er am liebsten genannt wurde, stellte die Ausnahme von der Pub-Rock-Regel bei Walter and His Stand dar.

„Wir haben’s kapiert, Crow“, willigte er ein. „Keinen Jazz.“ Er rieb sich langsam und bedächtig die Nase, äffte damit Walters Macke nach und zog ihn damit auf. Das wurde mit einem verschwörerischen Lächeln Walters belohnt: Crow hingegen war viel zu verbissen und ernst, als dass er die Botschaft bemerkt hätte.

Hanson war sehr groß und stämmig, vielleicht auch ein wenig übergewichtig. Alle sahen in ihm den sanften Giganten. In Wahrheit hätte er problemlos seine Kämpfernatur ausspielen können, doch er war viel zu behäbig, um sich darum einen Kopf zu machen. Er trug das schon leicht ergrauende und auf der Kopfmitte ausdünnende Haar lang, oft in einem Pferdeschwanz zusammengebunden, und recht blasse Kleidung, Safarijacken und sogar diese australischen Hüte, die zu groß erschienen und eigentlich hätten Kordeln haben müssen wie bei einem Crocodile Dundee. Im Winter zog er einen lang hinabreichenden Regenmantel an, dessen Saum beinahe den Boden berührte. Ihm war sein unmodisches Erscheinungsbild egal.

Hätte er sich nicht auf den Bass beschränkt, würde sich sein außergewöhnliches musikalisches Können deutlich manifestiert haben. Dass er in der Lage und sogar zufrieden war, als Bassist banddienlich und ohne prahlerische Extravaganzen zu spielen, stellte einen Hinweis auf dieses Talent dar. Ungeachtet dieser Zurückhaltung war er ein begnadeter Pianist und Organist. Wenn es Crow erlaubte, setzte sich Hanson an die Hammond-Orgel (immer mit schnörkellosem Klang, ohne die von so vielen Rock-Keyboardern geliebten wirbelnden Leslie-Lautsprecher) und spielte die einfachen Bassläufe, die für Walters Musik notwendig waren, mit den Fußpedalen.

„Kannst du bei einem Hammond-Solo nur die verfluchten Noten spielen und bitte nicht mit dem Unterwasser-Ding blubbern?“, kommandierte Crow und verzog das Gesicht zu einer drohenden Grimasse. Hanson hatte das bereits verstanden. Keine wirbelnden Leslie-Lautsprecher!

„Du darfst aber weiter deine alberne Klassiker-Perücke tragen.“ Hanson arrangierte sich auf seine Art mit Crow und erhob nie die Stimme. „Ich hab’s kapiert. Wir brauchen mehr Green Onions, mehr von den frühen Booker T und nicht Billy Preston. Aber verdammt, Crow, beide Typen sind Genies.“

„Und das bist du sicher nicht“, keifte Crow. „Behalt deinen Scheiß aus der siebten Klasse für dich und halt das aus der Band raus.“

Hanson nahm sich Walter oft zur Seite, damit dieser sich die experimentellen Orchester-Aufnahmen von György Ligeti anhörte und den fortgeschrittenen und anarchistischen Klavier-Jazz von Bud Powell. Die Intention lag weder darin, das musikalische Spektrum der Band zu erweitern, noch es infrage zu stellen. Es war lediglich als Hinweis auf die abgefahrene Musik gedacht, die es dort draußen gab, und gleichzeitig ein Statement zu ihrem eigenen Sound. Dieser ließ sich als tief verwurzelte Basis, Rückgrat und Verbindung zur Populärmusik des Radios beschreiben, die am besten bei einer langen Autofahrt auf einer kerzengeraden Straße kommt.

Am Schlagzeug saß Hansons Frau Patty. Sie war – wie ihr Mann – ein musikalisches Mauerblümchen, dessen Fähigkeiten unentdeckt blieben. Patty hatte an der Royal Academy studiert und konnte Viola spielen, die meisten Instrumente der barocken Geigenfamilie und schlug sich auch am Cello ganz passabel. Wenn die Band die Musik mal ruhiger ausrichtete, zeigte sie Expertise am Kontrabass und erinnerte an den Sound des frühen Nashville Hank Williams Trio, was Crow gelegentlich erlaubte. Patty hatte darüber hinaus eine markante und wandlungsfähige Stimme, ein von der Band meist nicht genutztes Talent. Sie konnte natürlich Noten lesen und sogar Opern singen, wenn ihr danach war. Die Gute führte wunderbare und lustige Parodien von Dolly Parton auf, Tammy Wynette, Nina Simone und sogar von Sängerinnen mit einzigartigen Stimmen wie Ella Fitzgerald. Manchmal wirkte es so, als könne Patty gar nicht spielen, und gerade das machte sie zu so einer großartigen Pub-Rock-Drummerin. Trotz ihres erstklassigen Bodys, statuenhaft und kurvenreich, aber auch graziös und kräftig – ein Körper, der unter Fans schon zur Legende geworden war –, schien sie nicht die Kraft und Koordination eines energiegeladenen Schlagzeugers zu haben. So spielte sie wenig, aber sehr gut und prägnant, und exakt das führte zu einem einzigartigen Bandsound, der sich von dem anderer abhob. Da die Gruppe so knackig muckte, wirkte sie lauter, als sie tatsächlich war.

An dieser Stelle mag es sinnvoll sein, nur über Walters Rolle und die Arbeit mit der Band zu reden. Als Musiker kann man ihn als diszipliniert und hingebungsvoll charakterisieren. Er fühlte sich glücklich, dem nachzugehen, was er mochte, statt einem für ihn nach dem College abgesteckten Karrierepfad zu folgen. Ihm graute davor, wie ein Sklave in einem kommerziellen Gartenzentrum wie Wisey mit ältlichen Damen zu schuften und den ganzen Tag über Rosen zu stutzen. Walters Songwriting war impulsiv, und er machte sich nur selten tiefgründige Gedanken über das, was er zu Papier brachte. Meist überließ er Crow den musikalischen Feinschliff. Walter beherrschte das Klavier- und Gitarrenspiel recht ordentlich und nahm mit beiden Instrumenten in seinem kleinen Heimstudio Demos auf, doch im Unterschied zu Crow stemmte er sich nicht gegen Experimente mit Effektgeräten für seine Mundharmonika, mit denen er dann neue Rhythmen kreierte sowie komplexe und interessante Sounds.

Walters Frau Siobhan hatte – wie ich auch – hochgesteckte Ziele für ihn, doch sie waren unterschiedlicher Natur. Als mich Walter an jenem Abend plötzlich in meiner Wohnung aufsuchte, berichtete er davon, dass sie glaube, er könne ein Dichter sein. Meiner Ansicht nach könnte aus Walter ein passabler, ein ordentlicher Poet werden, hätte er nicht das Dingwalls zu dem Ort auserwählt, an dem er sich auslebte.

Tatsächlich wissen nur die wenigsten, was einen guten Dichter ausmacht oder wie ein gutes Gedicht anmutet, egal, ob gesprochen, gesungen oder im Street-Style gerappt, doch Walter ging mit Worten ganz geschickt um. Zu seinem großen Glück hatte Crow absolut kein Interesse, an der Fertigstellung der rudimentären Heim-Demos mitzumachen oder sich Credits zu sichern. Die Tatsache, dass Crow Walter bei der Politur der Songs half, aber auf einen Teil der Tantiemen verzichtete, führte dazu, dass die anderen nicht im Entferntesten daran dachten, ihnen stünde auch ein Anteil zu. Walter sann nicht viel darüber nach. Er verdiente zwar drei Mal so viel wie die anderen Musiker, doch da sie massig CDs absetzten – deren Gewinn gleichmäßig verteilt wurde –, konnten sich alle ein ordentliches Leben erlauben.

Allerdings sollte man auf eins hinweisen: Crow war sich sicher, dass weder er noch Walter den Pub Rock jemals hinter sich lassen würden, wohingegen Steve und Patty Hanson reich und berühmt werden wollten. Dabei ging es nicht darum, einfach nur Kohle anzuhäufen. Sie wussten, dass sie früher oder später in der Simplizität der Musik ihrer Band gefangen wären. Reich zu sein würde ihnen Vielfältigkeit erlauben, vielleicht in einem Medium, dass kommerziell weniger sicher war als der Pub Rock. Sie sahen Big Walter and His Stand und das feste Engagement im Dingwalls als eine Stufe auf der Karriereleiter. Walter und Crow wussten von den Ambitionen der Hansons, doch es war offensichtlich, dass besonders Crow nicht die geringste Vorstellung davon hatte, was den beiden vorschwebte. Möglicherweise kapierte er, dass die Hansons Symphonien komponieren wollten. Doch er hätte seine Schwierigkeiten gehabt, so einem Gedanken allzu lange nachzuhängen, um sich über seine realistische Umsetzung Sorgen zu machen. Das ähnelte jemanden, der sich hinsetzte, um eine Mahlzeit, bestehend aus einem Steak, Salat und Fritten zu genießen, statt sich nach Stopfleber und ausgesuchten Oliven zu sehnen. Es war ganz einfach nicht vorstellbar und somit nicht Bestandteil seines Vokabulars.

Die Band Stand war für Walter jedoch keine Zwangsjacke. Über den ungehobelten Pub Rock hinaus fanden sich hauchzarte Unterschiede und musikalische Einflüsse im Kontext der Band, doch die – und das war mir klar – konnten ihm nicht bei den befremdlichen Klängen helfen, die er hörte. Auch er schien das zu spüren. Die Bandpolitik war in Stein gemeißelt, und hätte sich Walter mit seinen Problemen an einen der anderen gewandt, wäre dieser nur verwirrt oder besorgt gewesen. Crow hätte es möglicherweise verstanden, vielleicht sogar Mitgefühl für Walters Dilemma gezeigt, doch ihn gedrängt, alles wie „ein richtiger Mann“ durchzustehen. Die Hansons hätten hingegen über Stockhausen gequasselt und den Mystizismus des Klangs, was Crow zum Ausrasten brachte. Crow war der Boss. Er stand für die letztendliche Entscheidungen über eventuelle musikalische Veränderungen.

Viele Monate später, nachdem ich einige Zeit mit Sorgen und Nachgrübeln verbracht hatte, wie ich meinem Patensohn helfen könnte, eröffnete sich mir eine neue Möglichkeit.

An einem warmen, sonnigen Augustmorgen rief ich Walter an. „Walter! Ich traf Paul Jackson, nun natürlich Nikolai Andréevich. Ich verkaufe jetzt seine Bilder für ihn.“

„Oh, das ist ja aufregend“, antwortete er, hörbar ausatmend. „Wie hast du das angeleiert?“

Ich berichtete ihm von Mauds Besuch.

Walter hatte The Curious Life of Nikolai Andréevich geliebt, war im Alter von acht bis dreizehn Jahren über ein Dutzend Mal ins Kino gegangen. Der Film wurde ein Kultklassiker und regelmäßig im Electric Cinema in der Portobello Road gezeigt.

„Er ist jetzt Maler?“

„Während seines rauen Lebens in den Lakes erschuf er außergewöhnliche Zeichnungen und Gemälde.“

„Und macht er noch Musik?“

„Ich glaube, er erlitt während der Dreharbeiten ein schwerwiegendes und tiefgreifendes Trauma. Im Moment macht er nur Kunst. Ich behaupte das einfach mal, obwohl er seit der Rückkehr zu seiner Frau nichts auf die Beine gestellt hat. Doch ich bin optimistisch. Ich organisiere die erste Ausstellung der Arbeiten, die er in den Bergen gemacht hat. Es gibt viele davon, und sie sind alle gut.“

„Und wie geht es ihm? Geht es ihm gut?“, erkundigte sich Walter.

„Er ist sich des Geschehenen bewusst und spricht von einer Offenbarung.“

„Also nicht irre?“

„Nicht irre“, bestätigte ich. „Und du bist auch nicht verrückt, Walter.“

„Du weißt doch, dass ich so ein merkwürdiges Zeug höre. Ein Psychiater würde das vielleicht als durchgeknallt einstufen. Vielleicht ein bisschen.“

„Du hast mir von diesen ‚Sound-Attacken‘ erzählt. Du hast sie doch so beschrieben?“

„Yeah“, nuschelte er. „Es kommen immer mehr. Und da gibt es sogar was Neues: Ich sehe jetzt Lichtstrahlen, und die vereinen sich meist zu einem einzigen grellen Licht. Ich nehme keine Drogen, wie du weißt.“

„Das klingt nach Niks finaler Szene im Film. Seine Offenbarung begann genau so, wurde angestoßen durch das intensive Licht der Scheinwerfer, mit denen man den Hintergrund beleuchtete. Ist es so ähnlich bei dir?“

„Eher nicht“, meinte Walter. „Ich sehe ein Licht, fast wie ein Stern am Himmel, doch es explodiert. In dem zerberstenden Stern schwebt ein Kind.“

„Wie in Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum?“

„Ein Klassiker!“ Walter lachte. „Es ähnelt ihm auf eine bestimmte Art. Ich glaube, ich erkenne da ein Mädchen. Das gleicht einem umgekehrten Schwarzen Loch. Es ist irgendwie eine Geburt im Kosmos.“

Walter musste dringend mit jemandem darüber reden. Ich versuchte, ihn sanft unter Druck zu setzen. „Hör mal, Walter, Nik würde sich sicherlich über ein Gespräch mit dir freuen. Ich glaube, dass er dir helfen kann. Seine Erfahrungen sind nicht dieselben wie deine, doch er fand einen Weg zu … überleben.“

„Überleben“, antwortete Walter emotionslos.

Mir wurde klar, dass das nackte Überleben keinen großen Hoffnungsschimmer darstellte. „Er ist auch glücklich. Sehr glücklich sogar.“

Natürlich erwähnte ich nicht, dass er in seinem Verhalten wie ein Autist wirkte. Walter würde das bei einem Treffen schon selbst herausfinden.

Ich fuhr fort: „Er wird mit dem Verkauf seiner Kunst genauso viel Geld machen wie mit den Plattenverkäufen.“ Zu dem Zeitpunkt hatte ich schon mindestens zehn Bilder von Old Nik an den Mann gebraucht, für einen Preis zwischen zwanzig und zweihunderttausend Pfund. Ich wusste, dass sich Walter nicht ums Geld scherte, aber wollte den praktischen Punkt unterstreichen. Nik hatte als Künstler ein gutes Einkommen, trotz seiner Einschränkungen. „Du solltest ihn unbedingt treffen. Er wird dir helfen, da bin ich mir sicher.“

„Kann ich dich besuchen, um die Arbeiten anzuschauen?“

„Natürlich kannst du das“, antwortete ich. Ich hatte das Gefühl, zumindest einen Grundstein für Weiteres gelegt zu haben.

Walter besuchte mich zwei Wochen später in meiner Wohnung, während sich der Sommer 1996 dem Ende zuneigte. Als ich ihn ganz direkt musterte, wirkte er verändert. Für gewöhnlich lässig und ultra-cool – wie eins der attraktiven und blutjungen männlichen Models in einer Parfüm-Werbung –, machte er nun einen ungewöhnlich aufgewühlten Eindruck. Das erinnerte mich an seine Kindheit, während der ich ihm meine halluzinogenen Abenteuer beschrieb. Was immer geschehen war – es hatte ihn erschüttert.

Walter betrachtete einige von Old Niks Zeichnungen und Bilder, die in meiner Wohnung hingen. Dabei fiel ihm ein bestimmtes ins Auge. Ein großer Engel füllte beinahe die gesamte Leinwand aus. Ungewöhnlicherweise war es beinahe monotonal. Es gab keine eindeutigen Farben, keine Erleichterung oder Befreiung von der apokalyptischen Vision. Walter entdeckte jedoch das Gesicht eines Kindes – weder männlich noch weiblich –, eine Art Cherub-Seraphim, der im Inneren der wehenden Robe des Engels auftauchte. Er lenkte meine Aufmerksamkeit darauf.

„Das Gesicht“, flüsterte er mit unterdrückter Aufregung. „Das Gesicht gleicht dem, das ich in dem explodierenden Stern sehe, wenn mich die Sound-Attacken überkommen. Es ist ein bekanntes Gesicht, teils Kind, teils Engel.“

„Sicher, dass du nicht dein eigenes Sternenkind 2001 siehst, das noch geboren wird?“ Ich lachte. „Hast du mit Siobhan schon über die Familienplanung gesprochen?“

Walter grinste und sah mich an. Dann schaute er nach unten und schüttelte beinahe schüchtern den Kopf.

* * *

Ich armer Mensch. Armer Louis Doxtader. Während sich der Tag nähert, an dem Walter Karel Watts seinem Helden Nikolai Andréevich gegenübertritt, fühle ich mich – und mein großes Geheimnis – unvermeidbar im Hintergrund der Geschichte verschwinden. Ich sitze zum Schreiben in meinem Adlerhorst. In den letzten Tagen der Niederschrift war das Wetter hier in Südfrankreich sonnig und die Aussicht bis zum Meer glasklar. Mein Collie Bingo, gerettet von Siobhan vor einem grausamen Bauern in Irland, sitzt zu meinen Füßen. Er atmet tief ein und hat es sich in einer schattigen Ecke bequem gemacht. Das Fenster ist weit geöffnet, und eine Brise weht herein. An diesem Morgen sind wir in dem kleinen Naturschutzgebiet spazieren gegangen hinter dem auf einem Hügel gelegenen Dörfchen Châteauneuf. Dabei achteten wir behutsam darauf, die wunderschönen lilafarbenen, gelben und blauen Wildblumen nicht zu zertrampeln, die dort überall standen. Sie schillerten intensiv, und dieser Eindruck verstärkte sich durch den Flügelschlag der hellblauen, rotbraunen und weißen Schmetterlinge unterschiedlicher Größe. Als ich für Bingo einen Stock hoch in die Luft warf, entdeckte ich etwas am Himmel, das so aussah wie noch mehr Schmetterlinge, schwebend über den entfernten Bergen, zwischen dem Château und dem Kloster von Gourdon, dreizehnhundert Meter über dem Meer und ungefähr fünfzehn Kilometer weit weg. Es waren ein Dutzend oder noch mehr Flugdrachen, einige steil herabstürzend, geräuschlos wie Kolibris, die Aufwinde der Bergklippen ausnutzend.

Flugdrachen: Als junger Teenager liebte Walter besonders den Drachen in Old Niks Film, denn noch nie zuvor hatte er so etwas gesehen. In dem Streifen – das hatte mir Maud bei ihrem ersten Besuch verraten – springt Nik zuerst mit einem Flugdrachen von der Bergspitze und gleitet danach über einen großen See. Die Szene wurde zur Illustration der spirituellen Befreiung Nikolai Andréevichs durch die brutale Vereinsamung konzipiert, die er in der Story durchstehen musste.

Ich arrangierte ein Treffen, woraufhin Maud und Nik im September in meine Wohnung kamen, in der Walter den Helden seiner Kindheit endlich treffen sollte.

„Mein Mann, Nikolai.“ Maud führte Old Nik in das lichtdurchflutete Wohnzimmer, das gleichzeitig als Galerie diente. Das einst goldene Haar war nun vollkommen ergraut, an einigen Stellen weiß, aber nicht mehr lang, lockig und voll. Ich schätze mal, Maud hatte ihn überredet, es endlich zu waschen. Nik trug einen Stoppelbart. Als er sich im Raum umsah und einige seiner zur Schau gestellten Arbeiten entdeckte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Plötzlich wirkte er höchst aufmerksam. Sein Gesichtsausdruck war wachsam, als sei er alarmiert.

„Ich freue mich, Sie wiederzusehen“, eröffnete ich das Gespräch. Wir gaben uns die Hand, doch er hatte einen schwachen Händedruck. Ich drehte mich zu Maud. „Vielen Dank hierfür, Maud. Walter wird bald da sein.“

Als Walter ankam, spürte er die Zerbrechlichkeit Niks, ergriff die Initiative, nahm ihn am Arm und führte ihn zu den Bildern, die sie sich gemeinsam ansahen. Die beiden sprachen leise miteinander, aber ich konnte einige Gesprächsfetzen verstehen. Aus Old Nik schien ein Pedant geworden zu sein. Er korrigierte beinahe jede Erinnerung Walters.

„Nein, nein, nein“, hörte ich Nik drängend. „Das war der 27. Mai. Da spielten wir im Batley Variety Club.“

„Die wurde in den De Lane Lea produziert, nicht im Olympic.“

„Nein, wir traten nicht in Ungarn oder der Tschechoslowakei auf.“

„Wir wurden von Carlton Entertainments gemanagt. Der Produktionsmanager war diese kleine Rotznase Frank.“

„Mauds Arbeit? Da musst du sie selbst fragen.“

Daraufhin drehte ich mich zu Maud. „Ja, was haben Sie gearbeitet? Arbeiten Sie immer noch?“

„Ich kümmerte mich von zuhause aus um die Angelegenheiten meines Mannes, sein Studio, seine Garderobe, sein Archiv und so weiter. Frank Lovelace war für die Arbeit auf Tour zuständig.“

Walter schaute zu mir rüber und grinste. Sich Frank als jungen Laufburschen vorzustellen, machte Spaß – wie er Old Nik eifrig Tee brachte oder Taxis heranwinkte.

„Ihr zwei könnt hier ruhig bleiben und euch unterhalten“, bot ich an. „Ich nehme Maud mit in den Richmond Park. Es ist ein sehr angenehmer Tag.“

„Nein.“ Walter drehte sich zu Nik, seinen Kopf zur Seite neigend, vergeblich auf eine Antwort wartend.

„Gehen wir in den Park? Es wäre gut, ein wenig Luft zu schnappen.“

Walter führte Old Nik in die Lobby und stand mit ihm vor dem Fahrstuhl. In dem Moment trafen sich Mauds und mein Blick. Dort standen zwei Generationen von Rockstars, beide von ihren Fans als unantastbar angesehen, mächtig, anmaßend, erfolgreich und potent. Wir wussten, dass beide die gleichen Probleme mit dem Ruhm teilten. Während sich die Fahrstuhltüren schlossen, hob Walter eine Hand zum Gruß. Die beiden wirkten wie Vater und Sohn.

Es war merkwürdig, denn ich fühlte mich ein wenig eifersüchtig. Ich wollte derjenige sein, der Walter den Weg aus seiner Misere aufzeigte, ihn befreite. Ich wusste, dass Andréevich helfen würde, und hatte die beiden einander ja vorgestellt, doch mich beschlich das Gefühl, Walter zu verlieren.

Was würde sich zwischen ihnen abspielen? Maud und ich unterhielten uns über alles Mögliche, doch wir ahnten beide, dass uns die gleichen Fragen bewegten.

Was riet Old Nik Walter?

Was sagte Walter seinem Vorbild, was fragte er ihn? Wie verstanden sich die beiden?

Welchen vernünftigen Ratschlag konnte der alte Rockstar, der sich zu einem Filmstar gewandelt hatte, einem jungen, solide verwurzelten, bescheidenen Künstler geben – praktisch nicht mehr und nicht weniger als ein Pub-Rocker –, dem alten geliebten Schulfreund meiner Rain?

Was hatte Old Nik aus seinen Visionen gelernt?

Würde der Austausch zwischen den beiden die Verbindung zu Siobhan zerstören, die – und ich betete dafür – bereits brüchig genug war, damit Rain dem Narren ihre Liebe gestehen konnte, beichten, dass sie ihn schon immer geliebt habe? Sich das zu wünschen, wäre vielleicht zu viel verlangt.

Doch mit dem Vorteil der rückwärtsgewandten Perspektive erkenne ich nun, dass eine Veränderung angestoßen wurde: Von dem Tag des Treffens mit Andréevich an kehrte Walter seinem alten Leben den Rücken.

Das Zeitalter der Angst

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