Читать книгу Das Zeitalter der Angst - Pete Townshend - Страница 8
ОглавлениеKapitel 2
Als mich Maud 1996 besuchte, hatte Walter sich bereits etabliert und genoss eine erfolgreiche Karriere. Man kannte die nach ihm benannte Pub-Rock-Band als Big Walter and His Stand, später verkürzt zu Stand. Er nannte sich Big Walter, als Hommage an Little Walter, seinen Mundharmonika spielenden R&B-Helden aus Memphis, Tennessee. Der Bandname „Stand“ war eine Referenz an sein Bühnengebaren. An bestimmten Punkten der Performance stellte er sich wie eine Statue hin, die spielbereite Harp in seiner rechten Hand, so gehalten, als wolle er seine Augen vor dem Licht abschirmen. Seine linke Hand war seitlich ausgestreckt, als würde er auf einem imaginären Surfbrett stehen, die Knie minimal durchgedrückt, ein bisschen nach rechts gewandt, den Körper im Hüftbereich leicht verdreht. Wenn er diese Pose einnahm, wusste das Publikum, dass sie bald ein kraftvolles, explosives Mundharmonika-Solo hören würden. Die Mädchen begannen zu kreischen und die Jungs zu schreien.
Nach einer dieser spektakulären Nächte im Jahr 1995 tauchte Walter in meiner Wohnung auf. Ich öffnete die Tür und erinnerte mich direkt an sein gutes Aussehen und die leicht erhöhten Wangenknochen. Trotzdem entsprach er nicht in allen Punkten dem Ideal. Seinen Augen waren ziemlich klein. Man konnte keine exakte Farbe ausmachen. Sie sahen für einen Mann von nur 28 Jahren alt und verbraucht aus, ähnelten jemandem, der jahrelang auf dem Deck eines Fischerbootes gearbeitet oder von einem Pferd aus mit dem Lasso Rinder eingefangen hatte. Walter trug sein schwarzes und voluminöses Haar lang.
Er machte einen ängstlichen Eindruck, aber sagte zuerst nichts.
Zu dieser späten Uhrzeit war ich schon bereit fürs Bett, doch er wusste, dass ich meine Rolle als Pate ernst nahm und meine Tür für ihn offen stand. Ich war schon immer sein Mentor gewesen und stellte mir schon seit langem die Frage, ob Walter glaubte, dass ich ihn auf eine andere Art verstünde als seine Eltern. Harry und Sally reagierten verwirrt, da Walter wieder die Harp in die Hände nahm, nachdem er seinen Abschluss in Gartenbau gemacht hatte. Erwarteten die beiden tatsächlich, dass aus ihm ein Gentleman-Landschaftsgärtner würde?
„Onkel Louis“, begann er das Gespräch. (Er nannte mich schon immer „Onkel Louis“.) „Ich brauche irgendwie Hilfe.“
„Okay“, antwortete ich, mich sorgend, dass er auf Drogen gekommen war oder Ärger mit seinen Fans hatte. „Was ist denn los?“
„Es ist schwer, darüber zu reden. Ich werde nicht verrückt, aber wenn ich dir jetzt davon erzähle, glaubst du vielleicht, ich würde den Verstand verlieren …“ Walter geriet ins Stocken.
„Walter“, beruhigte ich ihn sanft, „natürlich wirst du nicht verrückt. Was ist denn mit dir los?“ „Ich höre so ’nen Scheiß“, antwortete er. „Meist nach Gigs. Ich kann nicht schlafen.“
„Du hörst Scheiße“, zog ich ihn auf. „Hm, das ist interessant.“
„Onkel Louis!“ Er klang erschüttert und nervös. „Ich habe wirklich Angst.“
„Erzähl mir doch, was abgeht“, forderte ich ihn auf, nun völlig ernst.
„Unsere Auftritte waren in der letzten Zeit verdammt gut. Intensiv. Ich habe toll gesungen, doch meine Mundharmonika-Soli wurden sogar noch besser und besser.“
„Das ist doch klasse.“
„Ja, alles cool, und das Publikum ist voll ausgerastet.“
„Das ist doch cool“, stimmte ich ihm zu. „Und wo liegt nun das Problem?“
„Ich verstehe nicht, was abgeht oder warum es passiert, doch ich glaube, eine sehr tiefe Verbindung zu den Leuten vor der Bühne herzustellen.“
Ehrlich gesagt, hatte ich überhaupt keine Vorstellung, wovon Walter gerade sprach, aber ich versuchte, nicht verständnislos auszusehen.
Er redete mit ernster Stimme weiter. „Ich weiß, dass du mit Künstlern zu tun hast, die psychische Probleme haben, diese aber in ihre kreative Arbeit einfließen lassen.“
„Walter, erzähl mir doch, was los ist.“
„Ich habe schon in der Vergangenheit mit dir darüber gesprochen. Einige unserer Fans kommen jeden Abend, verharren oft in derselben Position.“
„Das irritiert dich? Ich erinnere mich daran, dass du davon geredet hast.“
„Ich hasse es, verdammt noch mal, hasse mich, weil ich es hasse: Sie sind ja Fans. Sie bezahlen schließlich die Miete. Doch ich habe das Gefühl, dass ich sie nicht mehr gewinnen muss, dass ich sie schon gepackt habe. Sie sind keine Herausforderung mehr, wissen, was ich als Nächstes mache, was ich zwischen den Songs sage. An einigen Abenden ertappe ich mich dabei, wie ich ihrer emotionalen Führung folge, statt mich auf die eigene Reise zu begeben.“
„Verstehe, aber du meintest, so ein Zeug zu hören. Was genau hörst du? Hat das etwas mit den loyalen Fans zu tun?“
„Nach dem Ende der Musik, wenn der Applaus verebbt, höre ich in meinem Kopf Musik, die einfach weiterläuft – und manchmal empfinde ich das als sehr düster.“
„Klingeln deine Ohren?“
Walter lachte. Er hatte ein rhythmisches Lachen, das dem Rattern eines Maschinengewehrs ähnelte. Einen Augenblick lang verschwanden die Sorgen aus seinem Gesicht, und er sah wieder jung aus. „Ja, natürlich klingeln sie. Doch das hier ist was anderes. Es ist Musik, Klang und mehr als etwas, das sich in den Ohren abspielt. Es ist in meinem Kopf, und ich kann es sogar fühlen. Es ähnelt einer Art Attacke. Sound-Attacken. Das hört sich verrückt an. Ich wusste, dass es sich verrückt anhört.“
„Nein.“ Ich versuchte, ihn aufzubauen, denn er steigerte sich in seine Nervosität hinein. „Das klingt nicht verrückt, und es ist offenbar sehr ernst für dich.“
Er gab keine Antwort.
„Walter?“ Ich sprach ihn ganz vorsichtig an. Seit seinen frühsten Jahren hatte ich mein Patenkind nicht so verletzlich erlebt. Er saß da, die Hände in den Schoß gelegt, wie ein kleiner Junge vor dem Büro des Schulleiters, der eine Bestrafung erwartet. Walter starrte in die Luft, an die Decke, dann nach links und rechts.
„Ich kann es jetzt hören, Onkel Louis“, sagte er mit einer Stimme, die dem Schluchzen nahe war. „Es kommt mir wie ein Angriff auf die Psyche vor. Ich würde es gefühlsmäßig eine Sound-Attacke nennen. Wenn ich darüber rede oder davon spreche, kommt das alles zurück, und ich höre es wieder und wieder. Ich glaube, es stammt von den Fans, die ganz vorn stehen.“
„Mit wem hast du sonst noch darüber gesprochen?“ Walter war mit einem wunderschönen irischen Mädchen verheiratet. Sie war ein oder zwei Jahre älter und hieß Siobhan Collins. „Was ist mit Siobhan?“
„Ich habe mit ihr darüber geredet.“
„Und was sagt sie?“
„Um ehrlich zu sein, ist sie nicht besonders scharf auf all das, was mit der Band zusammenhängt. Die ganzen schönen Mädchen in der ersten Reihe. Es ist schwierig für sie – alles, was sich um die Band dreht. Sie denkt, ich sollte eher richtig arbeiten, mich selbst ernster nehmen.“
„Du meinst, sie will, dass du aussteigst?“ Wenn ich in dem Augenblick erstaunt klang, dann nur, weil ich mich fragte, wie Siobhan auf solche Gedanken kam – obwohl ich einige ihrer Bedenken teilte. Walters Manager Frank Lovelace trieb seine Leute besonders hart an, und er hatte einen großen Stall von Künstlern. Er richtete sein Augenmerk ständig auf den ganz großen Deal, versessen und gierig danach, sich eine Beteiligung zu sichern. Walter stellte die Schlüsselfigur für den Erfolg der Band dar, und was ihn anbelangte, dominierte Frank Lovelace mit seiner durch und durch kontrollierenden Persönlichkeit.
„Ich weiß es nicht. Sie hat nie viel dazu gesagt. Aber sie ist ja auch Irin!“ Er lachte wieder, und dieses musikalische Lachen erweckte ihn einen Moment lang erneut zum Leben. „Sie will, dass ich der neue Seamus Heaney werde oder so was in der Art.“ Er schüttelte den Kopf.
Siobhan arbeitete in der zentralen Nachrichtenredaktion der BBC in London. Sie leitete eine Gruppe von Auslandskorrespondenten, und zu ihrem Team gehörte auch meine Tochter Rain.
„Hast du vielleicht mit Rain darüber gesprochen?“ Das war eine dämliche Frage. Rain hielt sich schon seit einigen Monaten in Afghanistan auf.
„Nicht über das hier. Hör mal, Onkel Louis, so was ist mir noch nie passiert. Ich habe das Gefühl, dass ich mich in Gedanken einklinke, die vom Publikum kommen.“
„Aber da liegt doch genau deine Stärke, Walter.“ Ich hatte recht, denn Walter schien sein Publikum oft vollkommen in der Hand zu haben.
„Nein, das hier fühlt sich negativ an, als würde ich seine Ängste hören, sie noch verstärken.“
„Sich auf das Publikum einzupendeln, ihm voraus zu sein – das machst du. Und zwar besonders gut. Das genau tun alle guten Künstler. Siobhan ist doch sicherlich stolz auf dich?“
„Das ist sie, aber sie quält nicht nur der Gedanke, dass mir die Gruppe so nahe steht. Sie meint, Clubs wie das Dingwalls gäben vor, besser als ihr Ruf zu sein.“
„Sie inszenierten sich also als irischer Pub, mit Geigen, Dudelsäcken und Murphys frisch aus der Brauerei?“
Walter lachte. „Damals in Waterford bin ich mit ihr in einigen dieser Läden gewesen. Da war es richtig wild.“
„Und zweifellos brechend voll mit heißen Miezen“, ergänzte ich.
Einen Augenblick lang schien Walter wieder ganz der Alte zu sein. Er war immer selbstsicher und fest entschlossen, doch ich sah, dass sich etwas in ihm verändert hatte. Wir unterhielten uns noch eine halbe Stunde. Ich dachte, dass Zuhören, ganz einfaches Zuhören, vermutlich besser für ihn wäre als ein verzweifelter Versuch, nach Konzepten zu suchen oder um eine Lösung zu kämpfen.
Er berichtete mir davon, dass er beim Musikmachen gleichzeitig hören müsse. Er behauptete sogar, dass sich gute Musiker in die einteilen ließen, die zuhören konnten, und diejenigen, die einfach nur spielten. Großartige Künstler seien zu beidem in der Lage: spielen und zuhören. Walter strebte nach dieser Größe und hörte jetzt diese befremdlichen Klänge, zugleich unerwartet und unerwünscht. Nun hatte er Angst vor dem Hören, fürchtete sich davor, dass er nicht mehr als Musiker und nicht mehr mit anderen zusammenarbeiten könnte.
Die Sirene eines Polizeiautos riss mich aus den Gedanken. Mir wurde klar, dass Walter eine offensichtliche Frage vermieden hatte.
„Also, hast du mit Harry gesprochen?“ Walters Vater, mein alter Freund. Harry war ein guter Vater gewesen, wenn auch nicht oft anwesend. Ich möchte ihn als erfolgreichen Musiker beschreiben, der viel tourte und ein Leben in einer abgehobenen Welt führte. Klassische Orgel – Messiaen und Bach. Harrys Frau, also Walters Mutter Sally, war eine meiner engsten Vertrauten und erzählte mir häufig von ihren Beziehungsschwierigkeiten.
„Ich will meinem Dad keine Sorgen bereiten“, erklärte Walter leise. „Zumindest jetzt noch nicht.“
„Du willst also noch mit ihm reden?“
Wenn etwas in der Luft lag, das er nicht erklären oder offenbaren wollte, schwieg Walter ganz einfach. Ab und an erkannte man ein Anzeichen, dass er darüber nachdachte, etwas auszusprechen oder auch nicht: Er rieb sich an einer Seite der Nase, und man sah seine leicht verschmitzte Miene. Manchmal führte das dazu, dass er redete, aber manchmal war das auch nur der Auftakt zu seinem Schweigen.
Bei dieser Gelegenheit sagte er schließlich etwas, doch ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ihm widerstrebte. „Ich glaube, ich sollte wohl zuerst zu einem Arzt gehen.“ Walter erklärte, dass sich sein Vater bei einem solchen Gespräch zuallererst nach einem Arztbesuch erkundigen werde.
„Bring doch deine Erfahrungen einfach zu Papier“, schlug ich vor. „Wenn du zu einem Arzt gehst, wird das sicherlich hilfreich sein.“
„Was, sie beschreiben? Oder soll ich sie ‚ausnotieren‘?“
Walters technische Fähigkeiten als Musiker erreichten nicht das Niveau seines Vaters. Er konnte weder Noten lesen noch transkribieren.
„Du weißt doch, dass ich mit Outsider Art handle, Walter.“ Ich lachte. „Falls du alles aufschreibst und damit andere dazu bringst, ein Gespür für diese Klänge zu bekommen, kannst du dich vielleicht zu den fabelhaften Künstlern auf meiner Liste gesellen. Als Poet!“ Ich lachte erneut, zwanghaft, und versuchte ihn dadurch in die Gegenwart zu holen, um den Druck seiner beklemmenden Gefühle zu lindern.
Er lehnte sich zurück und schaute weg.
„Ich kann das Gehörte beschreiben“, meinte er und schaute mich mit trauriger Miene an. „Ich fände es aber extrem schwierig, das in Musik für ein Publikum umzuwandeln.“
Ich kannte Walter seit seiner Kindheit. Aber ich wusste auch, wie er von anderen wahrgenommen wurde, von den Bandkollegen, den Fans und dem Manager. Sie sahen ihn als jemanden, der attraktiv war, hart und cool. Er wirkte wie ein Mann, der sich in einem Kampf gut schlagen konnte, doch nur die wenigsten wussten etwas über seine Tiefgründigkeit.
Ich hatte erste Anzeichen davon schon in seiner Kindheit bemerkt. Er studierte später Gartenbau, und sein Traum war es laut eigener Aussage, eines Tages einen Irrgarten zu kreieren. Er verriet Rain, dass es ungefähr 25 Jahre brauche, bis das Gebüsch dicht genug sei, um sich darin zu verlieren – in einigen Fällen sogar noch länger. Mit genügend Zeit und Pflege werde aus jedem Labyrinth ein wahrer Irrgarten.
Er wirkte auf mich wie ein junger Mann, der – im Gegensatz zu seinen Freunden, die ihr Verlangen und ihre Wünsche so schnell wie möglich befriedigen wollten – die Freude kannte, sich auf den Verlauf der Natur einzulassen.
„War da sonst noch irgendwas?“, fragte ich ihn. Walter hielt etwas zurück.
Entweder hatte ich das Falsche gefragt oder direkt einen Nerv getroffen. Walter schüttelte den Kopf und nahm seinen Mantel und die Tasche. Ein Lichtstrahl erhellte sein Gesicht, und ich ertappte mich bei dem Gedanken, dass ihn diese neue Verletzlichkeit noch unwiderstehlicher bei den Frauen machte, die er in seine Nähe ließ. Meine Tochter Rain hat ihn immer geliebt. Aus der Verknalltheit der Kindheit erwuchs eine unausgesprochene Leidenschaft. Siobhan muss die Rivalität wohl gespürt haben, denn als ihre Chefin bei der BBC schien sie Rain ständig in entfernt gelegene Hotspots zu entsenden.
Walter nahm mich in die Arme und lächelte zum Abschied.
Im Winter des Jahres 1995 besuchte mich Rain in meinem Apartment – ich dachte zuerst zum Nachmittagstee. Sie benutzte den Wohnungsschlüssel, den ich ihr gegeben hatte, kam rein, warf den Journalistenkoffer auf den Boden, knallte die Tür zu und schmiss ihren Mantel auf den Boden des Flurs. Sie stapfte in das Wohnzimmer und ließ sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck auf das Sofa fallen. Ohne Vorwarnung teilte sie mir mit, dass Walter nun verheiratet sei.
„Ich kam nach London zurück, ging ins Büro, sah den Ring an Siobhans Finger und fragte eine Freundin, wer denn der Glückliche sei. Sie klärte mich auf: ‚Siobhan hat ihren Freund geheiratet. Deinen Freund Walter.‘“
Rain war mit einem BBC-Team in Afghanistan gewesen, das mehrmals im Laufe von zwei Jahren mit einer von den USA unterstützten Mudschahedin-Patrouille das Gebiet bereiste. Sie sollten das zu erwartende Ende der Feindseligkeiten in der Region dokumentieren.
Ich wusste natürlich, dass Walter am 25. Juni 1994 geheiratet hatte und war bei den Feierlichkeiten gewesen.
„Warum hast du mich das nicht wissen lassen, Dad?“ Rain hatte Tränen in den Augen. „Ich hätte da sein sollen, bei Walters Hochzeit. Er war wie ein Bruder für mich.“
Ich wusste, was sie eigentlich ausdrücken wollte – dass Walter ihre große Liebe war, dass sie seine Frau hätte werden sollen. Ihr war klar, dass es niemals möglich gewesen wäre, sie während des Einsatzes mit den Mudschahedin zu kontaktieren. Bei der Hochzeit war ich total breit gewesen und erinnerte mich danach an kaum etwas. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich wie ein Halbtoter und versuchte, alles schnell zu vergessen.
Als Rain so niedergeschlagen dasaß – sie hatte allen Grund, tieftraurig zu sein –, beendete ich die Kontrolle der Buchführung. Ich betrachtete meinen Nachwuchs zum ersten Mal intensiv und eingehend. In diesem Moment der Verzweiflung wirkte sie unglaublich schön. Ihre kurzgeschnittenen Haare schimmerten rötlichblond. Auf ihrer blassen und sonnenempfindlichen Haut zeichneten sich winzige Sommersprossen ab. Sie hatte wenig von dem wunderschönen Teint meiner Mutter Claire, aber die kräftige Knochenstruktur ihrer Oma mütterlicherseits geerbt. Rain war weder ein Ebenbild ihrer Mutter noch von mir – gut für sie, da ich keinem Ölgemälde zur Ehre gereiche. Rains Mutter – meine lang verlorene Frau Pamela – sah jedoch recht gut aus und hatte rötlichblonde Haare. Ich benutze rötlichbraun nicht abwertend. Ich konnte mich daran nie sattsehen. Sie einen Rotschopf zu nennen, wäre absurd gewesen. Sie hatte diese besondere Haarfarbe, was in ihren Jugendjahren noch umwerfender wirkte. Das optische Erscheinungsbild stand auf einer Ebene mit ihrer Persönlichkeit, denn Pamela war überaus lebendig, unvorhersehbar und kapriziös. Scharf!
So empfand ich es als einen Schock, dass sie sich nach der Geburt von Rain plötzlich für ein zölibatäres Leben entschied. Oh ja, und sie wollte sogar zum Katholizismus konvertieren. Bis zu dem Zeitpunkt war sie, um es so höflich wie möglich auszudrücken, fast eine Nymphomanin gewesen, eine legendäre „Rothaarige“ – heiß! Als junger Ehegatte hatte ich mich vor Rains Geburt manchmal gefühlt, als wäre ich im Paradies gelandet. Kein Mann hätte in sexueller Hinsicht mehr von seiner Frau erwarten können.
Sie müssen wissen, dass mich Frauen attraktiv fanden. Auf einige trifft das immer noch zu. Allerdings sehe ich auf bestimmte Art befremdlich aus, ein Mix aus Stereotypen der arischen und jüdischen Rasse. Doch für mich lief es bisher ganz gut. Ich bin mittelgroß, habe braune Augen und pechschwarzes Haar, das ich meist lang trage. Obwohl es oben schon dünner wird, habe ich noch genügend Haare, um ein wenig jünger auszusehen, als ich tatsächlich bin. Nicht schlecht, obwohl ich mich nie um meinen Körper oder mein Gesicht kümmerte. Einzig und allein mein Bart stößt manchmal einige Frauen ab. Er ist nicht lang, obwohl ich ihn nur selten stutze. Ich ziehe es aber vor, ihn zu tragen, denn meiner Meinung nach ist mein Kinn wenig ausgeprägt. Schaue ich in den Spiegel, schreie ich nur selten Du heißer Teufel, geh und nimm sie dir, wonach ich mir das Rasierwasser auf die Backen klatsche. Manchmal kam das aber schon vor! Mein Gesicht scheint in der Stirnpartie breiter zu sein, als es eigentlich sollte, doch das liegt eventuell nur an dem schmalen Kinn. Nun habe ich ein merkwürdiges Bild von mir gemalt, denn Pamela bezeichnete mich oft als süß oder zauberhaft. Wenn wir uns liebten und unsere Gesichter im Halbdunkel einander ganz nahe waren, nannte ich sie wunderschön – denn so wirkte sie auf mich. Sie hingegen beschrieb mich als gutaussehend. Schätze mal, sie sagte die Wahrheit. Wir waren aber niemals eine Familie, die ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl hoch bewertete, und Rain sah sich sicherlich nicht als die hübsche Frau, zu der sie sich entfaltet hatte. Die Männer lagen ihr zu Füßen, doch Walter behandelte sie immer wie eine Schwester.
Als sich Rain plötzlich aufrichtete – aufschäumend, Schönheit, die wie eine Aura um sie herum erleuchtete und eine deutlich unterdrückte sexuelle Energie ausstrahlte –, erkannte ich ihre Mutter in ihr.
„Komm schon, Rain“, versuchte ich sie zu beschwichtigen. „Mein Patenkind hat einen Fan geheiratet, das war sie nun mal.“ Ich versuchte zu lachen, doch ließ die gespielte Heiterkeit schleunigst abebben.
Das irritierte, ärgerte und verunsicherte sie nur noch stärker. „Siobhan ist super-schlau, Dad. Wenn sie ein Fan war, hat sie das vor mir verschwiegen. Sie müssen sich aus einer Laune heraus zur Hochzeit entschlossen haben. Wie konntest du nur zu den Feierlichkeiten gehen, ohne es mich wissen zu lassen?“ Sie explodierte förmlich, sprang auf und schlug sich mit den Handballen so stark auf die Schenkel, dass sie sich vermutlich verletzte.
Momentan wollte ich mir die Tatsache nicht vor Augen führen, dass ich mich kaum an die Party erinnern konnte. Ich hatte Siobhans jüngerer Schwester Selena Drogen zugesteckt, die dort mit ihrer hübschen Freundin Floss abhing, aber sogar daran erinnere ich mich nur schwammig.
„Siobhan ist doch älter als ich, Dad! Und Walter hat nun meinen verdammten Boss geheiratet!“ Sie begann auf und ab zu laufen, hielt inne, wirbelte herum und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Jesus! Ich schätze mal, Siobhan verfrachtete mich für geschlagene zwei Jahre nach Afghanistan, um diese miese Aktion durchzuziehen.“
Dann ließ sich Rain wieder aufs Sofa fallen und brach in Tränen aus.
Natürlich hatte ich einen Einfluss aufs Walters Leben und seine Karriere. Rain wusste das nur zu gut. Ich fungierte als Walters wichtigster Mentor, glich einem Leitstern. Er hörte auf mich, vielleicht, weil er mich in meinen schlimmsten Tagen erlebt hatte – und danach auch die Genesung. Ich hätte ihn vielleicht aufklären können, darauf hinweisen, dass meine Tochter ihn liebte – hätte ich das nur selbst bemerkt!
Doch ich dachte bei Walter und Rain niemals an ein potenzielles Pärchen. Mir fehlten einige Jahre. Für mich waren sie immer wie Kinder, die im Garten in einem Pool planschten oder im Sand des Strandes bei Clacton buddelten. Ein alleinerziehender Vater zu sein ist aus vielen Gründen eine schwierige Aufgabe, doch als Süchtiger machte ich es mir noch schwerer. Ich funktionierte aber trotz der Drogen. Sie linderten meinen Schmerz, benebelten die Sinne. Ich war nicht aufmerksam genug gewesen, um zu erkennen, was sich zwischen diesen beiden süßen Kindern direkt vor meinen Augen entwickelte. Sie mochten sich sehr, doch Rain blühte auf und verliebte sich in Walter.
Als Pamela und ich versuchten, unsere Ehe zu retten, war Rain ungefähr zehn oder elf Jahre alt. Ich nahm Heroin, um meinen unerfüllten Sexualtrieb zu ersticken, den ich einst mit meiner rotblonden Fick-Fest-Frau ausgelebt hatte. Eines Tages, in einer schrägen Phase, in der ich versuchte, von dem Stoff runterzukommen, entschieden wir uns – die rotblonde Fick-Fest-Frau und ich –, ein größeres und ausladenderes Bett zu erwerben.
„Du willst also weiter weg von mir schlafen“, murmelte ich erbärmlich und fuhr dann mit meiner Aussage fort, die ich nicht so meinte. „Aber ich will auch weiter weg von dir schlafen.“
„Ha!“, keifte Pamela. „Du meist also, das hier ist ein Spiel!“
„Nein“, korrigierte ich mich. „Ich glaube, ein größeres Bett ist für uns beide eine gute Idee. Wir sind jetzt schon eine lange Zeit verheiratet. Ich weiß, dass Frauen ihrer Männer überdrüssig werden, sie vielleicht sogar unangenehm finden. Halte ich dich vom Schlafen ab?“
„Du schnarchst nicht, wenn du das meinst.“ Pamela kicherte. „Weder furzt du, noch brabbelst du die Namen der Frauen deiner Träume. Mal ehrlich, Louis. Was glaubst du wohl, warum ich ein größeres Bett will? Glaubst du nicht, dass ich dich abwehren kann, falls du mir zu nahe kommst? Du bist ja so ein Trottel. Ich habe dich immer geliebt, Louis. Ich möchte deine Bedürfnisse befriedigen, doch etwas in mir hat sich verändert. Es ist massiv, Louis. Ich wünschte mir, es wäre nie geschehen, doch das ist es nun mal.“
Zu verstehen, was Pamela mit dem Adjektiv „massiv“ signalisierte, kam mir erst gar nicht in den Sinn, denn das Heroin überdeckte die Angst. Ich schwebte zwischen einer zugedröhnten Lethargie und einem selbstsüchtigen Entzug, bei dem ich nur mich im Blick hatte. Pam muss das Leben mit mir so empfunden habe, als sei sie mit einem knuddeligen Schäferhund verheiratet, der gelegentlich aufwacht, um einem Moskito hinterherzujagen.
Wir fanden eine Lagerhalle in Hampshire, in der alte französische Betten verkauft wurden, und fuhren dahin, um ein passendes auszusuchen.
Wir entschieden uns für ein opulentes und übergroßes Doppelbett mit hohen Wallnussplatten am Kopf und am Fuß. Die Kopfplatte zeigte eine wunderschöne Maserung und schien im gedämpften Licht der Halle, wo man es clever positioniert hatte, recht hübsch zu sein. Erst als die Lieferanten das Bett in unserem sonnendurchfluteten Schlafzimmer aufstellten, bemerkte ich etwas sehr Merkwürdiges. Die Muster auf der einen Seite der Kopfplatte stachen kräftiger hervor. Man bekam den Eindruck, als seien sie von einer obsessiven Seele die ganzen 150 Jahre lang poliert worden, in der das Bett auf einem Bauerngut irgendwo in Frankreich stand.
„Du weißt, woher die Flecken kommen, Pam“, erklärte ich. „Die dunklere Verfärbung stammt von einem Kopf, der dort geruht hatte, Nacht für Nacht mit fettigem Haar – wie Wachs –, wodurch Motive zu sehen sind, die vom natürlichen Muster im Holz stammen.“
„Ja, und diese Fettflecken stammen vom Kopf eines Mannes“, meinte Pamela mit einem vom Ekel verzerrten Gesichtsausdruck. „Das ist ja die Männerseite des Betts.“
„Meine Seite!“ Ich brachte ein Lachen zustande, doch fühlte mich durch den Wortwechsel erniedrigt, denn es war einfach nicht fair. Ich hatte doch nicht die verdammte Kopfplatte verschmutzt und gelte mir niemals das Haar.
Meine Seite. Ekelflecken. Fettiges Haar. Auf meiner Seite.
Ich war bereits ein Süchtiger, bevor ich Pam traf. Als sie schließlich merkte, dass ich die Droge regelmäßig nahm, glaubte sie wirklich, mich ändern zu können. Ich wurde jedoch nicht clean, und ihr Versagen verschlimmerte meine Abhängigkeit zum Teil. Die Scham verwandelte sich in Qualen, wenn ich einen Entzug versuchte, da Pam ungeduldig wurde. Sie war eine starke Frau, energiegeladen und dominant. Stellte sie für mich eine Mutterfigur dar? Nein, ich betete sie an wie eine Göttin, und ich denke, dass es sie zur Weißglut brachte. Sie wollte leidenschaftlichen und beherzten Sex, Kameradschaft und Aufregung. Zuerst faszinierte ich sie, denn unsere – so dicht wie ich war – wollüstigen und langen Sex-Sessions passten zu ihr. Doch dann schien alles Gute aus unserer Ehe plötzlich zu verschwinden, sich einfach aufzulösen. Aus mir war ein selbstgefälliger Langweiler geworden. Möglicherweise bin ich zu hart zu mir selbst. Sie musste ihre Rolle spielen, doch mir zuzuhören, während ich mich in drogengeschwängerten Halluzinationen suhlte, muss nervenaufreibend gewesen sein.
In diesem Moment, in einem mich überkommenden Delirium des Entzugs, gepaart mit der Scham vor Pamelas absoluter Verachtung, in dem Moment – und das trifft vielleicht auf die Erlebnisse aller fertigen Männer zu – erwachten die Wirbel und Formen des Flecks zu einem psychedelischen Eigenleben. Ein Dutzend schreiender und gespenstischer Fratzen tauchten auf, ähnlich dem Gesicht, das Edvard Munch erschuf, Namensgeber meines Vaters. Das Bild bohrte sich tief in meine verletzliche Psyche. Mehrere Monate lang war ich regelrecht von der Lösung des Rätsels besessen, wer einst sein Haupt gegen diese Stelle presste, Nacht für Nacht, und was in seinem Kopf vorging – was für Albträume erlebte er, welche Visionen, was für einen Horror? Ich erinnere mich an Rain, das arme Kind, die mich wieder und wieder zu trösten versuchte, mir versprechend, irgendwie zu helfen.
Als ich mich eine Woche später etwas erholt hatte, war Pamela gegangen und sollte niemals zurückkehren, niemals etwas von mir beanspruchen, niemals einen Anspruch auf Rain erheben. Pamela verschwand wie aus heiterem Himmel. Ich hatte keine Chance, sie aufzuspüren. Natürlich verschlimmerte sich mein Drogenkonsum für eine bestimmte Zeit. Die Halluzinationen steigerten sich zu ausgewachsenen Gesprächen mit erotischen, nymphenähnlichen Engeln und diabolischen Fratzen, die ich berühren konnte und sogar riechen, wenn mir danach war. Ich verspürte keinerlei Angst und stellte deshalb eine Gefahr für mich und meine Tochter dar. Pamela wusste nichts davon, da bin ich mir sicher. In dieser schwierigen Zeit unterstützten mich Walters Eltern Harry und Sally vorbildlich. Sie nahmen Rain monatelang zu sich und ließen mich im Gästezimmer übernachten, um ihr nahe zu sein.
Die beiden waren exzellente Reiter. Da Walter sich als Kind aus irgendeinem Grund gegen Pferde entschieden hatte, nahmen sie die Gelegenheit wahr und brachten Rain das Reiten bei. Es lenkte sie von meinen speziellen Problemen ab, die sicherlich nicht schlimmer als ihre eigenen waren, und sie schwärmte schon bald für die beiden Pferde. Damals quälte ich mich oft mit der Frage, wie gut Rain ohne ihre Mutter zurechtkomme. Ich erinnere mich an Walter und Rain, kaum zwölf, die in verkrampfter Haltung vor mir saßen, während ich ihnen von den seltsamen Bildern erzählte, die in meinem Kopf herumspukten. Rain brach ihren Überzeugungsversuch ab, dass gerade sie mir wieder zu mentaler Gesundheit verhelfen könnte, als sie bemerkte, wie Walter – den sie schon damals vergötterte – den Inhalt meines Gebrabbels wirklich cool fand.
„Künstler nehmen Dinge anders wahr als ihr und ich.“ Ich saß mit den beiden vor einem lodernden Kaminfeuer: Kakao für sie und für mich Cognac zusätzlich zum Heroin und einem Koks-Speedball. „Vielleicht gibt es auch einen anderen Unterschied, denn sie versuchen, uns an den Erfahrungen teilhaben zu lassen, transformieren sie in Gemälde, Musik oder eine Geschichte. Ich wünschte mir, Künstler zu sein. Was ich oft sehe und höre, wenn es mir nicht besonders gutgeht, das ist genauso interessant und spannend wie das, wenn ich fröhlich und glücklich bin.“
Ich wünschte mir in dem Augenblick, ich hätte ihnen von den Nymphen und Grimassen berichten können.
„Wenn wir Schmerz empfinden, spüren wir unsere Menschlichkeit, spüren, dass wir leben. Für mich ist der physische Schmerz nicht immer ein Gefühl, das betäubt werden sollte, doch ich muss das, was in meinem Kopf herumschwirrt, abschwächen. Ich muss fähig sein, es klar zu sehen und zu hören, eine Distanz aufzubauen, um es auszudrücken.“
Die Kids wollten wissen, was ich denn genau hören und sehen könne. Ich wollte ihnen keine Angst einjagen, aber erklären, warum ich so war, wie ich eben war.
„Ihr seid alt genug, um etwas über Drogen zu wissen. Ich schätze mal, die älteren Kids in der Schule experimentieren schon damit. Doch die biochemischen Vorgänge im Körper und im Gehirn sind weitaus stärker. Wenn ich kurz innehalte und etwas intensiv betrachte – wie die Flammen und den Rauch im Feuer da –, kann mein Bewusstsein einen anderen Weg einschlagen. Wie jetzt, wo ich nackte tanzende Frauen sehe. Nichts Obszönes, eher wie ein Ballett. Doch nun verwandeln sie sich in sich windende goldene Schlangen. Und jetzt erscheint mir der Rauch wie ein schwerer Stoff, und die Glut verbirgt ein glühendes Tier unter sich. Etwas wie einen Wal, einen brennenden Wal.“
„Ein Künstler ist in der Lage, solche Images aufzunehmen und sie in etwas Greifbares zu verwandeln. Wenn einer meiner Klienten, ein Maler oder Bildhauer, den ich vertrete, mir seine Arbeit präsentiert, weiß er, dass ich es schätze, dass keine eindeutige Logik dahintersteckt. Sie versuchen einfach nur, etwas anzuzapfen, was die normalen Leute als Wahnsinn bezeichnen.“
Harry und Sally Watts gehörten zum selben Personenkreis wie Pam und ich. Wie waren bohemienhafte Typen, die die Exzentrik und Ausschweifungen der jeweils anderen tolerierten. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, wenn einer von uns dem anderen sagte: Dein Arbeitsethos macht dich zu dem, der du bist oder Wärst du nicht ein Junkie gewesen, könntest du die Künstler nicht wertschätzen, mit denen du arbeitest. Wir gaben uns alle liberal, und ich glaube, dass Harry und Sally meine Abhängigkeit als eine Art Ehrenmedaille sahen. Wir verdienten unser Geld, genug, um ein ordentliches und angenehmes Leben zu führen. Harry und Sally wohnten mit Walter an einer schönen Straße, die an der ruhigen Seite von Ealing Common entlangführte. Ihr geräumiges edwardianisches Haus war ungewöhnlicherweise niemals in einzelne Räume unterteilt worden. Sie erfreuten sich eines schmucken und ausgedehnten Gartens sowie dreier Gästezimmer auf der zweiten Etage, die vor meiner Ankunft mit Rain kaum genutzt worden waren. Man gab uns damals nie das Gefühl, als wären wir im Weg. Ich bin kein schlechter Koch und konnte mich im Haushalt nützlich machen, einkaufen und oft das Abendessen zubereiten. Harry arbeitete oft an den Abenden, gab Konzerte und war manchmal tagelang abwesend. Sally schien meine Gesellschaft ehrlich zu genießen und nicht nur zu tolerieren. Sie war eine erfolgreiche Malerin moderner Reitszenen und besuchte oft Pferderennen und populäre Veranstaltungen wie das Grand National. Dank der Tatsache, dass ich mit Kunst handelte, hatten wir eine gemeinsame Ebene.
Harry und Sally stellten ihre Pferde auf einem großen Gestüt in Harefield unter, einem Dorf im grünen Gürtel von Middlesex, ungefähr 35 Autominuten von Ealing entfernt. Harefields schlichte Hauptstraße schmückten einige Antiquitätenhändler und eine Post, und das Dorf war von einem recht flachen Waldgebiet sowie Feldern umgeben, perfekt für Ausritte und Springübungen. Rain wurde schnell eine begeisterte Reiterin, trotz Walters Zögern, sich daran zu beteiligen. Harry und Sally ließen sich hingegen als Experten beschreiben. Obwohl sie nicht an Wettkämpfen teilnahmen, besuchten sie mit Begeisterung alle Gymkhanas, also die Geschicklichkeitswettbewerbe und Veranstaltungen mit Dressurreiten in der Gegend. Ohne die Leidenschaft für Pferde und das Reiten, dieses Feuer und die intensive Erschöpfung, die seine Mutter nach einem Galopp verspürte, hätte Walter niemals das Licht der Welt erblickt. Sally verriet mir, dass sie und Harry sich nur nach einem Galopp lieben könnten.
In dieser Welt der gehobenen Mittelschicht, die sich zwischen der Stadt und dem Land bewegte, der Kunst, Musik und den üppigen Weiden, bereiteten Harry und Sally mir und Rain ein verhältnismäßig glückliches Leben. Ein Unterschied im Erziehungsstil machte sich allerdings während unserer Zeit im Haushalt der Watts unangenehm bemerkbar. Was die Beschäftigungen anbelangte, ließen sich Walter und ich von unserer Intuition lenken, während Harry, Sally und Rain glaubten, dass nur langes und intensives Üben zum Erfolg führte.
Mir war klar, dass Sally ohne ihre konservative Ausbildung in den schönen Künsten niemals so eine exzellente Zeichnerin geworden wäre. Bevor sie ihr erstes Bild im Alter von 31 Jahren profitabel verkaufte, hatte sie eine wahre Massenproduktion von 500 Gemälden und Zeichnungen angehäuft. Ihr Stil verfeinerte und perfektionierte sich mit der Zeit und wurde immer besser. Sally hörte niemals auf zu üben: Sie fertigte regelmäßig Skizzen an, nahm Stunden bei anderen Malern, holte Ratschläge ein und analysierte die Arbeiten der großen Meister der Pferdemalerei, die ihr vorangegangen oder zeitgenössische Konkurrenten waren.
Was Harry anbelangte – er übte fast ununterbrochen auf seiner großen Heimorgel. Es war ein altes Modell mit drei Tastaturen. Oft übte er mit Kopfhörern bis spät in die Nacht. Man hatte den Eindruck, als würde er mit dem Instrument verschmelzen. Legte man ihm Stücke für Orgel vor die Nase, konnte er sie beinahe alle spielen. Sein Notenlesen geschah unbewusst und war perfekt. Seine Auftritte wurden regelmäßig mit höchstem Lob bedacht, denn er verfügte über die Fähigkeit, die allseits bekannten Orgelstücke mit Gefühl zu neuem Leben zu erwecken.
Rain, die so oft ritt, wie sie nur konnte, und das Springreiten wie ein Champion absolvierte, wollte Schriftstellerin werden. Sie las ständig, schrieb aber auch selbst Storys und Gedichte. Schon bald verfasste sie beinahe fünfzig Prozent des vom Harefield-Equestrian-Zentrum monatlich publizierten Reitermagazins.
Ich schwamm natürlich gegen den Strom. Die von mir bevorzugten Bilder stammten meist von Laien. Meine Lieblingssongs kamen von den Abtrünnigen der ernsthaften Musik. Und so machte ich Walter mit viel wildem Jazz und primitivem Folk bekannt wie auch mit den unkonventionellen modernen Orchester-Komponisten. Er schien meinem Vorbild zu folgen: Ohne regulären Unterricht lernte er Mundharmonika, Klavier und Gitarre. Er übte seinem Instinkt folgend, spielte, was er hören wollte, oder versuchte, das zu spielen, was ihm am meisten Spaß machte. In musikalischer Hinsicht konnte Harry Walter nicht unterstützen, denn seine Welt war zu konservativ und traditionell. Sally hingegen machte ihm Komplimente, wenn sie etwas von Walter hörte, was ihr gefiel, doch auch sie war einst dem akademischen Pfad gefolgt und wünschte sich, dass Walter mit einem ausgebildeten Musiklehrer arbeitete, statt mit mir abzuhängen und sich meine alten Vinylscheiben reinzuziehen, von Fats Waller, Louis Armstrong, Sun Ra, John Fahey, Bert Jansch, Davey Graham, Archie Shepp und Stockhausen.
Wir zeigten uns alle angenehm überrascht, als Walter sich plötzlich für den vernachlässigten Garten des Hauses in Ealing interessierte. Er begann, darin zu arbeiten, beinahe intuitiv, aber auch geschickt, und kreierte so etwas wie den Anschein von Ordnung und stilvoller Würde. Zwangsläufig zogen ihn die Vorträge und Führungen in den nahe gelegenen Kew Gardens an, und nach seinem GCSE-Abschluss, einer Art mittleren Reife, schrieb er sich als Student bei der Royal Agricultural University nahe Cirencester ein. Harrys Schwester und zugleich Walters Lieblingstante Harriet lebte im nicht weit entfernten Tetbury, wodurch sich der Ort als perfekt erwies. Walter studierte zwei Jahre und bestand die Abschlussprüfung mit Auszeichnung.
Zu Harrys und Sallys Leidwesen stieg er dann in Crow Williams Band ein. Damals hatte Crow sich schon im Dingwalls etabliert, doch er akzeptierte die Tatsache, dass Walters Charisma und Talent die Gruppe nach vorn bringen würde. Crow wollte nicht als Frontmann auftreten und benannte die neu ausgerichtete Formation in „Walter and His Famous Stand“ um.
Während ich im Haus der Watts wohnte, wurde ich eine Zeitlang aus der Bahn geworfen. Mit dem Heroinkonsum aufzuhören zählt nicht zu den schwierigsten Herausforderungen, zumindest nicht, was mich anbelangt. Schwierig ist der Umgang mit dem bedrängenden kreativen Impuls.
Ich erzählte bereits, dass ich den Kids von den außergewöhnlichen Bildern berichtete, die ich sehen konnte, doch nun tauchten sie unwillkürlich in meinem täglichen Leben auf. Eines Tages, ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wann das war, entschloss ich mich, davon runterzukommen. Da erst erkannte ich, warum so viele Süchtige nicht clean bleiben. Es sind nicht das Elend und die Qualen des Entzugs, die dich dazu antreiben, wieder draufzukommen, es sind die enorme Last und Tragweite des Gefühls, nur ein ganz normaler Mensch zu sein, der den Alltag durchsteht. Die Visionen am Kopfende des Bettes, die Pamela so irritierten, begannen nun, alles zu „überschwemmen“, was ich intensiv betrachtete. In jeder Holzmaserung erkannte ich Gesichter verschiedener göttlicher Inkarnationen, von Heilsverkündern und anderen himmlischen Botschaftern. Mich beschlich das Gefühl, als gäben sie mir Hinweise, Signale und Zeichen, dass ich mich auf dem richtigen Pfad befände, dass ich in Kontakt mit einem spirituellen Mechanismus stünde, der meine Seele befreite. Diese „empfangenen“ Bilder stellten für mich die Basis eines neuen Codes dar. Als die Monate ins Land zogen, steigerte sich meine Besessenheit. Ich veränderte mich, sah dieselben seligsprechenden oder schreienden Gesichter im Muster des Linoleums am Boden des Wartezimmers meines Arztes, in den Wolken am Himmel, im vom Feuer aufsteigenden Rauch oder in den Kräuselungen von fließendem Wasser.
Ich würde am liebsten den Versuch unternehmen, das, was danach geschah, zu erklären, wie ich nämlich meinen Weg zur geistigen Gesundung fand, aber das ist wirklich und wahrhaftig eine andere Geschichte. Auf eine bestimmte Art halfen mir Walter und Rain, obwohl sie noch kleine Kinder waren. Wie ich schon sagte, die beiden hörten mir zu. Ich machte mir Sorgen, sie möglicherweise verängstigt, in ihnen den schrecklichen Samen der Furcht eingepflanzt zu haben – das, was mit der Psyche geschieht, wenn sie zu viel Stress ausgesetzt wird, einem Trauma und einer rotblonden-verfickten-Nympho-Illoyalen. In meinem Fall „rutschte“ ich jedenfalls wieder in die Drogen ab, wie Süchtige das bezeichnen.
Sogar jetzt, wenn ich über diese Zeit schreibe, kehrt meine Wut zurück. Diese Kids haben mir geholfen. Meine eigene Geschichte ist mit der Walters eng verknüpft.
Belassen wir es dabei, denn nach einer Weile ging es mir wieder gut. Im Sommer 1995 war ich clean. Als Folge des Gesehenen und Durchlittenen hielt ich nach den Abweichungen und Anomalien in der Kunst Ausschau, den Verzerrungen und den Albträumen. Wäre ich ein Maler wie Munch, Van Gogh oder Dalí gewesen, hätten meine Erfahrungen und Visionen mein Leben bereichert. Aber ich bin kein Künstler und sah dennoch Geister. Ich erkannte eine neue Sprache in allen Aspekten der Natur, die zu mir vordrang und Gut und Böse aufzeigte sowie alle Nuancen und Schattierungen zwischen diesen Polen. Das Beste war jedoch, dass ich kurz danach die Outsiders entdeckte, die Artistes Bruts und am Ende das Gefühl hatte, alles sei vorherbestimmt gewesen.