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Exkurs zur Heilpädagogik

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In der Heilpädagogik zeigt sich die Umsetzung der Theorie in die Praxis komplizierter, als man denkt. So verlangt die heilpädagogische Theorie deutlich nach Mitbeteiligung des zu unterstützenden Menschen. Was soll aber die heilpädagogisch tätige Fachperson machen, wenn sie z. B. mit einer Verweigerung des Klienten bei einem unumgänglichen Arztbesuch konfrontiert wird? Sie ist doch dafür verantwortlich, dass die ärztliche Behandlung stattfindet!

Hier beginnt das Handeln persönlich zu sein. Die Heilpädagogik liefert zwar als eine handlungsorientierte Wissenschaft wichtige Erkenntnisse für das Tun. Allerdings entscheidet über die Art der Aufgabenerfüllung jede heilpädagogisch tätige Fachperson eigenverantwortlich selbst. Sie befindet sich bei dieser Entscheidung an einer wichtigen Grenze. Ausgehend davon, wie sie sich selbst und das Gegenüber wahrnimmt und was ihr persönlich wichtig ist, setzt sie entsprechende Vorgehensweisen ein, um das zu erfüllen, wofür sie bezahlt wird. Zur Verfügung stehen zwei Alternativen:

Die Aufgaben kann man sozusagen an dem zu pflegenden Menschen erledigen. Das bedeutet, nach folgendem Grundsatz zu handeln: »Das und jenes muss gemacht werden (bzw. darf nicht passieren). Dafür bin ich verantwortlich, und deshalb wird es so erledigt, wie ich es für richtig halte. Du besitzt weder den erforderlichen Durchblick noch die Fähigkeiten dazu, und deshalb sollst du alles so machen, wie ich es sage!« Diese Vorgehensweise ist Ausdruck einer Einstellung, die primär auf die Erfüllung von Aufgaben bezogen ist.

Die Aufgaben kann man jedoch auch mit Berücksichtigung des Gegenübers erledigen. Dies bedeutet, nach folgendem Grundsatz zu handeln: »Das und jenes muss gemacht werden (bzw. darf nicht passieren). Ich bin dafür verantwortlich, nur ist es ohne deine Mitwirkung schwierig zu schaffen. Wie geht es dir damit und wie können wir das umsetzen? Was ist dir wichtig, was könnte es dir erleichtern, was darf ich übernehmen?« Diese Vorgehensweise ist Ausdruck einer personzentrierten Einstellung dem zu unterstützenden Menschen gegenüber.

Die zweite Vorgehensweise ist eine personzentrierte Art und sie ist schon per se heilpädagogisch relevant: Die Fachperson respektiert die Menschenwürde des zu unterstützenden Menschen (anders gesagt: Sie hält ihn für gleichwürdig mit jedem anderen Menschen, also auch mit sich selbst), ermöglicht ihm eine seinen Möglichkeiten angemessene Beteiligung am Geschehen und trägt somit zum Erhalt bzw. zur Entwicklung und Stabilisierung seines Personseins bei.

Diese Behauptung wird im weiteren Text nicht nur durch Darstellung und Erörterung von Grundlagen und Zusammenhängen der personzentrierten Arbeitsweise untermauert. Denn die heilpädagogische Unterstützung ist – wie uns die Theorie lehrt – per se schon am Gegenüber orientiert. Es geht nicht darum, ein bestimmtes »normgerechtes Produkt« herzustellen. Die heilpädagogische Unterstützung zielt also nicht auf eine »Reparatur« von nicht bzw. nicht richtig funktionierenden bio-psycho-sozialen Teilbereichen bei Kindern, Heranwachsenden bzw. erwachsenen Menschen, um sie an eine gesellschaftlich geläufige (Erwartungs-)Norm anzupassen.

Im Gegenteil – wer heilpädagogisch tätig ist, leistet nicht mehr und nicht weniger als einen persönlich-mitmenschlichen und fachkompetenten Beistand, der zum Zwecke des Aushaltens von Unveränderbarem, der Überwindung des Beeinträchtigenden und der Entfaltung des Potentiellen erbracht wird. In diesem Selbstverständnis ist auch die Bezeichnung »heil« begründet: Dem zu unterstützenden Menschen soll weder eine »heile« Welt vorgegaukelt noch soll er von seinen organischen oder sonstigen Störungen »geheilt« (gesund gemacht) werden.

Diese Art des fachlich-mitmenschlichen Beistands trägt dazu bei, die im Kontext der »normwidrigen« Existenzeigenart entstandenen psychosozialen und gesellschaftlichen Beeinträchtigungen zu überwinden, sie auszugeichen, loszuwerden, um weniger belastet und inmitten der Gesellschaft das Alltagsleben gestalten zu können. Die heilpädagogische Unterstützung wirkt also heil-bringend im Sinne einiger etymologischer Bedeutungen des Substantivs Heil, wie z. B. »etwas, was jemandem das ersehnte Gute bringt; jemandes Wohlergehen; Glückgeborgen«, bzw. des Adjektivs »heil«, wie z. B. »gerettet, vollständig, ganz« (Duden 2019).

Nicht wenigen Interessenten für eine berufliche Qualifizierung in Heilpädagogik scheint (zunächst) dieses Selbstverständnis unbekannt. Sie fangen die Ausbildung mit der Vorstellung an, einen Heilberuf im medizinischen Sinne erlernen zu wollen. Folglich sind sie bestrebt, den persönlichen »methodischen Werkzeugkoffer« mit wirksamen therapeutischen »Instrumenten« zu füllen.

Mit der besseren Orientierung in Theorie und Praxis während der Ausbildung hinsichtlich der Quintessenz heilpädagogischer Unterstützung verliert dieser »Werkzeugkoffer« nach und nach seine anfängliche Bedeutung und viele der angehenden Fachleute fangen an, sich in ursprünglicher Bedeutung des Wortes als Therapeuten zu verstehen: Im antiken Griechenland wurde als therapeia das Dienen, der Dienst, die Pflege bezeichnet. Demnach waren die therapeutes Diener und Pfleger (vgl. Dudenredaktion 2013).

Es geht selbstverständlich nicht darum, dass Heilpädagogen und Heilpädagoginnen als eine Art »Fachdiener« für die zu unterstützenden Menschen tätig sein sollten. Das therapeia-Dienen besteht darin, das Fach- und Know-how-Wissen sowie die berufliche Mitmenschlichkeit der o. g. heil-bringenden »Entbeeinträchtigung« von dessen Lebenslage begründet, gekonnt und reflektiert zu Dienst zu stellen.

Über heilpädagogisch relevantes Fach- und Know-how-Wissen existiert eine ganze Menge von Publikationen. Wie oben erwähnt, lässt sich die Personzentriertheit ihrem Wesen nach eigentlich als eine theoretisch untermauerte und methodisch ausgestaltete »berufliche Mitmenschlichkeit« betrachten. Diese (zugegebenermaßen) unpräzise Bezeichnung wird in der Fachliteratur kaum verwendet, obwohl sie die Quintessenz des personzentrierten Umgangs mit dem zu unterstützenden Menschen ziemlich zutreffend benennt, vermutlich, weil sie im Allgemeinen als mehr oder weniger genuiner Bestandteil helfender Haltung betrachtet wird, die bei den Heilpädagogen und Heilpädagoginnen (fast) naturgemäß vorhanden ist. Dementsprechend wurde sie lange Zeit nur am Rande erwähnt und nicht präzisiert.

Die Personzentriertheit hängt von der jeweiligen Einstellung der heilpädagogisch tätigen Fachperson gegenüber dem zu unterstützenden Menschen ab. Die Bezeichnung »Einstellung gegenüber …« hängt vor allem mit dem Menschenbild1 zusammen, das in der Heilpädagogik als handlungsleitender Hintergrund betrachtet wird. Neben der christlich verankerten Philosophie und Ethik spielt auch die psychologische Sicht auf den Menschen eine wichtige Rolle. Wenn es um die Personzentriertheit geht, ist das Menschenbild der humanistischen Psychologie von grundlegender Bedeutung. In ihrer Auffassung ist jeder Mensch

prinzipiell fähig, sein Tun konstruktiv auszurichten,

bestrebt, sein Leben selbst zu bestimmen (Autonomie), ihm Sinn und Ziel zu geben,

eine ganzheitliche, untrennbare Einheit (Körper–Seele–Geist),

ein soziales Wesen und folglich auf seine sozialen Bezüge existentiell angewiesen.

Wer dieses Menschenbild verinnerlicht, sieht sein Gegenüber aus dem Blickwinkel seiner Möglichkeiten und Potentiale und lässt sich von den vorhandenen organischen oder Verhaltensmerkmalen nicht blenden/irreleiten. Das ist die Voraussetzung für eine Vorgehensweise bei der Aufgabenerfüllung im Berufsalltag, die den zu unterstützenden Menschen als Person wahr- und ernst nimmt, ihn miteinbezieht und am Geschehen teilhaben lässt.

Der Schlüssel zu einem positiv wirkenden Handeln liegt demnach primär in einer diesem Menschenbild entsprechenden Haltung, von der aus die Heilpädagoginnen und Heilpädagogen dem zu unterstützenden Menschen wohlwollend, mit Respekt und mit echtem Interesse an seiner Person (also mitmenschlich) begegnen. Darauf wird hier später noch genauer eingegangen.

Der Autor selbst hatte als Fachperson, Hochschullehrer und Wissenschaftler das Privileg, Ausbildungen in mehreren Ansätzen der Psychotherapie, psychologischer Beratung und Pädagogik zu absolvieren und mit ihnen in der Anwendungspraxis der Erziehungs- und Behindertenhilfe Erfahrung zu machen.

Die persönlichen Erkenntnisse aus der Konfrontation mit den Möglichkeiten und Grenzen der Nützlichkeit dieser Ansätze für die Unterstützung von Menschen in beeinträchtigten Lebenslagen flossen dann in die Lehre bei der Ausbildung von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen sowie in die Weiterbildungsworkshops und unzählige Teamberatungen/Fallbesprechungen bei der Unterstützung von heilpädagogisch tätigen Fachpersonen ein.

Das Anliegen dabei war es, die Sicht-, Denk- und Handlungsweise der Studierenden wie auch der heilpädagogisch tätigen Kolleginnen und Kollegen gegenüber von andersseienden Menschen um relevantes Fachwissen und Know-how, aber auch um Selbsterkenntnis im Kontext der eigenen Art, ein beruflicher Mitmensch zu sein, zu erweitern. Das ermöglichte ihnen, die subjektive Wirklichkeit des Gegenübers zu »erforschen«/einzuschätzen/begreifen. Denn vor allem von dieser Orientierung aus kann man auf das Gegenüber als »beruflicher Mitmensch« eingehen.

Das ist die »Strategie« der Personzentriertheit (wenn man überhaupt von einer Strategie sprechen kann): zuerst begreifen/verstehen/orientiert sein, dann handeln.

Soviel zu den Motiven im Hintergrund der vorliegenden Ausführungen. Es handelt sich nicht nur um die Darstellung von theoretisch-methodischem Fachwissen, sondern auch um subjektiv gefärbte Erfahrungen und Überlegungen des Autors zur Frage »Was kann dem Handeln von heilpädagogisch tätigen Fachpersonen die Kraft und die Note einer positiven Wirksamkeit verleihen?«

Die Darstellungen werden immer wieder mit Exkursen zu relevanten Situationen, Aussagen, Feststellungen aus Theorie und Praxis diverser Felder sozialer Arbeit veranschaulicht. Die Heilpädagogik, das heilpädagogische Handeln und die heilpädagogisch tätigen Fachpersonen weisen dabei eine besondere Relevanz auf. Man kann sich verständlicherweise fragen, wieso. Wozu soll das gut sein? Die Antwort: Weil in der heilpädagogischen Berufswelt solche erschwerenden Umstände und Beeinträchtigungen von Kommunikation, Interaktion, Entwicklung, Beziehung und Prozessen wirken, die in keinem anderen Beruf aus dem bunten Pool der Sozialen Arbeit vorzufinden sind.

Das bedeutet allerdings nicht etwa, dass Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Lehrer, Erzieher, Altenpfleger und alle weiteren Fachpersonen, die in anderen Praxisfeldern (also außerhalb der Behindertenhilfe) mit Menschen unterstützend arbeiten, ein leichtes Berufsleben haben. Selbstverständlich werden auch sie mit belastenden Gegebenheiten konfrontiert. Nur ist deren Häufigkeit und Intensität i. d. R. nicht so hoch und die Chancen auf eine (zumindest kleine) positive Veränderung der Lage sind größer.

Ob da oder dort, ist eigentlich egal, weil die personzentrierte Arbeitsweise die genuin menschlichen Bedürfnisse anspricht und folglich bei allen Menschen positiv wirken kann. Wohlbemerkt – kann, aber nicht muss, denn auch ihre Wirkung hat Grenzen. Sich mit dieser Tatsache abzufinden ist die Aufgabe aller, die auf personzentriertes Auftreten im Berufsalltag Wert legen.

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich folgende inhaltliche Struktur des Buches:

In Kapitel 1 wird der Frage nachgegangen, was unter Personzentriertheit und Personzentriertem Arbeiten zu verstehen ist (Theoriewissen).

In Kapitel 2 wird erörtert, wie das Personzentrierte Arbeiten praktisch geht (Know-how-Wissen). Hier kann die Leserin/der Leser auch die Orientierung in eigener Personzentriertheit gewinnen (Selbstorientierung als Grundlage der bewussten Selbststeuerung).

In Kapitel 3 folgen dann Anregungen zur Entfaltung professioneller Personzentriertheit auf dem Weg zum durchaus erstrebenswerten Ziel – ein personzentrierter »Mitmensch von Beruf« zu werden.

Die Leserinnen und Leser sind eingeladen, sozusagen um das Thema herum mitzugehen und es von diesen Blickwinkeln zu betrachten – in der Hoffnung, dass diese »Wanderung« ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit den Erfordernissen der personzentrierten Arbeitsweise in ihrem Berufsalltag dienlich sein könnte.

Bochum, im Dezember 2019

Prof. Dr. Petr Ondracek

1 Menschenbilder sind allgemeine Vorstellungen vom Sinn des menschlichen Daseins, von dem Wert und von bestimmten Eigenschaften des Menschen.

Personzentriertes Arbeiten in sozialen Berufen

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