Читать книгу Meine Inselbuchhandlung - Petra Dittrich - Страница 4
ОглавлениеJedem Anfang wohnt ein Zauber inne … und ein klein wenig Angst
Ende Februar 2019. Nun ist es so weit. Ich stehe auf dem Gingster Marktplatz, es ist kalt, ein schneidender Wind fegt über die parkenden Autos hinweg. Wie immer um diese Jahreszeit sind die Einheimischen unter sich. Nur ab und zu verirren sich ein paar Touristen in den Ort. Ich schaue mich um, blicke hinauf zum wuchtigen Turm der St.-Jakobi-Kirche – bewusster als sonst, denn mit einem Mal habe ich Zeit, mir die geschweifte Turmhaube genauer anzusehen. Ich bin keine eifrige Kirchgängerin, doch auch dieser Bau gehört zu meinem Leben. Und dieses Leben nimmt nun eine Wendung, die ich mir nie vorstellen konnte … und wollte.
Zum letzten Mal drehe ich den Schlüssel im Schloss um und drücke die Türklinke zur Kontrolle. Fast zehn Jahre lang war das Gebäude, das ich nun endgültig verlasse, mein Reich, habe ich mit allem Herzblut, das mir zur Verfügung steht, hier einen Buchladen aufgebaut und versucht, Kunden aus nah und fern glücklich zu machen. Kunden, aus denen Stammkunden wurden, oft Freunde.
Mein Blick schweift die Fassade hinauf, zum ersten Stock. Dort oben haben Beate und ich zusammengewohnt, mit unseren Katzen, eine Treppe nur von unseren Büchern entfernt. Und von unserem Garten, den wir liebevoll zu einer grünen Oase, zu einem wahren Schmuckstück gemacht haben.
Hier, in Gingst, Markt 5, ist mein Traum wahr geworden, und hier begreife ich nun endgültig, dass kein Traum ewig währt. Ich weine – was niemanden überraschen dürfte, der mich kennt. Tränen gehören zu meinem Leben. Sie kommen schnell, aus Trauer, Rührung, Empörung, Freude oder Wut. Doch wer mich näher kennt, weiß, dass ich kämpfen kann, dass ich nicht schnell aufgebe. Mich unterbuttern – das soll einer versuchen! Ich balle eine Faust und gewinne langsam meine Zuversicht zurück. Wir haben Glück gehabt. Es wird weitergehen, gleich gegenüber am Gingster Marktplatz, unter der Hausnummer 6.
Am 28. Februar 2019 lief unser Mietvertrag aus. Der Streit mit unserem Vermieter hatte Formen angenommen, die für mich unerträglich waren. Am Ende verkehrten wir nur noch über Anwälte. Den Ärger – und die vielen Tränen – werde ich nie vergessen. Im Dezember 2018 schloss der Geschäftsbetrieb an der alten Adresse offiziell. Zum Abschied hatten wir unsere Kunden eingeladen – um es sich noch einmal in den alten Räumen bequem und uns den Umzug leichter zu machen. Im wahrsten Sinn des Wortes: Denn jedes Buch, das an diesem Tag gekauft wurde, musste nicht auf die andere Platzseite gebracht werden.
Das Ergebnis war überwältigend: Fünfhundert Kundinnen und Kunden wollten die letzten Stunden mit uns teilen. Stapelweise schleppten sie die – nicht heruntergesetzten! – Bücher aus dem Laden und bescherten mir den umsatzstärksten Tag in unserer Geschichte. Unser Motto lautete: »Was ihr heute kauft, brauchen wir nicht rüberzutragen.« Die Kunden kamen mit großen Taschen, um alle eingekauften Bücher zu verstauen, und sie brachten uns Blumen und Geschenke.
Dass so viele kamen, hat uns in unserem Willen bestärkt, weiterzumachen und uns auch über die Bauzeit »getragen«. Denn die folgenden Monate waren ziemlich stressig, aber die Erinnerung an diesen letzten Tag hat uns immer wieder Kraft gegeben, vor allem, wenn wir meinten, keine mehr zu haben.
Den Januar über räumten wir den Laden leer – ein schmerzhafter Prozess. Da stand ich im Laden, ganz allein und packte die Kartons, wütend und traurig zugleich. Die Fenster klebte ich zu – ich wollte dabei nicht beobachtet werden, denn vielleicht war das ja die Niederlage meines Lebens. Würde ich noch einmal die Kraft aufbringen, ein Geschäft nach meinem Geschmack aufzubauen? Würden die Kunden mir die Treue halten? Es fiel mir schwer, Stück für Stück unser Reich aufzugeben, abzubauen, was wir mit so viel Hingabe aufgebaut hatten.
Ich stehe also auf dem Gingster Marktplatz und wische die Tränen beiseite. Meinen Buchladen gibt es nicht mehr. Und gleichzeitig spüre ich, wie meine Energie wiederkehrt, und da weiß ich es plötzlich: Mein neuer Buchladen wird schön werden, vielleicht schöner als der alte, mit neuem Zauber versehen. Ich werde glücklich sein und diesem Einschnitt in meinem Leben alles Gute abgewinnen. DER BUCHLADEN GINGST, MARKT 6, 18569 GINGST/RÜGEN – das ist die neue Anschrift meines kleinen Literaturhauses.
Zuerst hatte ich überhaupt keine Ahnung, wie der neue Laden aussehen sollte. Er war ausgefliest bis unters Dach, ein eher abweisender Anblick. Mit einem gemütlichen Buchparadies hatte das nicht die geringste Ähnlichkeit. Oft saßen Beate und ich schweigend da und überlegten, was sich mit diesen Räumen anfangen ließe. Der Standort war perfekt, keine Frage, seine Inneneinrichtung aber noch lange nicht.
Als wir die Fliesen entfernt und den Holzfußboden verlegt hatten, da sprudelten die Ideen. Mit einem Mal konnten wir uns vor Einfällen nicht retten. »Beate, dort hinten in der Ecke …«, »Und dann stellen wir genau da, Petra, einen Sessel hin …« – so ging es hin und her, wir lachten wieder, sahen alles schon vor uns und spürten, dass wir nicht die Einzigen wären, die sich darin wohlfühlen würden. Ein befreundeter Maler, Otto Sperlich, schenkte uns ein Bild, das er eigens dafür anfertigte: eine Adaption von Carl Spitzwegs Der Bücherwurm. Es hängt nun über einer kleinen Treppe, die ins Nichts führt.
Ich durfte weiterträumen, ja, ich durfte weiterträumen!