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KAPITEL EINS
Оглавлениеin dem Kommissar Otto Kappe an einer Razzia teilnimmt und Probleme bekommt
DIE ERSTEN GRÜNEN SPITZEN der Krokusse und Tulpen hatten schon im Januar 1956 die Hoffnung auf Frühling genährt. Doch dann waren die Temperaturen in den Keller gerauscht. Anfang Februar herrschte sibirische Kälte in Berlin. Im Urbanhafen saßen Schiffe im Eis fest. Auf dem Landwehrkanal verdichteten sich die Eisschollen zu einer festen Decke, krachten aufeinander oder rieben sich knisternd aneinander. Und bei der Grünen Woche kämpfte das Grün gegen arktische Verhältnisse.
Das Haus am Fraenkelufer lag zwischen Urbanhafen und Admiralsbrücke. Dort war um 6.30 Uhr morgens noch alles ruhig. Hinter den Fenstern herrschte Dunkelheit. Die Sonne würde erst in knapp einer Stunde aufgehen. Vermummte Männer huschten wie Geister durch die frostklirrende Kreuzberger Nacht und nahmen die vereinbarten Positionen ein.
Kriminalkommissar Otto Kappe nickte zufrieden, obwohl er trotz der russischen Pelzmütze mit den Ohrenklappen, die ihm seine Frau Gertrud aufgenötigt hatte, erbärmlich fror. Lippen und Nase fühlten sich bereits taub an. Nur ein Gedanke wärmte ihn ein wenig: Heute würden sie den Laden plattmachen.
Sie hatten seit Monaten von einer Fälscherwerkstatt gewusst – aber nicht, wo sie lag. Dort wurden falsche BRD-Ausweise, West-Führerscheine, und, was die Polizei am meisten wurmte, West-Berliner Polizeiausweise hergestellt. Die Leute verstanden ihr Handwerk, wie die Ermittler zähneknirschend eingestehen mussten. Die Fälschungen sahen täuschend echt aus.
Dann hatten sie zu nachtschlafender Zeit einen anonymen Tipp bekommen, dass sich die Fälscher im Erdgeschoss des Hauses am Fraenkelufer aufhielten. Dass drei Schüsse gefallen seien und es womöglich einen Toten gebe. Der KkvD, der Kriminalkommissar vom Dauerdienst, hatte sofort alle Kollegen zusammengetrommelt, die auf die Schnelle erreichbar gewesen waren, inklusive des Pressesprechers. Denn das versprach eine Aktion zu werden, für die sich die Presse interessierte. Den Dauerdienst gab es seit 1954, und er hatte sich in den ersten beiden Jahren bereits bewährt.
Kriminalkommissar Otto Kappe und sein Kollege Jürgen Rückert, zuständig für die Schüsse und den Toten, waren direkt vom Schreibtisch herbeigeeilt. Sie hatten die bisher relativ ruhige Nachtschicht genutzt, um allerlei Papierkram zu erledigen. In den letzten Jahren hatte die Flut der Formulare und der von oben angeordneten Berichte explosionsartig zugenommen. Kappe und Rückert waren unter den Ersten gewesen, die von dem Hinweis erfahren hatten, und sofort zusammen mit Kollegen von den Inspektionen B I (Betrug) sowie B II (Schwindel, Falschspiel, Glücksspiel und Rauschgift) ausgerückt. Diese würden sich mit den Fälschern befassen und waren ebenfalls nächtens bei der Arbeit gewesen, weil sie mit Hochdruck gegen je einen leitenden Beamten der Berliner Finanzverwaltung und des Landesausgleichsamtes ermittelten. Der Vorwurf: Untreue, Betrug und Bestechlichkeit. Die beiden feinen Herren sollten persönlichen Bekannten sogenannte Aufbaudarlehen zugeschanzt haben. Aber nun hatte der Moabiter Haftrichter einen der beiden tatsächlich wieder laufenlassen. Die Kollegen waren auf 180 und nicht gewillt, diese Entscheidung auf sich beruhen zu lassen. Sie ackerten fast rund um die Uhr.
Für die Abteilungen der Mordkommission in der Friesenstraße machte die Tatsache, dass die Fälscher neben allen anderen Dienstausweisen auch die roten der Kriminalpolizei kopierten, die Angelegenheit zur Ehrensache. Derzeit verwendeten sie zwar meist die Kriminaldienstmarken, die es seit 1953 wieder gab, aber das machte die Angelegenheit auch nicht besser. Welcher Normalbürger vermutete schon eine Fälschung, wenn ihm jemand einen roten Dienstausweis unter die Nase hielt? Und Normalbürger bildeten trotz der alarmierenden Kriminalstatistiken immer noch die Mehrheit in den Westsektoren Berlins.
Otto Kappe kroch die Kälte in alle Glieder, er spürte seine Nasenspitze schon nicht mehr, die erzwungene Ruhe trug ihren Teil dazu bei. Sie mussten sich still verhalten, um nicht in letzter Sekunde noch unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Hoffentlich kam das vereinbarte Zeichen bald, und sie konnten gemeinsam mit den Kollegen von der Schutzpolizei das Haus stürmen und das Fälschernest ausheben. Doch noch war es nicht so weit. Erst mussten sich alle postiert haben, um jeden möglichen Fluchtweg abzuriegeln.
So harrte Kriminalkommissar Otto Kappe wartend in dem eisigen Frost aus, klapperte mit den Zähnen und verfluchte den plötzlichen Kälteeinbruch. Bis zu minus 30 Grad waren angekündigt. Für ihn fühlte es sich jetzt schon an wie minus 50. Um sich abzulenken, dachte er darüber nach, was sie mittlerweile über die Fälscherwerkstatt wussten. Neben «Schmuggelkönig» Henry Liebermann gehörten mindestens noch drei weitere Personen der Fälscherbande an: der 39-jährige Graphiker Hans Brecht, der 53-jährige Buchdrucker Johannes Neyd und ein Unbekannter, der Pole sein sollte.
Liebermann hatten sie geschnappt. Aber die Freude war nur kurz gewesen, denn er hatte geschwiegen wie ein Grab und war kurz darauf aus dem Untersuchungsgefängnis Moabit ausgebrochen. Angeblich lebte er jetzt im Sowjetsektor. Das deutete darauf hin, dass der Staatssicherheitsdienst aus der Zone, kurz SSD, die Finger im Spiel hatte. Deshalb kamen sie wahrscheinlich auch nicht an Liebermann heran. Und obwohl die Fahndung auf Hochtouren lief, schafften es die anderen Fälscher, die Arbeit am Laufen zu halten. Die waren frech wie Bolle. Otto Kappe verstand allerdings noch immer nicht, was den SSD dazu bewogen haben könnte, die Fälscherwerkstatt ausgerechnet in einem Haus in einem der drei Westsektoren einzurichten, wo es in der Zone doch viel sicherer gewesen wäre. Vielleicht war es ihnen einfach zu riskant, die gefälschten Papiere in den Westen zu schmuggeln. Der anonyme Hinweis zum Versteck der Bande hatte jedenfalls glaubwürdig geklungen.
«Die Kollegen sind an ihrem Platz, die Haustür ist offen. Können wir?», flüsterte Jürgen Rückert. Seine Stimme klang zusätzlich gedämpft durch den Wollschal, den er sich bis unter die Augen gezogen hatte.
Otto Kappe vertraute Rückert. Sie kannten einander jetzt schon eine ganze Weile, genauer, seit Rückert nach dem Krieg bei der Mordkommission aufgetaucht war. Otto Kappe erinnerte sich noch gut an ihre erste Begegnung – und an seine Verblüffung: Rückert hatte mangels einer eigenen Unterkunft im Westen in der vorangegangenen Nacht auf dem Schreibtisch genächtigt. «Gestatten, Jürgen Rückert», hatte er gesagt und gegrinst. Dann war er vom Schreibtisch geklettert und hatte sich die zerknitterten Klamotten zurechtgezupft. Rückert hatte aus der Zone rübergemacht. «Der Liebe wegen – und weil ich mit den Kommunisten nichts am Hut habe. Ich bin in der SPD und wollte die Zwangsvereinigung mit der KPD nicht mitmachen. Meine Verlobte wohnt in Siemensstadt, aber sie ist gerade mit ihren Eltern im Harz, deswegen konnte ich bei ihr nicht schlafen», berichtete er.
Komisch, an manche Dinge dachte man lange nicht, und dann fielen sie einem in den unmöglichsten Situationen wieder ein. Inzwischen war Rückert längst verheiratet und Vater.
Der Einsatzleiter nickte ihnen zu. «Wir können.»
Otto Kappe peilte die Lage. «Ich gehe voraus», raunte er seinem Kollegen Rückert zu und zog seine FN-Pistole, Kaliber 7,65, Modell 1910, entworfen von John Moses Browning. FN stand für Fabrique Nationale. Dahinter verbarg sich der belgische Waffenhersteller Fabrique Nationale d’Armes de Guerre. Otto Kappe marschierte los, den anderen nach. Rückert ihm hinterher. Sie schlichen mit der Waffe im Anschlag durch die bereits offene Haustür ins Treppenhaus. Einige Kollegen postierten sich an der Treppe zum ersten Stock.
Der Einsatzleiter klingelte Sturm an der Wohnungstür. Als auch nach dem dritten Versuch niemand öffnete, winkte er den bereits eiligst herbeizitierten Hausmeister heran. Der stand noch immer mit vom Schlaf plissiertem Gesicht in Schlafanzug und Morgenmantel im Hausgang und schlotterte vor sich hin. Auf ein Zeichen hin zückte er seinen großen Schlüsselbund und suchte umständlich einen Schlüssel heraus. Der passte nicht. Er versuchte es mit dem nächsten. Und dann noch einem.
«Nu machen Sie hinne!», flüsterte der Einsatzleiter.
Der Hausmeister nickte und suchte hektisch weiter. Der Schlüsselbund klirrte. In der Wohnung blieb es ruhig. In Otto Kappe machte sich der Verdacht breit, dass sie einer Finte aufgesessen waren. Oder dass, wer auch immer in der Wohnung sein mochte, inzwischen vom Geklingel und Geklapper an der Tür aufgewacht sein musste und längst über alle Berge war, wenn er wirklich Dreck am Stecken hatte.
Erneut ein Fehlversuch. Einer der Männer fluchte. Die Hände des Hausmeisters zitterten. Auch beim fünften Versuch bekam er den Schlüssel nicht ins Schloss. Schließlich aber schaffte er es: Der Schlüssel passte! Alle atmeten erleichtert auf, als die Wohnungstür endlich aufschwang.
Otto Kappe und Rückert gaben sich gegenseitig Deckung, als sie den Flur betraten. Die Kollegen folgten.
Plötzlich hörten sie ein Klappern.
«Hier ist jemand!», brüllte Otto Kappe und rannte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Durchs Küchenfenster, das im böig-scharfen Wind auf und zu schlug, sah Otto eine schwarze, dick vermummte Gestalt in Richtung Admiralsbrücke davoneilen. «Verdammt, warum steht hier niemand unter dem Fenster?» Dann schrie er: «Halt, Polizei! Stehen bleiben!» Und noch einmal: «Stehen bleiben, Polizei! Nehmen Sie die Hände hoch, und bleiben Sie sofort stehen!»
Die Gestalt hielt kurz inne, griff in die Tasche und hastete weiter.
«Stehen bleiben, Hände hoch, lassen Sie die Waffe fallen!», donnerte Otto Kappe, hechtete aus dem Küchenfenster und spurtete hinterher.
Er hörte nicht mehr, wie Kollege Jürgen Rückert sagte: «Hier ist nichts. Keine Druckplatten, kein Papier. Nichts. Die Wohnung ist bis auf die Möbel komplett leer. Auf den ersten Blick wirkt sie, als wäre sie unbewohnt. Keine Photos, keine persönlichen Gegenstände. Der Kohleherd ist allerdings noch lauwarm. Aber schaut mal, kaum noch Glut. Da ist seit gestern Abend nicht mehr nachgelegt worden. Der Kohleeimer ist auch leer. Jemand hat uns aufs Glatteis geführt.»
Rückert blickte sich um. Die Fensterscheiben begannen bereits zu vereisen. In der Küche stand nur das Nötigste. Der Kohleherd, daneben die Spüle. Der Spalt dazwischen war durch ein fünfzig Zentimeter breites grobes Holzbrett abgedeckt, an dem mit Reißzwecken ein nilgrüner löchriger Fetzen Stoff befestigt war. Solche Arrangements hatte Rückert schon öfter gesehen, dahinter befand sich meist der Mülleimer. Auf einem Wandregal über der Spüle standen drei Teller, zwei Unterteller und zwei Tassen sowie vier leere Einmachgläser. Daneben lag Besteck für zwei Personen: Messer, Gabel, Teelöffel. Ein Kochlöffel, ein Schieber, dazu ein Topf und eine Pfanne stapelten sich ebenfalls auf dem Regal. Ein ordentlich gebügeltes Handtuch ergänzte das Stilleben.
Rückert beschloss, sich in den anderen Räumen umzusehen. Er lehnte das Küchenfenster an, damit es in der Wohnung nicht noch kälter wurde. Ganz schließen wollte er es nicht, damit der Kollege Kappe wieder hereinkam.
Im Flur fanden sich nur einige Kleiderhaken an der Wand. Eigentlich waren es nur lange Nägel. An einem hing ein einsamer Kleiderbügel. Die Stube war ähnlich spartanisch eingerichtet. Ein Tisch mit gelacktem Furnier, vier Stühle, an einem war ein Bein gesplittert und mit Paketschnur unbeholfen wieder zusammengebunden worden. Dazu ein Webteppich, der wohl Wohnlichkeit verbreiten sollte, aber kläglich versagte, weil er nicht viel größer als ein Handtuch war.
Im Schlafzimmer fand Rückert ein unbezogenes Bett. Die Matratze sah fleckig und durchgelegen aus. Der Schrank, Kirsche furniert mit dreitürigem Unterschrank auf dünnen Beinen sowie zwei wuchtigen Türen links und rechts, war ursprünglich wohl eher für ein Wohnzimmer gedacht. Rückert versuchte sich an einer der Türen. Sie klemmte. Er fluchte sehr unvornehm.
Da fiel ein Schuss. Dann noch einer und noch einer.
Rückert rannte zurück in die Küche und schaute aus dem Fenster. Die Kollegen schlossen alarmiert zu ihm auf.
Otto Kappe hatte sich neben eine dunkle, reglos daliegende Gestalt gekniet und wedelte wild mit den Armen.
«Verdammt! Ick jeh Hilfe holn!», rief einer der Schutzpolizisten. Kurz darauf konnte Rückert hören, wie er die Wohnungen im Haus durchklingelte, um einen Fernsprechapparat zu finden. Die anderen Kollegen sahen sich noch einmal um und marschierten dann, ebenfalls fluchend, in Richtung Wohnungstür.
Jürgen Rückert nahm sich nicht die Zeit, den offiziellen Weg durchs Treppenhaus zu gehen, sondern kletterte wie vorhin Otto Kappe aus dem Küchenfenster und rannte zu seinem Kollegen.
Otto Kappe schaute zu ihm auf, in seinen Augen stand Fassungslosigkeit. «Warum ist sie nicht stehen geblieben? Warum ist sie bloß nicht stehen geblieben? Und dann hat sie auch noch eine Waffe aus ihrer Tasche geholt. Was hätte ich denn tun sollen, Rückert? Ich hatte doch keine andere Wahl!»
«Sie sagten ‹sie›?»
«Ja, das ist ’ne Frau.»
«Verfluchte Scheiße, auch das noch!» Jürgen Rückert schaute genauer hin. Tatsächlich, da lag eine Frau. Schmal, bleich, mit geschlossenen Augen und ohne Bewusstsein. Sie hat das Gesicht eines Engels, dachte er. Wie alt sie wohl sein mochte? Es war schwer zu sagen, so um die 35 vielleicht. Wegen der dunklen Wollmütze waren ihre Haare nicht zu erkennen. Unter ihrem Kopf breitete sich eine Blutlache aus.
«Wir müssen was tun, sie verblutet uns!», sagte Otto Kappe verzweifelt. Dann zog er seine Jacke aus und legte sie über die Reglose. «Sie erfriert noch. Warum kommt denn niemand?»
«Verdammter Mist!», knurrte Rückert. Er war froh, dass er nicht in der Haut seines Kollegen steckte. Dessen bleiches Gesicht zeigte, wie sehr ihm die Angelegenheit unter die Haut ging. Rückert schaute sich um. «Ich seh keine Waffe», rutschte es ihm heraus.
«Da muss aber eine sein! Ich hab sie doch genau gesehen», stammelte Otto Kappe.
Rückert legte dem Kollegen beruhigend die Hand auf die Schulter. «Ist wahrscheinlich weggeschleudert worden, als die Frau fiel. Wir werden sie schon finden.»
Endlich kam der Sanka. Die Sanitäter luden die Frau ein und rasten unter viel Tatütata mit Blaulicht davon. Otto Kappe schaute dem Gefährt mit unglücklichem Blick nach.
«Wird schon. Wird alles nicht so heiß gegessen wie gekocht», versuchte Rückert den Kollegen zu trösten.
Das schmale Mädchen mit den kurzen Haaren und den Klamotten eines Jungen, das sich in den Spalt zwischen dem Kohleherd und der Spüle gekauert hatte, schob den nilgrünen Vorhang zur Seite, schlich sich ans Fenster und spähte vorsichtig hinaus. Es sah zwei Männer, die dem davonjagenden Saniwagen nachschauten, und hatte alle Mühe, ein entsetztes Wimmern zu unterdrücken.