Читать книгу Kaltfront - Petra Gabriel - Страница 7

KAPITEL ZWEI

Оглавление

in dem Hermann Kappe von seinem Neffen um Hilfe gebeten wird

«HERMANN, nu komm schon, los, raus! Du kannst doch nicht ewig hier herumsitzen!», drängte Klara Kappe den Angetrauten.

«Doch, ich kann, ich bin Rentner», brummte der. «Wieso willst du ausgerechnet heute auf den Wochenmarkt am Rathaus Steglitz? Bei dieser Saukälte!»

«Hermann, es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt bloß falsche Kleidung. Nu komm schon!»

«Hast du denn nicht Radio gehört? Es soll noch kälter werden!»

«In Steglitz gibt es die besten Bücklinge. Du magst doch Bücklinge. Also komm! Und natürlich hab ich Radio gehört. Auf der Eisbahn an der Ecke Innstraße und Sonnenallee herrscht Hochbetrieb, haben sie in den Nachrichten gesagt. Außerdem hat bei Wertheim in der Schloßstraße der Schlussverkauf angefangen. Da gibt es Preisnachlass. Wir müssen uns beeilen, sonst finden wir nichts mehr, weil die guten Sachen alle schon weg sind. Ich brauche dringend neue Handschuhe und du einen Pullover.»

«Im Radio haben sie aber auch gesagt, dass es wegen der Kälte schon den ersten Verkehrstoten gegeben hat», erwiderte Kappe anklagend. «Einen Pensionär.»

«Einen stinkbesoffenen Pensionär. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Er kam aus Charlottenburg, erinnere ich mich nur.»

«Gustav Kuckulei.»

«Wie bitte?»

«Gustav Kuckulei hieß er.»

«Ach so. Jedenfalls könnte er noch leben, wenn er nicht versucht hätte, in besoffenem Zustand die Kantstraße zu überqueren.»

«Und seine Begleiterin wurde schwer verletzt», ergänzte Kappe. «Meine alten Pullover sind doch noch gut. Und die Marktleute sind bestimmt alle daheimgeblieben bei der Kälte da draußen.»

«Glaub ich nicht. Höchstens die mit den Bananen und Apfelsinen oder den Kartoffeln, weil die kälteempfindlich sind. Komm jetzt, du alter Nieselpriem!», sagte Klara betont fröhlich. Doch in ihrer Stimme war ein Unterton, der Kappe klarmachte, dass sie in dieser Angelegenheit nicht mit sich spaßen ließ.

Er versuchte es dennoch und verwies auf den Wetterbericht des Instituts für Meteorologie der Freien Universität im Telegraf. Die Karte mit den Hochs und Tiefs sowie den Isobaren prangte direkt über der Anzeige von Wertheim zum Winterschlussverkauf: Für unsere Stammkunden die richtige Lösung gefunden.

Kappe ignorierte Wertheim. Er las laut vor: «Unverändert liegt das Zentrum des Kälteblocks Xanthos über Nordskandinavien. Dabei rückt jetzt der Kältepol selbst, der ganz Mittel- und Westrussland mit Extremtemperaturen bis unter minus 40 Grad heimsucht, direkt auf Mitteleuropa vor und wird uns heute oder morgen überqueren. Glücklicherweise wird der sibirischen Luft aber über dem schneefreien Boden in der Umgebung Berlins auch einige Wärme zugeführt, so dass hier die Tiefsttemperaturen nicht diesen Grad erreichen werden

«Na siehste!», sagte Klara. «Außerdem scheint draußen die Sonne.»

«Aber hier, hier steht es», fuhr Kappe in einem letzten verzweifelten Versuch fort, den Gang in die Kälte doch noch abzuwenden. «Vorhersage für Berlin und die weitere Umgebung bis Donnerstag früh: Bei anhaltend stark böigem Ost- bis Nordwind noch fortschreitende Frostverschärfung und in der weiteren Umgebung sogar bis minus 25 Grad und selbst Tagestemperaturen trotz Sonnenscheins nicht viel höher als minus 20 Grad. Weitere Aussichten: Auch nach dem jetzt zu erwartenden Höhepunkt der Kältewelle nur geringe Frostveränderung

«Dann sollten wir schnellstens los und einkaufen, ehe es noch kälter wird. Auf dem Wochenmarkt am Rathaus Steglitz gibt es nun mal einfach die Bücklinge, die du am liebsten magst, Kappe.»

Wenn Klara ihn Kappe nannte statt Hermann, war jeder Widerspruch zwecklos. Das wusste er aus langjähriger Eheerfahrung. Und so fanden sich Hermann und Klara Kappe eine Stunde später bei minus 15 Grad auf dem Wochenmarkt am Steglitzer Rathaus wieder, vermummt wie die Teilnehmer einer Polarexpedition.

Die Eierhändlerin war da und fror ebenso erbärmlich wie Kappe, während Klara das alles nichts auszumachen schien. «Dienst am Kunden», erklärte die Eierfrau auf seine knurrige Nachfrage, warum sie diese ungemütliche Situation auf sich nehme. Klara strahlte sie freundlich an und kaufte zehn Eier.

Auch der Knoblauch- und Majoranspezialist war gekommen. Er wärmte seine Hände an einem unter der Markise baumelnden Konservendosen-Holzkohleöfchen. Kappe sah ihm neidvoll zu. Dann hustete er betont laut. Der Kräutermann hatte auch Hustenbonbons. Klara kaufte ihm welche ab und zog Kappe dann vorbei an den Ständen der Rosinen-, Nudel-, Wollsocken- und Bohnerwachsbranche. Der weiße Käse, das Gewürzgurkenwasser, die Sülze, selbst das Salatöl waren gefroren, sah Kappe und tat sich selbst leid. Die Händler standen bibbernd hinter ihren Tischen, teils in Holz-, teils in Filzschuhen, und trösteten sich über die ausbleibende Kundschaft mit heißem Kaffee aus Thermosflaschen hinweg. Der einzige Stand, der gute Geschäfte machte, war der mit den heißen Würstchen und dem Glühwein.

Doch Klara strebte auch daran vorbei zu ihrem Lieblingsfischstand. «Kann ich zwei Bücklinge mit Rogen haben?»

«Welche hätten Se denn gerne, Jnädige?», nuschelte die Fischfrau hinter ihrem Schal hervor.

Klara Kappe schaute sich alle genau an. «Den da. Und den.»

Die Fischfrau nickte, legte die Fische auf Zeitungspapier, schlug sie aber noch nicht ein, sondern streckte sie Klara entgegen. «Rogen in Hülle und Fülle. Wolln Se mal drückn?»

Klaras prüfender Daumendruck scheiterte am Glatteis auf den Bücklingsbäuchen, die Finger rutschten ab. Sie hatte ein Einsehen. «Ich nehm sie», erklärte sie. Sodann sagte sie in Richtung ihres Ehemanns: «Lass uns heimgehen!»

Kappe war sehr erleichtert und erinnerte sein Eheweib lieber nicht daran, dass sie eigentlich noch zu Wertheim gewollt hatte. Er hasste die Drängelei und das Einkaufen in Kleidergeschäften, erst recht, wenn er so dick vermummelt wie jetzt in die Wärme eines Ladens sollte. Im Schlussverkauf an den Wühltischen war es immer besonders schlimm.

Seine Erleichterung währte nicht lange. Als sie vor dem Haus an der Wartburgstraße ankamen, in dem ihre Wohnung lag, trafen sie Otto vor der Haustür an.

«Was machst du denn hier?», nuschelte Kappe mit halberfrorenen Lippen und schaute seinen Neffen erstaunt an.

«Ich brauch deine Hilfe, Onkel Hermann. Dringend!»

«So, so», meinte Hermann Kappe.

«Das können wir bereden, wenn wir in der Wohnung sind», fuhr Klara dazwischen. «Im Warmen.»

«Ach nee, guck an, jetzt frierst du auch!», konstatierte Kappe nicht ohne eine gewisse Befriedigung. «Dann lass uns mal nach oben gehen.» Oben, das bedeutete dritter Stock rechts.

«Ich bin suspendiert», war das Erste, was Otto sagte, nachdem sie sich aus ihren Winterklamotten geschält hatten und er seinem Onkel in der Stube gegenübersaß. Er auf dem Sofa, Hermann Kappe in seinem Lieblingssessel. Klara werkelte in der Küche. Sie hatte den Männern einen heißen Grog versprochen.

Kappe traute seinen Ohren nicht. «Wie bitte?»

«Du hast richtig gehört: Ich bin suspendiert.»

«Aber um Himmels willen, Junge, was ist denn passiert?»

Hermann Kappe nannte seinen Neffen noch immer Junge, obwohl der inzwischen auch schon Mitte vierzig war. Otto hatte mit 25 Jahren als Kriminalassistent bei der Kriminalpolizei angefangen, damals noch am Alexanderplatz. Dort gab es nun seit 1948 ein Polizeipräsidium Ost: in der Neuen Königstraße 27 bis 37, im ehemaligen Karstadt-Haus. Das Präsidium West war 1951 in einen Gebäudeteil des Flughafens Tempelhof gezogen, die Adresse lautete: Tempelhofer Damm 1 bis 7, Berlin 42. Die Kriminalpolizei war noch in der Friesenstraße geblieben, doch ein Umzug nach Schöneberg stand bevor. In Hermann Kappes letzten Dienstjahren als Kriminaler hatten Onkel und Neffe Kappe zusammengearbeitet.

Hartmut, Hermann Kappes ältester Sohn, tat in der Zone Dienst und war aufgrund seiner guten Arbeit sogar schon zum Major aufgestiegen. Hermann Kappe war sich nicht sicher, ob das nun ein Grund war, stolz auf seinen Ältesten zu sein. Zumindest in dieser einen Hinsicht war er froh, seit nunmehr zwei Jahren pensioniert zu sein: Endlich arbeiteten er und sein Sohn nicht mehr für «feindliche Lager». Die Teilung Berlins hatte Vater und Sohn einander entfremdet. Das schmerzte.

Um sein Verhältnis zu Heinzi, seinem Jüngsten, stand es auch nicht zum Besten. Karl-Heinz würde wohl für immer das Sorgenkind bleiben. Der Junge war nach dem Krieg vollends in ein zwielichtiges Milieu abgerutscht. Eigentlich wusste Kappe gar nicht genau, was sein Heinzi tat, wovon er lebte, und vor allem, was er fühlte. Zwischen ihm und seinem einstigen Liebling hatten die Jahre ebenfalls eine tiefe Kluft entstehen lassen. Zurzeit verkaufte Heinzi, nach außen ganz der seriöse Geschäftsmann, Kies aus seiner Grube am Teufelsberg. Ganz so seriös schien es allerdings bei seinen Kieslieferungen an Mitglieder der Berliner Baumafia nicht zuzugehen. Jedenfalls verdiente er offenbar viel Schotter mit dem Kies. Immerhin konnte Heinzi sich eine schicke Wohnung an der Steglitzer Ahornstraße leisten.

Mit Otto war das anders, der stand ihm näher. Er war so etwas wie sein Nachfolger bei der Kripo geworden. Ja, sein Neffe war ihm in vielerlei Hinsicht vertrauter als seine beiden Söhne, denn dessen Verstand arbeitete ähnlich. Kappe bewunderte Otto sogar hin und wieder für dessen messerscharfe Intelligenz, besonders aber für seine Redegewandtheit und Schlagfertigkeit – wenn es sein musste, mit ätzender Berliner Kodderschnauze. Als einer, der aus dem Fischerdorf Wendisch Rietz stammte, fühlte sich Kappe im Berliner Jargon noch immer nicht so heimisch wie der Neffe, der eine echte Berliner Pflanze war.

Äußerlich waren er und Otto sehr unterschiedlich. Er, Hermann Kappe, war eher kompakt gebaut. Otto hingegen hatte früher die Figur eines Mittelstreckenläufers gehabt: lang, mit sehnigen Beinen, kein Gramm Fett am Leib. Letzteres hatte sich inzwischen geändert. Er war zwar noch immer gut in Schuss, aber seine Sportlerfigur hatte einige Ausbuchtungen bekommen. Dennoch hatte er sich etwas Jungenhaftes bewahrt, trotz des Sumpfes, in dem er aufgrund seines Berufs immer wieder wühlen musste.

Wie alt war Peterchen jetzt, Ottos und Gertruds Sohn? Fünfzehn, rechnete Kappe aus. Herrgott, wie die Zeit verging!

Klara und Gertrud, auch Trudchen genannt, verstanden sich prima. Kappe konnte sich noch gut erinnern: Otto hatte seine Gertrud bei der Aufklärung eines Mordfalls in der Kakao- und Schokoladenfabrik Greiser & Dobritz in Kreuzberg kennengelernt. Anfangs war Hermann Kappe Gertrud gegenüber eher reserviert gewesen. Sie stammte aus einer strenggläubigen Familie, und er hatte befürchtet, sie könne zu jenen Bigotten gehören, die sonntags in die Kirchen rannten und während der Woche über andere herzogen. Doch so eine war Gertrud nicht, wie Klara und er schnell festgestellt hatten. Inzwischen waren die beiden Frauen Freundinnen.

Das alles ging Kappe durch den Kopf, während er auf die Antwort seines Neffen wartete.

Otto druckste herum, und zu seiner Verblüffung sah Kappe, dass dessen Augen wässrig wurden.

«Junge, nun red endlich! Was ist passiert?»

«Ich hab eine Frau angeschossen. Sie liegt im Urban-Krankenhaus.» Er machte eine Pause. Dann brach es aus ihm heraus. «Wir wollten eine Fälscherwerkstatt ausheben, in einer Wohnung am Fraenkelufer. Aber der Tipp, den wir bekommen hatten, war ’ne Ente. Jedenfalls is die Frau aus’m Küchenfenster raus und weggelaufen. Da war aber noch nicht klar, dass in der Wohnung gar keine Fälscherwerkstatt existiert. Ich bin ihr also hinterhergerannt und hab immer wieder gerufen, dass ich von der Polizei bin und sie stehen bleiben solle. Dann hat sie eine Waffe aus der Tasche gezogen …»

«Aber dann hast du doch ganz nach Vorschrift gehandelt. Wo liegt das Problem? Weshalb bist du suspendiert?»

«Die Waffe wurde nicht gefunden», antwortete Otto leise. Dem angespannten Klang seiner Stimme entnahm Kappe, wie sehr ihm die Sache an die Nieren ging.

«O Junge!», sagte Kappe.

«Da ist noch was. Ich hab nur einmal geschossen, ganz sicher. Es sind aber drei Schüsse gefallen. Die Kollegen haben das auch gehört. Sie suchen jetzt alles nach Patronenhülsen ab, aber bisher Fehlanzeige. Da stimmt doch was nicht! Onkel Hermann, kannst du mir helfen? Wenn die Frau es nicht war, die geschossen hat, wer dann? Vielleicht hat es jemand auf die Frau abgesehen und die günstige Gelegenheit der Razzia genutzt. Wenn du mich fragst, dann hieße das doch, ich sitze tief im Schlamassel und sie schwebt in Gefahr.»

«Oder der Tipp war doch keine Ente, und jemand hat auf dich geschossen, Junge.»

«Das glaub ich nicht. Warum sollte das jemand tun?»

«Vielleicht waren die Fälscher doch in der Wohnung und sauer, dass sie wegen euch flüchten mussten. Könnte doch sein.»

«Ach, Onkel Hermann, das ist alles Stochern im Nebel. Jetzt muss ich erst mal meine Unschuld beweisen. Hilfst du mir?»

«Selbstverständlich! Was kann ich tun?»

«Auf jeden Fall ist an der Sache was faul. Ich muss einfach wissen, was dahintersteckt – darf aber vorerst nicht mehr ermitteln. Wie soll ich das denn aushalten? Einfach nur rumsitzen, das kann ich nicht! Ich würde wenigstens gerne zu der Frau ins Urban-Krankenhaus gehen, um mich zu entschuldigen. Falls sie mich überhaupt sehen will. Es ist vielleicht besser, ich hab jemanden dabei, einen Zeugen, zur Sicherheit. Damit nicht noch irgendwer denkt, ich wolle sie beeinflussen oder so. Na ja, und du bist auch ein erfahrener Mann, vielleicht könnest du …»

«Jut, machen wir! Wann willste hin?»

Otto sah ihn flehend an. «Am liebsten gleich. Ich bin unruhig, solange ich nicht weiß, wie es der Frau geht. Außerdem hab ich nichts anderes zu tun.»

«Weiß Trudchen schon davon?»

Otto schüttelte den Kopf. Er sah aus wie ein geprügelter Hund. «Nee, hab meiner Frau noch nix gesagt.»

Kappe nickte. «Dann lass uns gehen!» Er stand auf, stapfte in den Gang und wickelte sich wieder in seine Polarausrüstung, die am Kleiderhaken an der Wohnungstür hing. Otto tat es ihm gleich.

Klara, die noch immer in der Küche herumfuhrwerkte, sie aber offenbar gehört hatte, riss die Tür auf, und ein appetitlicher Geruch von gebratenen Bücklingen strömte ihnen entgegen. «Grog kommt gleich. Otto, willst du mitessen?» Sie stockte. «Nanu, wo wollt ihr denn hin?»

Die beiden Männer sahen sich verlegen an. «Wir haben noch einen Krankenbesuch zu machen, bei einer Bekannten von uns beiden», schwindelte Hermann Kappe. Erst mal hatte Gertrud das Recht, von der misslichen Lage zu erfahren, in der ihr Mann steckte. Klara konnte er das alles später noch erklären.

«Muss das jetzt sein? Ich meine, das Essen ist bald fertig – Bückling, Bratkartoffeln und dicke Bohnen. Kommt ihr bald wieder?»

«Ich bleib nicht lang», versprach Kappe.

Und Otto sagte: «Tut mir leid, Tante Klara! Danke für das Angebot, aber ich ess wohl lieber daheim. Trudchen wartet auf mich.»

Bevor Klara Kappe noch eine weitere Bemerkung machen konnte, waren die Männer aus der Wohnung und zogen die Tür hinter sich zu.

Anfangs wollte ihnen im Urban-Krankenhaus niemand sagen, in welchem Zimmer sich die Frau befand, die an diesem Morgen angeschossen worden war. Also zückte Otto doch seine Dienstmarke. Daraufhin erfuhren sie, dass die Verwundete auf der Inneren lag. Die Stationsschwester erklärte ihnen, dass es ihr gutgehe. Es sei viel weniger schlimm, als anfangs befürchtet. Die stark blutende Wunde am Hinterkopf, wohl durch den Sturz verursacht, sei genäht worden. Die Schussverletzung habe sich als Streifschuss an der rechten Seite entpuppt, der keine größeren Schäden angerichtet habe, vor allem keine inneren Verletzungen.

Kappe konnte an Ottos Gesichtsausdruck sehen, dass dem ein ganzes Gebirge vom Herzen fiel. Obwohl er suspendiert blieb, bis bewiesen war, dass er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen.

Schon sehr viel entspannter, traten sie ins Krankenzimmer der Patientin. Aus drei Betten schauten ihnen Frauengesichter entgegen, die Otto fremd waren Das vierte Bett war leer.

«Wo ist sie?», stammelte Otto.

Eine ältere dicke Frau lächelte milde. Eine andere, wohl mittleren Alters, schnaufte nur und schloss die Augen. Die dritte, um die dreißig vielleicht, fragte: «Sind Sie der Mann von ihr?»

«Kriminalpolizei», sagte Hermann Kappe an Ottos Stelle. «Wo ist Ihre Zimmergenossin? Wir müssen ihr ein paar Fragen stellen.»

«Wech», antwortete die ältere Frau.

«Was heißt wech?», fragte Kappe senior verblüfft.

«Seit wann verstehn die Berliner Kriminaler kein Deutsch mehr? Wech. Wissen Se nich, wat dit heeßt? Ick hätt jetzt jern meine Ruhe. Sie sind hier nämlich innem Krankenzimmer, und mich ham se erst gestern Morgn operiert. Also!» Damit schloss die mittelalte Patientin wieder die Augen.

«Aber sie kann doch nicht einfach so …», hob Otto an.

«Ida hat gesagt, sie müsse dringend weg, hat ihre Sachen gepackt und sich aus dem Zimmer geschlichen. Die Schwestern wissen noch nichts davon. Sie hat uns beschworen zu warten, bis wir was sagen», erwiderte die junge Frau.

«Ida heißt sie also», sagte Hermann Kappe.

«Hat se jesacht», fiel die Dicke ungeduldig ein.

«Und warum wollte sie so dringend weg?»

«Dit hat se nich jesagt», antwortete die am Vortag Operierte. «Also, jehn Se nu?»

«Ja, wir gehen ja schon», sagte Kappe.

Als sie den Stationsarzt endlich aufgetrieben hatten, konnte der ihnen auch nicht mehr sagen. Er wusste noch nicht einmal, wie die verschwundene Patientin mit Nachnamen hieß, und zuckte nur müde mit den Schultern. Es sei zu viel zu tun. Ständig kämen Leute mit Erfrierungen oder Brüchen nach Stürzen auf glatten Bürgersteigen rein. Er komme kaum nach. Aber vielleicht wüssten die Kollegen in der Notaufnahme mehr.

Die junge Krankenschwester, die dort Dienst tat, war geschockt, als sie vom Verschwinden der Frau erfuhr. Papiere habe diese nicht bei sich gehabt. Sie habe sich zudem geweigert, ihren Namen zu nennen. Weil sie sehr verwirrt gewirkt, offenbar unter Schock gestanden und stark aus einer Kopfwunde geblutet habe, sei sie von der Notaufnahme zunächst in die Chirurgie überwiesen worden. Es sei dringender gewesen, das Blut zu stillen und die Schusswunde zu versorgen, als Papiere auszufüllen. Danach sei sie auf die Innere verlegt worden. Eigentlich habe sie demnächst nach ihr schauen wollen.

«Aber nun ist sie weg», sagte Hermann Kappe.

«Ja, nun ist sie weg», wiederholte sein Neffe.

«Und was machen wir nun?», fragte die Krankenschwester.

«Gute Frage», sagte Hermann Kappe. «Ich denke, wer die Rechnung bezahlt, müssen Sie selbst klären. Wir gehen dann.» Damit nickte er der Schwester zu und machte sich mit Otto auf den Weg nach draußen. «Und wir beiden Hübschen, lieber Neffe, sollten herausfinden, wem die fragliche Wohnung eigentlich gehört», fügte er an, während sie durch den Flur marschierten.

Otto nickte. «Ich werd meine Quellen anzapfen. Das solltest du am besten auch tun, Onkel Hermann. Vielleicht kriegn wir denn ’nen Hinweis, woher der Tipp jekommen is.»

«Männerstimme? Frauenstimme?», hakte Kappe nach.

«Wees ick nich.»

«Dann wissen wir wirklich nicht viel», antwortete Kappe, machte aber ein zufriedenes Gesicht. Die Entwicklung war zwar sehr unerfreulich, aber ihre Nachforschungen schienen Otto ein wenig abzulenken, er wirkte schon ein wenig gefasster. Und er selbst konnte endlich mal wieder arbeiten, anstatt Klara auf Märkte zu begleiten und Bücklinge zu kaufen. Dass er seinem Neffen half, dagegen konnte selbst Klara nichts einwenden. «Wie ist das mit deinen Kollegen? Könntest du jemanden von ihnen um Hilfe bitten? Wir werden sie wohl brauchen.»

Otto zögerte eine Weile und nickte dann. «Günther Kynast. Der ist ziemlich schnoddrig, gibt sich abgebrüht, aber eigentlich ist er ’ne gute Seele. Rückert natürlich. Und dann noch Hans-Gert.»

«Hans-Gert? Der Enkel vom ollen Gustav Galgenberg? Ich dachte, der sollte versetzt werden.»

«Nee, sie haben ihn dann doch hierbehalten. Der Chef war wohl der Meinung, Kappe zwei und Galgenberg zwei könnten ein gutes Team ergeben. Allerdings ist Hans-Gert gerade im Urlaub, er kommt nächste Woche wieder.»

«Dann ist ja gut», meinte Kappe und bekam Sehnsucht nach dem ollen Gustav Galgenberg. Der sah längst die Primeln von unten. Wenn dessen Enkel so gut mit Otto zusammenarbeitete wie er einst mit Galgenberg, dann konnten alle sich glücklich schätzen. «Vielleicht sollten wir damit anfangen, dass wir uns die Wohnung am Fraenkelufer noch mal genauer anschauen. Womöglich ist der Inhaber oder die Inhaberin jetzt zu Hause. Wenn wir Glück haben, handelt es sich sogar um diese Ida Sowieso, und wir können mit ihr reden.»

Kaltfront

Подняться наверх