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KAPITEL VIER
Оглавлениеin dem zwei Kappes heimlich eine Wohnung aufsuchen und nicht nur einen Toten finden
EINE WEILE beobachtete die Frau in dem viel zu großen Ulstermantel das Haus am Fraenkelufer. Doch es blieb alles ruhig. Wie es schien, waren die Polizisten abgezogen. Ida Berkowitz atmete erleichtert auf. Vielleicht wurde doch noch alles gut. Und vielleicht hatte Lenchen ausnahmsweise gehorcht.
Ida schaute sich um. Es war gerade niemand auf der Straße, und sie nutzte die Gelegenheit, sich ins Haus zu schleichen. Ungesehen kam sie ins Gebäude und schloss leise die Wohnungstür auf. Stille empfing sie. Und Kälte. An den Fenstern hatten sich bereits Eisblumen gebildet.
«Lehnchen! Lenchen, bist du da?» Keine Antwort. Ida rannte in die Küche und schob den Vorhang zwischen Spüle und Kohleherd zur Seite. Das Versteck war leer. Ebenso die Stube. Als sie ins Schlafzimmer kam, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Auf dem Bett lag, regungslos und bleich, ein Mann. Unter ihm hatte sich ein roter Fleck ausgebreitet. Die Matratze hatte das Blut breitflächig aufgesogen. Erst traute sie sich nicht, näher an die Gestalt heranzutreten. Dann schlich sie sich näher, so leise, als könne sie den Toten im Schlaf stören. Das war Peter Klaus. Der Nachrichtenhändler, der sie und Lenchen bei sich aufgenommen hatte. Er arbeitete beim Büro Ost der West-Berliner SPD mit, lieferte aber auch Informationen an die KgU. Die beiden Organisationen hatten dasselbe Ziel: den Kommunismus auszuhebeln und die DDR zu destabilisieren. Deswegen kooperierten sie eng bei dem Versuch, Genossen von der SED abzuwerben und für die westlichen Werte zu gewinnen.
Ida war ebenfalls SPD-Mitglied. Wie Ursula. Doch sie selbst hatte es leichter gehabt als ihre Schwester, die in der Zone wohnen geblieben war. Nach der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD waren von dort viele in die Westsektoren übergewechselt – nicht aber Ursula. Die wollte bleiben und für eine bessere Welt kämpfen. Es gab noch immer kleine Grüppchen von SPD-Treuen in den Betrieben drüben, die aus der Bundesrepublik unterstützt wurden, mit Geld, mit Infrastruktur und mit Wohnungen im Westen, wenn jemand fliehen wollte. Ursula hatte zu einer dieser Gruppen gehört. Und nun saß die Schwester im Gefängnis.
Ob Peter Klaus ein überzeugter Sozialdemokrat war, vermochte Ida nicht zu sagen. Er verkaufte seine Nachrichten an alle, die ihm etwas dafür bezahlten: die CIA, die Organisation Gehlen, an Zeitungen, an die SPD. Er lieferte zudem Informationen für das Archiv der KgU über im Russlandfeldzug verschollene Soldaten oder solche, die in Straflagern verschwunden und niemals wiederaufgetaucht waren. In den letzten Jahren hatte die KgU umfangreiches Material über oft schreckliche Schicksale zusammengetragen.
Manchmal hatte Peter Klaus Nachrichten in einem toten Briefkasten bei einem Baum in der Nähe der Wohnung deponiert. Hatte eine dieser dunklen Gestalten, die sie abholten, ihn umgebracht, weil er gefälschte Nachrichten verkauft hatte? Das tat er nämlich immer wieder. Er schrieb die sensationellsten Berichte, die sich nicht selten aus Zeitungsnachrichten, Gerüchten und der eigenen Einbildungskraft nährten. Je spektakulärer die Meldungen waren, umso besser bezahlten seine Abnehmer.
Die KgU lieferte hin und wieder ebenfalls Informationen an die Organisation Gehlen oder die CIA, zum Beispiel über die neue Anlage bei der Gasag. Dafür bekam die Gruppe Geld, mit dem sie ihre Arbeit finanzieren konnte.
Ida wagte einen Blick auf Peter Klaus. Von vorn sah sein Gesicht unverletzt aus. Nur die Augen waren wie in völliger Verblüffung weit aufgerissen. Er musste seinen Mörder gekannt haben. Der tödliche Schlag war wohl von hinten gekommen.
Jetzt, da Ida näher bei ihm stand, erkannte sie, dass der Fleck auf der Matratze, der sich noch immer weiter ausdehnte, keineswegs nur aus Blut bestand, sondern auch aus Hirnmasse. Sie würgte, wich zurück und trat auf etwas. Am Boden lag das kleine Fleischbeil, das sie zum Hacken der Suppenknochen benutzten. Sie waren nicht reich, Schweine- und Rinderknochen gab es billig beim Metzger. Die ergaben zusammen mit Kartoffeln und selbstgesammelten Esskastanien oder gerösteten Nüssen einen wohlschmeckenden Eintopf. Und jetzt das! Das Fleischbeil lag normalerweise ordentlich verstaut in einer Küchenschublade. Wer diesen Mann erschlagen hatte, musste von dem Beil gewusst haben. Lenchen? O nein, nicht Lenchen! Ob er versucht hatte, sie … Idas Verstand weigerte sich zunächst, den Gedanken zu Ende zu denken. Doch er ließ sich nicht wegdrängen. Peter Klaus hatte Lenchen in der letzten Zeit so seltsam angestarrt, wenn er glaubte, niemand beobachte ihn. Nein, nein, nicht Lenchen! Lenchen war doch noch ein Kind!
Aber wer dann? Wieso war Peter Klaus überhaupt hier? Er hatte doch gesagt, er würde länger weg sein.
Ida zögerte. Sollte sie die Polizei alarmieren? Nein. Es war besser, sie verschwand hier. Schnellstens. Außerdem musste sie versuchen, Lenchen zu finden. Womöglich trieb sich das Kind bei dieser Affenkälte draußen herum und wusste nicht, wo es hin sollte. Am Ende erfror das Mädchen noch! Oder die von drüben fingen Lenchen ein wie einen herrenlosen Hund und taten ihr am Ende etwas an, weil sie in ihr eine Mitwisserin vermuteten. Nicht auszudenken! Lieber ging Ida selbst dabei drauf. Aber nicht Lenchen! Sie konnte doch für all das nichts.
Nach Lage der Dinge konnten Lenchen und sie jedenfalls nicht in dieser Wohnung bleiben. Hastig kramte Ida die wenigen Habseligkeiten zusammen, die im Schrank verstaut waren, und steckte sie in den alten Pappkoffer, den sie ebenfalls dort deponiert hatte. Wohin sollte sie gehen? Es fiel ihr schwer, klar zu denken. Sie musste dem Mädchen eine Nachricht hinterlassen. Aber wo? Vielleicht in dem toten Briefkasten? Nein, von dem wusste Lenchen nichts. Ida fiel nur einer ein, der ihr vielleicht helfen würde: Uwe Müller. Ursula kannte ihn gut. Sie hatte ihm vertraut, sonst hätte sie Müller niemals die Adresse ihrer Schwester Ida als Anlaufstelle genannt, als er in den Westen gewechselt war. Er hatte eines Tages vor ihrer Tür gestanden. Ida hatte ihn zunächst aufgenommen, ihm bei der Wohnungssuche geholfen und ihm durch ihre Empfehlung eine Stelle bei der Gasag vermittelt. Dort hatten sie gerade einen Ingenieur gesucht.
Idas Fluchtinstinkt wurde übermächtig. Nur weg von hier, dann konnte sie vielleicht besser denken.
Da hörte sie Schritte im Hausflur. Und Männerstimmen. Sie konnte zunächst nicht verstehen, was geredet wurde. Dann klingelte es. Einmal. Zweimal. Jemand sagte: «Da brat mir einer ’nen Storch! Die Tür steht offen, aber niemand meldet sich.»
Ida überlief es siedend heiß. Sie hatte die Wohnungstür nur angelehnt. Hastig klappte sie den Koffer zu und stellte ihn in den Schrank zurück. Kurz dachte sie darüber nach, sich ebenfalls dort zu verkriechen. Aber im Schrank würden sie sicher zuerst suchen. Wohin dann?
«Brr, hier is es janz schön kalt», sagte der eine.
Ida schaute sich verzweifelt um. Die Stimme kannte sie! Aber woher? Der Mann war schon im Flur. Blieb als Versteck nur noch dieses Zimmer.
«Dann schauen wir uns mal um», antwortete der andere. «Vielleicht bekommen wir Hinweise darauf, ob hier jemals eine Fälscherwerkstatt gewesen ist. Haben die Kollegen eigentlich herausgefunden, wer unter dieser Adresse gemeldet ist, Otto? Hat Rückert vorhin am Telefon etwas dazu gesagt?»
«Nee, hat er nich. Er hat noch nicht mal nachgefragt, warum ich det wissen wollte.»
«Vielleicht ahnt er, was wir treiben. Is ihm wohl lieber, im Zweifel sagen zu können, er wisse von nichts.»
«Vermutlich. Das rechne ich ihm ooch hoch an. Aber zurück zur Wohnung. Ich hab selber mal ’n bisschen nachgeforscht und meine Kontakte jenutzt, bevor ich zu dir gekommen bin. Dit ist seltsam, hier is niemand jemeldet. Eigentlich steht die Bleibe leer, Onkel Hermann.»
«Wie ich höre, bist du voller Tatendrang. Das freut mich. Geht es dir inzwischen etwas besser?»
«Der erste Schock is vorbei. Un nu hab ick ja Hilfe. Jeh du ins Wohnzimmer, ick jeh ins Schlafjemach.»
Ida hörte ein zustimmendes Brummen. Ihr Körper versteifte sich. Sie schaute sich panisch um. Wohin? Die Schritte näherten sich. Sie schloss möglichst leise die Schranktür, quetschte sich unter das Bett und flehte innerlich zu allen Heiligen, die ihr einfielen, dass nichts von dem Blut und dem Hirn des Toten auf sie heruntertropfen würde. Der süßlich-metallische Geruch des ekligen Gemischs brachte sie fast zum Brechen. Ihre Wunde stach schmerzhaft. Ida hatte Mühe, nicht aufzuschreien.
Sie vernahm ein leichtes Schlurfen, dann sah sie pelzverbrämte Männerstiefel, die am Bettrand stehen blieben. Ida versteifte sich noch mehr und hörte dann die ihr bekannte Stimme sagen: «Is denn det zu glaubn! Onkel Hermann, komm mal her! Hier liecht ’n Toter!»
Da fiel Ida ein, woher sie die Stimme kannte. Das war der Mann, der hinter ihr her gerufen und dann auf sie geschossen hatte. Polizei, Polizei, Polizei! Die Worte dröhnten wie Ambossschläge in ihrem Kopf. Beinahe hätte sie aufgestöhnt, gerade noch konnte sie sich beherrschen.
Weitere Schritte näherten sich, das Geräusch eines stolpernden Menschen folgte, dann war ein Fluch zu hören sowie die Worte «Scheiß Flickenteppich». Pause. Schließlich sagte der Mann: «Was für ’n Galama! Was machen wir nu?»
Einige Sekunden herrschte Stille. Dann sagte die Stimme, die sie kannte: «Wenn wir die Kollegen holn, dann wissen die, dass wir in der Wohnung warn, Onkel Hermann. Das wär schlecht.»
«Das wär sehr schlecht», antwortete die andere Stimme. «Da du suspendiert bist, könnte das so aussehen, als hättest du etwas vertuschen wollen. Hoppla, hier liegt ein Beil!»
«Das erinnert mich an diesen Massenmörder. Wie hieß der noch? Du weißt schon, Onkel Hermann, ich meine den, auf den es ein Lied gibt.»
«Der Mann hieß Fritz Haarmann. Warte, warte nur ein Weilchen, / bald kommt Haarmann auch zu dir, / mit dem kleinen Hackebeilchen, / macht er Schabefleisch aus dir», sang der Ältere. «’25 ist er gestorbn, kam aus Hannover, wenn ich mich richtig erinnere. Du glaubst an einen Serienmörder?»
«Nee, eigentlich nich. Ich denk eher, das war ’ne Tat im Affekt, so wie der Mann kiekt. Womöglich glauben die noch, ich hätte …»
«Nee, das glauben die nicht. Nie und nimmer. Die Kollegen kennen dich schließlich, Otto. Die wissen, dass wir Kappes so etwas niemals tun könnten. Du und ich, wir fangen Mörder. Aber wir sind keine.»
«Trotzdem …»
«Ja, trotzdem … Die Situation ist misslich.»
«Und wat machn wir nu?»
«Ich denke, wir gehen wieder und tun so, als wären wir nie hier gewesen. Und ich rufe bei den Kollegen an, anonym, mit verstellter Stimme.»
Ida hörte ein zustimmendes Brummen. «Und ick schau die Tage mal ganz unverbindlich bei die Kollegen vorbei und erkundige mir, wie es so geht.»
«Otto?»
«Hm?»
«Ich frage mich gerade, ob das der Mann sein könnte, der euch den Tipp zu der Fälscherwerkstatt gegeben hat. Vielleicht sind die Fälscher dahintergekommen, wer sie verpfiffen hat, haben den Laden in Windeseile ausgeräumt und später, als ihr wieder weg wart, dem Verräter eins übergebraten. Dieses Beil sieht mir wie ein Küchenbeil zum Knochenhacken aus. Klara hat so eins.» Und dann sagte er, was auch Ida gedacht hatte: «Die liegen normalerweise nicht einfach so herum, sondern sind in einer Küchenschublade verstaut. Das könnte darauf hindeuten, dass sich der Mörder in der Wohnung auskannte. Aber gehen wir, ehe wir hier aus Versehen noch Spuren verwischen.»
«Oder welche hinterlassen.»
Die Männerstiefel verschwanden aus Idas Blickfeld. Sie atmete erleichtert aus, aber ganz vorsichtig und leise.
«Moment, ich muss noch den Flickenteppich wieder richtig hinlegen, bevor wir gehen», sagte die Männerstimme, die dem Onkel namens Hermann gehörte.
Ida versteifte sich wieder. Ein Gesicht erschien in ihrem Blickfeld. «Wen haben wir denn da? Dann komm Se mal raus, junge Frau!»
«Wat is denn, Onkel Hermann?»
«Unter dem Bett hat sich jemand versteckt.»
Ida wusste, dass ihr nichts anderes übrigblieb, und schob sich unter dem Bett hervor.
Onkel und Neffe sahen sich einer Frau mit schwarzem Wuschelkopf, einem ebenmäßigen Gesicht mit hochroten Wangen und dunkelbraunen Knopfaugen gegenüber, die sie flehend anschauten. Ein Gesicht, schön wie das eines dunklen Engels, dachte Hermann Kappe unwillkürlich.
«Ich hab ihn nicht umgebracht», stammelte Ida Berkowitz.
«Das ist ja ’n Ding!», meinte Otto Kappe indes verblüfft. «Det isse! Auf die hab ich geschossen.»
«Das macht nichts, es geht mir gut.»
Hermann Kappe hob die Hände. «Nu mal langsam mit die jungen Pferde! Das ist alles zu viel auf einmal für ’nen alten Mann. Wer sind Sie? Was machen Sie hier?»
«Ich hab doch nur … ein paar Sachen holen wollen. Ich darf hier wohnen, übergangsweise. Aus der alten Wohnung musste ich raus, weil … Jedenfalls, als ich heute hierherkam, lag er schon da.»
«Wer ist der Mann? Gehört ihm die Wohnung? Und vor allem – wer sind Sie?», wiederholte Kappe senior.
Ida zögerte. Sie wollte nicht zu viel sagen. Immerhin war sie inzwischen so etwas wie eine Verbrecherin. Bald würde ganz Berlin von dem Störfall bei der Gasag wissen. Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. «Also, hier kann ich wohl vorläufig nicht mehr wohnen», antwortete sie ausweichend.
«Wohl kaum. Außerdem wird die Wohnung versiegelt. Das ist jetzt ein Tatort.»
«Ich war das nicht, ganz bestimmt nicht!»
«Das kann sein. Kann aber auch nicht sein. Wie geht’s Ihnen? Und wo ham Se die Waffe gelassen?», fiel Otto Kappe ein.
Ida schaute ihn groß an. «Mir geht es gut. Nichts Schlimmes.»
Die Erleichterung war Otto Kappe anzusehen. «Und die Waffe? Ich hab doch gesehn, dass Sie eine Waffe aus Ihrer Manteltasche gezogen ham!»
«Ich hab keine Waffe. Woher soll ich so was denn haben?»
«Ich hab doch genau gesehn, dass Sie was aus der Manteltasche gezogen haben.»
«Ich soll was aus meiner Tasche gezogen haben?» Ida runzelte die Stirn.
Otto Kappe nickte energisch.
«Daran kann ich mich nicht erinnern. Es ging alles so schnell. Und wenn, dann hab ich ganz sicher keine Waffe herausgeholt, höchstens ein Taschentuch.»
Kappe junior sackte in sich zusammen.
«Otto, du bringst hier alles durcheinander. Nun lass uns doch mal der Reihenfolge nach vorgehen. Ich verstehe, dass dir die Geschichte an die Nieren geht. Also noch mal: Wer sind Sie, wer ist dieser Mann, und warum sind Sie aus dem Krankenhaus abgehauen?»
«Wer der Mann ist, weiß ich nicht», behauptete Ida leise. «Ich hab ihn hier noch nie gesehen. Mein Gott, wo soll ich denn jetzt hin? Ich bemühe mich schon eine ganze Weile um eine Wohnung, wenigstens ein Zimmer. Das ist aber nicht so einfach. Die verlangen heutzutage horrende Mieten. Deswegen haben die Genossen gesagt, ich kann hier wohnen, bis ich eine neue Bleibe hab.»
Kappe wurde hellhörig. «Die Genossen?»
«Ja, von der Berliner SPD. Ich bin Mitglied. Die bringen hier manchmal Gäste unter, Genossen, die aus Westdeutschland nach Berlin zu Besuch kommen.» Ida hoffte verzweifelt, dass sie ihr die Geschichte abnahmen. Der Ältere sah nicht überzeugt aus. Dabei machte er einen ganz sympathischen Eindruck. Er hatte vergissmeinnichtblaue Augen, die bestimmt ganz freundlich gucken konnten. Darunter saß eine Nase, die wie eine Knüppelkirsche aussah. Wahrscheinlich war er bei seinen Enkelkindern ein beliebter Opa. Und der andere, der Jüngere war größer als sein Onkel, nicht ganz so kompakt, aber ebenfalls nicht der Schlankeste. Er hatte dasselbe energische Kinn und sah seinem Onkel auch sonst recht ähnlich. Sie konnten die Verwandtschaft jedenfalls nicht verleugnen.
«Und wer sind Sie?», fragte Kappe junior.
Ida Berkowitz zögerte abermals. Die Männer sahen wirklich freundlich aus. Ob sie nicht doch die Wahrheit sagen sollte? Nein, das durfte sie nicht. Wegen Ursula, wegen Lenchen, weil sie doch deren letzte Hoffnung war. Und weil sie zur Saboteurin geworden war. Fieberhaft suchte sie nach einem Namen. «Ursula», antwortete sie schließlich, weil ihr nichts Besseres einfiel.
«Ah, die Bärin, vom lateinischen Wort ursus, der Bär. So sehen Sie auch aus, dick eingepackt in ihren Mantel. Es wundert mich, wie Sie es geschafft haben, damit unters Bett zu kommen.»
«Onkel Hermann!»
«Ja, is ja schon gut. Also Ursula. Und weiter?»
«Ursula … Müller.»
«So, Ursula Müller – was machen wir nun mit Ihnen?»
«Lassen Sie mich gehen! Bitte! Ich hab den Mann nicht erschlagen, wirklich, Sie müssen mir glauben! Und ich hab auch nichts gesehen. Niemanden. Als ich in die Wohnung kam, war er schon tot.»
«Wir können Sie nicht gehen lassen», sagte Otto Kappe. «Sie müssen bei der Polizei aussagen.»
«Bitte, ich geh zur Polizei, ich versprech’s!»
«Otto, komm mal mit raus!», sagte Hermann Kappe.
Der schaute überrascht, folgte seinem Onkel aber auf den Gang.
«Wir können sie nicht zur Polizei bringen, wir sind doch offiziell gar nicht hier. Du dürftest überhaupt nicht mit ihr reden. Das könnte so aussehen, als wolltest du eine Zeugin in deinem eigenen Verfahren beeinflussen. Ganz besonders, weil sie behauptet, dass sie gar keine Waffe gehabt hat. Ich glaub ihr das sogar. Die Frau ist völlig durcheinander. Otto, wir müssen sie gehen lassen!»
«Aber Onkel Hermann!»
«Otto! Ich weiß, es fällt schwer. Aber ich glaube auch nicht, dass sie die Mörderin ist. Sie ist nach Lage der Dinge zu klein. Schau dir mal an, wie groß der Tote ist! Die Wunde scheint hinten oben am Kopf zu sein. So hoch reichen ihre Arme nicht. Und dann die Wucht des Schlags. Otto, vertrau mir! Lass mich mal machen.»
Otto Kappe senkte zustimmend den Kopf.
«Gut, wir lassen Sie gehen», sagte Hermann Kappe, als sie wieder ins Schlafzimmer kamen.
«Danke, o danke!», stammelte Ida Berkowitz.
«Sie versprechen mir hoch und heilig, dass Sie zur Polizei gehen?»
«Bestimmt, ganz sicher!»
«Wissen Sie was von einer Fälscherwerkstatt, die hier untergebracht gewesen sein sollte?», fragte Otto Kappe.
«Nein, hier war nie eine, soweit ich weiß», erwiderte Ida Berkowitz, dieses Mal wahrheitsgemäß.
«Jedenfalls muss sich der Täter in der Wohnung ausgekannt haben», wiederholte Otto und starrte sie an.
«Ich war es nicht, wirklich, bitte glauben Sie mir!»
«Otto, lass mal gut sein. Am besten, du gehst jetzt heim zu Trudchen. Du bist ihr ja noch eine Erklärung schuldig. Und nun zu Ihnen, junge Frau. Wenn Sie versprechen, wirklich zur Polizei zu gehen, dann wollen wir mal nicht so sein. Zumal Sie eine Genossin sind – wie ich auch.»
Ida Berkowitz strahlte Hermann Kappe dankbar an.
Kurz darauf irrte sie erneut durch die Berliner Straßen. In ihrem Kopf jagte ein Gedanke den anderen. Also hatte die Polizei in der Wohnung nach einer Fälscherwerkstatt gesucht. War Peter Klaus deshalb da gewesen? Aber die Werkstatt war doch am Planufer. Nicht weit weg, aber in einer völlig anderen Wohnung. Was hatte das alles zu bedeuten? Sie musste zu Uwe Müller. Ida wusste nicht viel über ihn, Ursula hatte wenig erzählt. Bei ihren wenigen und vorsichtigen Begegnungen mit der Schwester vor deren Verhaftung hatte es so viel anderes gegeben, über das sie hatten sprechen müssen. Ida wusste nur, dass er Ingenieur und Müller nicht sein richtiger Name war. Und dass er rübergemacht hatte. Während des Krieges sollte er in Norwegen gelebt haben. Wie Willy Brandt, der Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses. Wenn er darauf angesprochen wurde, behauptete Uwe immer, Brandt in Norwegen niemals getroffen zu haben.
In ihrer Verwirrung hatte sie ausgerechnet Müller als Nachnamen genannt. Aber in Berlin gab es unzählige Müllers, nicht nur diesen einen. Und sie wussten nicht, wo Uwe Müller wohnte. Aber wenn sie ihn auch schon unter Verdacht hatten? Wenn die Polizei bereits bei ihm wartete? Doch wo sonst sollte sie hin? Sie hatte niemanden, sie kannte keine geheimen Wohnungen, sie war keine geübte Agentin, die wusste, wie man sich in solchen Fällen richtig verhielt. Sie war nur eine Frau, die man in die Enge getrieben hatte.
Und Lenchen, was war nur mit Lenchen? Ida war schon ganz schlecht vor Sorge. Das arme Kind! Nun irrte es bei der Kälte durch die Stadt. Wo steckte Lenchen nur? Wieso konnte sie nicht einmal tun, was man ihr sagte! Wieso war sie weggelaufen, wieso nur? Hatte sie den Mord gesehen und war in Panik geraten? Oder hatte sie Peter Klaus doch selbst umgebracht? Nein, nein, nicht Lenchen!
Sie musste ihr unbedingt eine Nachricht zukommen lassen. Aber wie? Die Nachbarn dieser Wohnung ahnten nicht, dass hier auch ein Mädchen gelebt hatte. Ebenso wenig wie die am Lenzener Platz, ihrem früheren Wohnort. Sie waren sehr vorsichtig gewesen. Das rächte sich nun. Wie sollte sie dem Mädchen bloß übermitteln, wo sie war?
Die Fußmatte vor der Wohnungstür – das war die einzige Möglichkeit, die Ida einfiel. Sie würde einen Zettel darunter legen. Aber nicht gleich. Wahrscheinlich würde es jetzt in der Wohnung am Fraenkelufer wegen des Toten von Polizisten nur so wimmeln. Sie musste warten, bis die wieder weg waren. Erst dann konnte sie den Zettel deponieren. Außerdem würde sie immer wieder zur Wohnung gehen, in der Hoffnung, dass Lenchen dort auftauchte.
Als Ida Berkowitz endlich bei Uwe Müller ankam, zitterte sie wie Espenlaub, nicht nur wegen der Kälte. Er wohnte recht zentral im Bezirk Tiergarten, in der Lüneburger Straße, ganz in der Nähe des Fleischgroßmarktes. Auch der Lehrter Bahnhof war nicht weit weg.
Müller machte ein verblüfftes Gesicht, als er sie vor der Tür stehen sah, dann zog er sie hinein. «Was für ’ne Überraschung! Mädchen, du siehst aus wie ’n Eisblock und bibberst wie ’n Wackelpudding. Wat ist denn los? Na, kannste auch später erzähln. Ich mach dir erst mal ’n heißen Grog. Rin in die jute Stube!»
Ida brach in Tränen aus. «Iiiich hab Lenchen verloren. Und ich weiß nicht, wo sie ist. Ich wollte ihr eine Nachricht hinterlassen, aber dann kam die Polizei, und da konnte ich nicht. Was soll ich nur tun? Wenn sie erfriert bei der Kälte …» Ida brach ab.
«Lenchen? Wer is denn dit nu wieder? Bist ja janz aufjelöst. Komm ma an Papas Brust!» Müllers braune Augen schauten sie voller Mitgefühl an.
Ida ließ sich dankbar in die Wärme seiner Umarmung sinken. Es tat so gut, einmal nicht allein zu sein mit all ihren Problemen. «Es ist so furchtbar! Ich hab einen Toten gefunden. Und Lenchen, Lenchen ist verschwunden.»
«Das kriegen wir schon alles hin», tröstete Uwe Müller die Verzweifelte, die gerade sein Hemd nass heulte. Sein Gesicht war angespannt, die Stirn gerunzelt. Doch das konnte Ida Berkowitz nicht sehen, sie hatte den Kopf an seiner Brust geborgen. Er zog ein Taschentuch aus der Hose. «So, nun schnaub erst mal tüchtig, dann ziehste den Mantel aus und erzählst! Ick brau uns derweil ’nen kräftjen Jrog. Kommst am bestn mit in die Küche», meinte er tröstend.
Und während sie darauf warteten, dass das Wasser für den Grog zu kochen begann, sprudelte Ida ihre Geschichte heraus.
Draußen vor Müllers Wohnung schmunzelte Hermann Kappe. Das sah ebenfalls niemand, denn er hatte den Wollschal der Kälte wegen bis unter die Augen gezogen. Mit dieser Frau stimmte etwas nicht. Das spürte er. Aber nun wusste er wenigstens, wo er ansetzen konnte, falls sie ihr Versprechen nicht einhielt. Und das würde sie nicht. Sie würde nicht zur Polizei gehen.
Als Nächstes wollte Kappe die ehemaligen Kollegen von der Kriminalpolizei per Telefon über den Toten informieren – anonym. Sie konnten ihn ja nicht einfach in der Wohnung liegen lassen.
Kappe wurde warm, das Blut rauschte ihm durch die Adern. Er fühlte sich wie neu geboren, wie aus einem Winterschlaf erwacht. Hermann Kappe war zurückgekehrt. Erst würde er das Telefonat erledigen, am besten vom nächsten öffentlichen Münzfernsprecher aus. Dann würde er heimgehen. Er hatte einen Bärenhunger. Und es wurde sowieso bald dunkel. Er glaubte nicht, dass diese Frau Berkowitz jetzt noch einmal die Wohnung verließ.