Читать книгу Geschichten aus Movenna - Petra Hartmann - Страница 5

Die Krone Eirikirs

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Ardua hielt das Buch mit beiden Armen fest umklammert. Sein Atem ging stoßweise, als er durch die Nacht hastete, mehrfach war er gestrauchelt, war lang hingeschlagen auf das scharfkantige Geröll und hatte sich üble Schürfwunden an Armen und Beinen zugezogen. Aber das Buch ließ er nicht los, obwohl der dickleibige Kodex viel zu schwer war, um von einem untrainierten, schwächlichen Jungen über weite Strecken getragen zu werden. Keuchend stürzte er voran, blickte immer wieder hastig über die Schulter zurück, doch einen möglichen Verfolger hätte er selbst bei Tage in der unwegsamen Felslandschaft nur schwer ausmachen können, um wie viel weniger in dieser mondlosen Nacht und mit flüchtigen, gehetzten Schulterblicken.

„Verwünschte Hexe!“, stieß er keuchend hervor und dachte neiderfüllt an seine Altersgenossen daheim in Mogàl, die bei ihren kriegerischen Übungen auch auf derartige nächtliche Fluchten in wüsten Felsgegenden vorbereitet worden waren. Hier in Movenna dagegen, so hatte man es seinem Vater einzureden gewusst, sei es Tradition, dass der zukünftige König zu einem der alten Kräuterweiber in die Lehre gegeben wurde. Wie hatte er nur darauf eingehen können. Ardua stolperte schwer atmend vorwärts. „Verwünschte Hexe!,“ keuchte er wieder und schaute sich im Laufen um, übersah dabei einen fast kniehohen Steinblock, stürzte und rutschte meterweit über feinkörnigen Schotter, bis er gegen eine Felswand prallte. Benommen blieb er liegen.

Das Buch hielt er noch immer umklammert, fest hatte er den in uraltes, brüchiges Leder eingebundenen Wälzer an sich gepresst, und obwohl er nun wirklich kaum noch Luft bekam, spielte ein triumphierendes Lächeln um seine Lippen. „Das hättest du nicht gedacht, Lournu, du alte Wetterhexe“, röchelte er, „dass dein kleiner Kräutersammler aus Mogàl dir deine Sprüche stiehlt.“

Langsam, sehr langsam beruhigte sich sein Atem wieder, es wurde still um ihn, nicht einmal Schotter rutschte noch nach. Offenbar hatte er seine Verfolger, wenn es solche gegeben haben sollte, tatsächlich abgeschüttelt. Er war allein. Zufrieden ließ er seine Finger über den Einband des Buches gleiten, ertastete Lederwülste, metallene Beschläge und die feingeschliffenen grünen Katzensteine aus dem nördlichen Gebirge, wo die Hexen, wie man in Mogàl erzählte, seinen Großvater getötet hatten. Das Leder war etwas abgeschabt von Arduas Sturz, doch hatten auch andere Unfälle im Laufe der Jahrhunderte an dem Buch ihre Spuren hinterlassen. Bei Tageslicht hatte er Brandlöcher im Einband sehen können, einige Seiten waren durch Bücherwürmer verstümmelt worden, und den allerletzten Zauberspruch hatte ein dunkler Blutfleck fast vollkommen unlesbar gemacht. Aber es roch gut, das Buch, es roch nach Pferden, nach Vanille, nach der uralten Magie des Landes Movenna. Warm und freundlich lag es in den Händen des jungen Prinzen, und ein bläuliches Glimmen schien von den Pergamentseiten auszugehen.

Entschlossen stand Ardua auf. Sein Atem hatte sich inzwischen fast vollkommen beruhigt, und auch der Puls schlug langsam und regelmäßig, wie ein Puls schlagen muss, wenn man sich mit magischen Dingen beschäftigen möchte. „Also, Schluss mit dem Blümchenpflücken“, murmelte er. „Jetzt wird es sich ja zeigen, ob man aus diesen Hexen nicht etwas mehr herausholen kann als Pfefferkuchenrezepte und Kräutertees.“

Als der Junge sich in Positur stellte und das uralte Buch aufschlug, zitterten seine Arme unter dem Gewicht des schweren Bandes, denn der voluminöse Wälzer war nicht für die Hände jugendlicher Hexenlehrlinge geschrieben worden, und erst recht nicht für fremde Eroberer aus den Steppen von Mogàl. Doch Ardua stemmte beide Beine fest und entschlossen in den Schotterboden und hielt den alten Kodex mit aller Kraft fast waagerecht vor sich. Nun sollte es sich erweisen, ob er nicht erfolgreicher war als sein Vater und sein Großvater, die das Land erobert und dennoch kein Glück gehabt hatten mit ihrer Herrschaft über Movenna.

Ardua schlug das Buch auf, und das bläuliche Leuchten, das von den Seiten ausging, verstärkte sich. Im Licht des Buches konnte man erkennen, wie sehr seine Arme zerschunden waren von den nächtlichen Stürzen, und die zerrissene Hose gab den Blick auf Knie und Oberschenkel frei, in deren Fleisch der feine rote Steinstaub sich tief hineingefressen hatte. Doch Ardua fühlte keinen Schmerz in diesem Augenblick.

Mit den Fingerspitzen wandte er die rauen, steifen Pergamentblätter um, eines nach dem anderen. Er blätterte langsam, ohne Hast, aber für die kunstvollen Illustrationen oder die geheimnisvoll verschlungenen Initialen, die von Hexen zahlloser Generationen geschaffen worden waren, hatte er keinen Blick übrig. Er wusste genau, was er suchte. Endlich hatte er den Zauberspruch gefunden. Er las ihn durch, zweimal, dreimal und zur Sicherheit auch noch ein viertes Mal. Dann schlug er das Buch zu und sprach ihn aus:

„In den Bergen von Movenna wohnt der alte Riese Orkon,

Hüter roter Schotterhalden,

Wächter gelber Goldesadern,

Hort der Krone Eirikirs.

Wem Movenna ist zu eigen, dem gehören auch die Berge.

Wem die Berge sind zu eigen, dem gehorcht der Riese Orkon.

Wem der Riese ist zu eigen, der erlangt des Reiches Krone

von dem alten Riesen Orkon aus den Bergen von Movenna.“

Ein Blitz jagte durch die Nacht. Genau vor seinen Füßen schlug er in den Boden, und Ardua sprang erschrocken zurück, als er in dem plötzlichen Lichtstrahl erkannte, dass die Felswand, vor der er gelegen hatte, gar keine Felswand war. Entsetzt starrte er nach oben, erblickte steinerne Knie und den unbewegten steinernen Oberkörper, breite steinerne Arme waren vor der gewaltigen steinernen Brust verschränkt, und obwohl der Felsenkoloss saß, konnte Ardua den Kopf bereits nicht mehr erkennen.

„Ho ho“, lachte eine grollende Donnerstimme auf ihn herab, dass das Echo noch minutenlang die Berggipfel erzittern ließ. „Wer ruft nach Orkon?“

„Ich bin es“, rief Ardua fest und laut zu ihm hinauf und hoffte, der Riese werde das Zittern seiner Stimme überhören. „Ardua, Sohn des Königs Jurtak und Kronprinz von Movenna. Als dein Herr und Meister gebiete ich dir, Orkon: Bring mir die Königskrone Eirikirs, die in allen Stämmen Movennas geehrt und geachtet ist. So lautet mein Befehl.“

Irgendetwas war falsch, entsetzlich falsch, etwas stimmte nicht, schoss es Ardua durch den Kopf. Klein und demütig hätte der Riese vor dem Meister des Zauberspruchs erscheinen müssen und auf seinen Befehl hin die strahlende Krone des Eirikir herbeibringen sollen. Aber von einem solchen Gelächter, wie es nun ertönte, hatte in Lournus Buch nichts gestanden. Mit fliegenden Fingern begann er erneut zu blättern, zerriss beinahe in seiner Hast eine der Seiten, endlich fand er das Blatt mit der Zauberformel, deren Buchstaben wirr vor seinen Augen zu tanzen begannen. Ardua stöhnte auf, als er den Butterfleck und einige verschmierte, kaum noch sichtbare Zeichenreste am Ende des Spruches bemerkte. Zwei Verse, mindestens zwei, waren hier verlorengegangen, verschwunden unter dem Geruch von ranziger Butter und frischem Pfefferkuchen, und nur noch Lournu selbst mochte wissen, wie man die Beschwörung Orkons korrekt zu Ende brachte. „Verwünschte Hexe!“, stieß Ardua ein drittes Mal hervor und taumelte rückwärts.

Der Steinblock hatte sich noch immer nicht bewegt, nur das Lachen beruhigte sich langsam. „Ho ho“, lachte Orkon ein letztes Mal, „ein fluchender kleiner Moglàt mit ’nem Buch. Und Eirikirs Krone will er haben. Sowas Komisches ist mir ja noch nie in den Weg gekommen.“

„Ich ...“ stammelte Ardua und wich weiter zurück, „ich – meine Mutter war eine Moven’Am. Jurtak mein Vater nahm eine Steppenprinzessin aus dem Stamm der Nearith zur Frau und machte sie zu seiner Königin. Ich bin ein echter Sohn Movennas ...“

Der Felsgigant antwortete nichts. Wieder wich Ardua einen Schritt zurück und versuchte gleichzeitig, in dem Buch einen, irgendeinen, hilfreichen Spruch zu finden. Aber die Zeichen waren plötzlich fremd und unlesbar geworden, und er erkannte keinen einzigen Buchstaben mehr. „Mein Vater gab mich zu Lournu der Hexe in die Lehre“, rief er ängstlich. „Sie soll mich in der Geschichte Movennas unterweisen – glaub mir, ich werde deinem Land ein guter König sein, wenn ...“ Ein weiterer Schritt rückwärts, dann noch einer und –

„Bleib stehen!“, herrschte ihn Orkon mit Donnerstimme an. Ardua erstarrte. „Ich glaube, ich muss mir dich einmal aus der Nähe betrachten. Momentchen, ich komme runter.“ Oben auf den Knien des Steinriesen bewegte sich etwas. Eine kleine, flinke Gestalt ließ sich über die Kante des linken Knies gleiten, rutschte daraufhin eher gemächlich das Schienbein herunter und sprang vom Fuß in den Schotterkies hinein. Ein kleiner, verhutzelter Zwerg, der Ardua nicht einmal bis zum Bauchnabel reichte, kam auf den jungen Prinzen zu, blieb vor ihm stehen und musterte ihn kritisch von oben bis unten. „Du hältst das Buch verkehrt herum“, stellte er fest.

Ardua wurde rot bis über beide Ohren. Hastig schlug er das Buch zu und schnaubte unwillig: „Das geht dich gar nichts an. Wer bist du überhaupt?“

Aber der Zwerg ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Gelassen lehnte er sich gegen den großen Zeh des Felsgiganten und fuhr fort, Ardua zu mustern. Schließlich zog er seine alte, zerkaute Tabakspfeife hervor, die er umständlich zu stopfen begann. „Man sollte meinen“, nuschelte er undeutlich mit dem Pfeifenrohr zwischen den Zähnen, „man sollte meinen, du wüsstest, wer ich bin. Immerhin hast du eben noch laut und deutlich nach mir gerufen.“

„Dann bis du – du bist ...?“, japste Ardua überrascht.

„Orkon der Bergriese, ja“, bestätigte der Zwerg. Er hatte inzwischen einen Holzspan entzündet und hielt die linke Hand schützend vor Flamme und Pfeifenkopf. Ardua betrachtete das putzige Männchen, das dort am Zeh des Steinriesen lehnte und an seiner Pfeife sog, mit großen, runden Augen. Endlich hatte der Tabak Feuer gefangen, Orkon der Zwerg begann vergnügt, vor sich hin zu paffen, und verbreitete einen schweren, nicht unangenehmen Vanillegeruch um sich.

„Aber wenn du Orkon bist“, fragte Ardua unsicher, „wer ist dann das da?“

„Wer?“ Der Zwerg blickte sich verwirrt um. „Ach, du meinst das da, das Steindingsbums?“ Er zuckte die Achseln. „Das haben die Menschen gebaut, vor langer Zeit. Ich glaube, es stellt König Eirikir dar, den letzten der sieben großen Könige. Weißt du, ich wohne da oben in seinem Bauchnabel, der ist sehr geräumig und schön trocken, muss man sagen.“

Ardua lachte. Er lachte fast so laut wie Orkon vorhin gelacht hatte, nur dass die Berge dabei nicht zitterten. Sogar das Buch musste er loslassen, um sich den Bauch halten zu können, so sehr lachte Ardua. „Und vor so einem lächerlichen Winzling habe ich Angst gehabt“, lachte er lauthals, „es ist wirklich zu komisch.“

Orkon der Bergriese schmauchte gemütlich weiter vor sich hin und betrachtete mit unbewegtem Gesicht den jungen Königssohn, der sich nur langsam wieder beruhigte. Erst als Ardua nach einigen Minuten mit seinem Gelächter zum Ende gekommen war, nahm der Zwerg die Pfeife aus dem Mund und brummte: „Ein halbausgebildeter Halb-Moglàt will mit einem halben Zauberspruch die Krone Eirikirs erlangen. Wer von uns beiden ist hier wohl die größere Witzfigur? Also, besser noch klein als halb.“

„Entschuldigung“, murmelte Ardua. Er streckte dem Zwerg die Hand entgegen. „Es tut mir leid, nimm’s bitte nicht übel.“

Orkon übersah die ausgestreckte Hand. Aber er blickte nicht unfreundlich dabei. „So, also du willst die Krone Eirikirs nach Hause tragen. Weißt du denn auch, dass keiner der sieben kleinen Könige, die nach Eirikir kamen, die Krone gefunden hat? Und sie waren alle hier und haben mich gerufen mit ihrem Zauberspruch. Mit dem ganzen Spruch, wohlgemerkt. Glaubst du etwa, ein komischer kleiner Halb-Moglàt kann erreichen, woran sieben echte Könige Movennas aus dem Stamm König Surbolds gescheitert sind?“

„Die sieben kleinen Könige waren Schwächlinge“, sagte Ardua selbstbewusst. Jedenfalls hoffte er, dass es sich selbstbewusst anhörte. „Sie waren die kraftlosen Erben einer großen Zeit, die mit König Eirikir beendet war. Aber ich bin der Spross einer neuen Dynastie. Mein Großvater König Harvart eroberte Movenna durch die Kraft seines Schwertes. Mein Vater König Jurtak errichtete und festigte eine neue Königsherrschaft, wie es sie seit Eirikirs Tagen nicht mehr gegeben hat. Ich bin fähig, die Krone zu tragen, glaube mir. Bitte, lass es mich versuchen.“ Bei dem letzten Satz hatte Ardua seinen typisch mogalithischen Kinderblick eingesetzt. Lournu hatte er damit noch jedesmal herumgekriegt. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er auch auf Wesen wirkte, die ihm nur bis zum Bauchnabel reichten.

„Und obendrein würdet ihr damit endlich so etwas wie Achtung bei den Moven’Am erlangen“, ergänzte der Zwerg Arduas Rede und ignorierte demonstrativ den herzensbrecherischen Kinderblick.

Der junge Prinz nickte. Selbst wenn man die stärkeren Waffen auf seiner Seite hatte, war es nicht angenehm, von den Eingeborenen als unerwünschtes Usurpatorenärgernis betrachtet zu werden. Die Krone Eirikirs konnte dem Königshaus der Moglàt eine Legitimation verleihen, die einen Mangel an Ahnen mehr als wettmachte. „Lass es mich versuchen, bitte“, bettelte Ardua.

Der Zwerg schwieg. Langsam kletterte er den großen Zeh Eirikirs hinauf, bis er genau auf der Höhe von Arduas Gesicht angelangt war. Er fasste den Jungen unters Kinn und blickte ihm prüfend in die Augen. „Es ist wirklich zu schade, dass du nie König werden wirst“, murmelte er. „Wir hätten sicher viel Spaß miteinander. Aber wenn du darauf bestehst, gut, du sollst deine Chance haben.“ Ardua jubelte hell auf. „Freu dich nicht zu früh, mein Kleiner“, warnte der Zwerg. „Wer die Krone Movennas finden will, der muss den Pfad der Träume und Alpträume gehen, und selbst wenn er schließlich den Saal der Krone erreichen sollte, so ist noch nichts, aber auch wirklich gar nichts, dadurch gewonnen.“ Mit einem gewagten Salto kam Orkon vom Zeh des alten Königs herabgesprungen, dass der Schotterkies nach allen Seiten davon spritzte. „Ich sage dir jetzt die Regeln für den Weg zur Krone. Und es ist wichtig, dass du sie dir vollständig einprägst. Jede auch noch so winzige Abweichung bedeutet das Ende deines Weges. Dann verschwindet die Krone im Inneren der Berge, und sie wird sich von dir nie wieder berühren lassen. Hast du das verstanden, kleiner Prinz?“

Ardua nickte ehrfürchtig.

„Also“, sagte Orkon, „das Wichtigste, das überhaupt Aller-Allerwichtigste auf deinem Weg ist: Du darfst nicht sprechen. Kein einziges Wort, kein lauter Angstschrei, kein noch so leiser Seufzer darf über deine Lippen kommen, bevor nicht die Krone sicher und fest auf deinem bezaubernden Prinzenköpfchen sitzt. Kein Wort von jetzt an, verstanden?“

Ardua biss sich fest auf die Lippen und nickte. Die Bedingung war leicht zu erfüllen. Schließlich galten die Moglàt nicht gerade als Schwätzer, nein ganz gewiss nicht.

„Der Rest ist einfach“, fuhr der Zwerg, inzwischen wieder gemächlich geworden, fort. Er lehnte mit untergeschlagenen Armen an Eirikirs Zeh und plauderte im Tonfall movennischer Märchenerzähler: „Die ersten hundert Schritte musst du in absoluter Dunkelheit zurücklegen. Zähle sie sorgfältig mit, aber sprich die Zahlen nicht aus. Nach einhundert Schritten wird dir ein Licht erscheinen. Und was immer auch geschehen mag: Diesem Licht musst du folgen. Du wirst Spukgestalten sehen, die furchterregendsten Gestalten von ganz Movenna, vielleicht auch schöne, verlockende Bilder. Aber achte nicht darauf. Folge du nur immer deinem Licht, und es wird dich durch das Innere der Berge geleiten bis hin zu dem großen steinernen Saal, in dem die Krone Eirikirs seit neun Königsaltern verborgen ruht. Dann fasse sie an, mit beiden Händen, hebe sie hoch in die Luft, dann setze sie dir aufs Haupt, und wenn du das getan hast, wird sie unangefochten dein sein, und auch die Krone deiner Kinder und Enkelkinder. Aber du darfst nicht sprechen, bis zu diesem Moment. Denn sonst zerbricht der Pfad unter deinen Füßen, und die Krone Eirikirs sinkt zurück in die unerreichbaren Tiefen der Berge. Hast du das alles begriffen?“

Ardua nickte schweigend.

„Nun gut!“, rief Orkon. Er richtete sich hoch auf, und plötzlich kam es Ardua so vor, als sei er doch ein Riese, der mit seiner gewaltigen Faust zwischen Eirikirs Beinen gegen den Fels schlug. Donnernd fuhren die Steinmassen auseinander.

Ardua schluckte lautlos, fast hätte er aufgeschrien vor Entsetzen. Schwarze, undurchdringliche Finsternis breitete sich hinter dem Felsriss aus, zwei Schritte weit konnte er noch sehen, doch was danach kam, was dort hinten im Dunkel auf ihn lauern mochte, das –

„Und denk daran: keinen Laut, sonst ist alles verloren!“, brüllte der Bergriese ihn an. Er packte Ardua mit der Faust am Kragen und warf ihn hinein in die Dunkelheit. Noch während er durch die Luft segelte, schlossen sich die Felswände hinter ihm.

Er stürzte auf unebenen Schotterboden und schlug mit dem Ellenborgen gegen eine Felskante. Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte er sich auf, hastete in der ersten Panik zurück zur Tür, doch seine ausgestreckten Hände fuhren ins Leere. Wohin er sich auch wandte, der lichtlose Raum schien in keiner Richtung eine Begrenzung zu haben. Um ihn war Dunkelheit. Dunkelheit und absolute Stille. Und die Angst, die langsam heran kroch, mit jedem Herzschlag ein Stück näher. Hätte sich in diesem Augenblick eine Hand auf seine Schulter gelegt, der mogalithische Prinz wäre in hysterisches Schreien ausgebrochen und in wahnsinniger Flucht davon gestürzt. Doch nichts dergleichen geschah.

Ardua, der unendliche Herzschläge lang wie erstarrt in der Finsternis gestanden hatte, fasste sich endlich. Einhundert Schritte, hatte der Riese verlangt. Dummerweise hatte er nicht gesagt, in welcher Richtung er gehen sollte. Doch Ardua hatte bei seinem hilflosen Herumtasten inzwischen ohnehin vollständig die Orientierung verloren. So konnte er kaum mehr tun, als aufs Geratewohl vorwärts zu stolpern, blindlings durch den wandlosen Raum, der nicht nur alles Licht zu verschlucken schien, sondern auch alle Geräusche. Ardua versuchte verzweifelt, wenigstens das Knirschen des Steinschotters unter seinen Füßen zu hören, doch selbst seine tastenden Schritte auf dem unebenen Fußboden blieben vollkommen lautlos. Siebzehn, achtzehn, neunzehn, zählte er in Gedanken peinlich genau mit und widerstand der Versuchung, die Zahlen laut auszusprechen. Langsam verstand er, warum Orkon ihn ausdrücklich vor dem Sprechen gewarnt hatte. Dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig. Denn das Schweigen des Raumes schien einen fast unwiderstehlichen Sog auf ihn auszuüben. Immer stärker wurde der Drang, ein lautes Wort zu sprechen, ein einziges nur, um die Stille zu zersprengen. Dies musste der Punkt gewesen sein, an dem die sieben kleinen Könige gescheitert waren. Zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierundfünfzig. Irgendwo hier musste es passiert sein, sie hatten die undurchdringliche Lautlosigkeit nicht mehr ausgehalten, der Druck war zu groß für sie, und sie zerbrachen mit dem Schweigen auch ihren Pfad. Neunundsiebzig, achtzig, einundachtzig. Doch in Mogàl lernte man, sich zu beherrschen, er würde durchhalten, ganz sicher. Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig und Einhundert ...

Ardua fuhr erschrocken zusammen, als das Licht vor ihm aufflammte, obwohl er die ganze Zeit über darauf gewartet hatte. Eine helle Stichflamme schoss genau vor seinen Füßen in die Höhe, und er erkannte schaudernd, dass das Geröll, auf dem er stand, nicht der Boden eines endlosen Raumes war: Unter seinen Füßen befand sich nichts als ein lächerlich schmaler Pfad aus weißem, geharktem Kies. Kaum breiter als eine Armeslänge spannte sich der Weg in flachem Bogen über einen schwindelerregenden Abgrund, und beide Wände der Schlucht waren so entsetzlich fern, dass Ardua sie kaum erkennen konnte. Unter ihm in der Tiefe wich die Erde zurück, bodenlose Felsklüfte taten sich auf und schienen ihn zu rufen in ihrer unerbittlichen steinernen Lautlosigkeit. Der Kronprinz taumelte. Angstschweiß brach ihm aus, er sank in den Kies nieder, umklammerte den brüchigen Pfad fest mit beiden Armen. Die Moglàt waren Steppenbewohner, erinnerte er sich schmerzlich, und den Blick aus größeren Höhen nicht gewohnt. Schon beim Aufstieg zu den Wachttürmen der alten Grenzfestung Ira hatte er vor Jahren einen furchtbaren Anfall von Höhenangst erlitten, aber dieser Abgrund, der an seinem Magen sog und vor seinen Augen zu wirbeln begann, ließ selbst den höchsten Turm von Ira wie ein Kinderspielzeug erscheinen.

Es wurde dunkler um ihn, und Ardua stellte mit Schrecken fest, dass sein Licht bereits ein gutes Stück von ihm entfernt war und sich zielstrebig dem Ende der Kiesbrücke zubewegte. Zornig schüttelte er den Kopf, bis das Schwindelgefühl verflog, raffte sich auf, hastete der Flamme hinterher und hatte sie bald wieder eingeholt. Den Blick geradeausgerichtet, folgte er dem Licht, tappte mit weichen Knien den Kiesweg entlang und hütete sich, in die Tiefe zu sehen, aus der die scheußlichsten Fratzen Movennas zu ihm herauf grinsten und boshaft zu kichern schienen. Ardua beachtete sie nicht, er folgte nur seinem Licht und erreichte endlich die rettenden Felsen am anderen Ende.

Hier wurde der Weg breiter, fast war es eine Freude, auf ihm zu gehen, und beinahe war er versucht, ein fröhliches Liedchen vor sich hin zu pfeifen. Doch er war sich nicht sicher, ob das Pfeifen nicht ebenfalls verboten war auf diesem Weg, so ließ er es besser bleiben. Das Licht setzte gemächlich seine Wanderung fort, und Ardua trottete ergeben hinterdrein.

Endlich tat sich vor ihm ein hohes Felsentor auf. Die Flamme tänzelte durch den Torbogen hindurch, und als Ardua folgte, fand er sich im Innern eines geräumigen Saales wieder, der bis zur Decke angefüllt war mit Gold, Diamanten und Schmuck jeglicher Art. Der Moglàt atmete tief ein. Er war seinem Ziel jetzt ganz nahe, das spürte er.

Der Geruch der Schatzkammer weckte eigenartige Erinnerungen in dem Prinzen. Das Bild Lournus und ihres kleinen gemütlichen Hexenhauses stieg vor ihm auf, und Ardua schüttelte unwillig den Kopf. Lournu. Wie kam es, dass er ausgerechnet jetzt an Lournu denken musste? Er streckte die Hand aus und griff wahllos nach einer der Goldmünzen. Die Münze roch nach Lournu und fühlte sich seltsam weich an. Als er wie ein Münzprüfer auf den movennischen Marktplätzen in die Münze hineinbiss, wusste er, was hier nach Lournu roch: Pfefferkuchen. Die Schätze des Saales bestanden ausnahmslos aus Pfefferkuchen, den süßesten und duftigsten, die Lournu jemals gebacken hatte.

Aber dem jungen Prinzen stand der Sinn nicht nach Süßigkeiten. Unwillig schleuderte er die Münze weit von sich, und mit leisen Zischen löste sich der Kuchenspuk in Luft auf.

Ardua blickte sich um. Der Saal war leer. Leer bis auf einen hohen Steinsockel in der Mitte des Raumes. Fast hätte er einen lauten Jubelschrei ausgestoßen, als er erkannte, was dort auf dem Sockel ruhte. Dort lag sie, unberührt seit neun Königsaltern, und barg alle Macht und Herrlichkeit Movennas in sich. Zögernd trat Ardua näher. Er betrachtete die sagenumwobene Krone Eirikirs mit großen, runden Moglàt-Augen. So wundersam strahlend hatte er sich die Krone Movennas nicht vorgestellt. Sie glänzte und funkelte wie von tausend Mittagssonnenstrahlen, und noch der kleinste ihrer Edelsteine war so kostbar, dass man ihn für ein ganzes Lehen zum Pfand setzen konnte.

Auf der Krone aber hockte ein winziger, schrumpeliger Zwerg, noch kleiner und hutzeliger als Orkon der Bergriese, der hatte eine so unfassbar-fürchterlich große Nase, wie man sie in Movenna und Mogàl noch niemals zu Gesicht bekommen hatte.

„Mein Gott, was für eine große Nase!“, rief Ardua überrascht aus.

Eine zornige Zwergenhand versetzte ihm eine Ohrfeige, deren Klatschen den gesamten Felsensaal zum Dröhnen brachte. Im selben Augenblick zerbarst der Weg unter seinen Füßen in Milliarden von Steinsplittern, in einer Lawine aus Kies und Staub wurde Ardua in die Tiefe gerissen, stürzte hinab in den Abgrund, der Erdboden raste ihm entgegen, bis er donnernd aufschlug.

Der Aufprall war so heftig, dass die Berge erzitterten. Ardua erwachte und fand sich lang ausgestreckt auf Lournus Zauberbuch wieder. Seine rechte Wange brannte wie Feuer. Im Rot der aufgehenden Sonne glühte König Eirikirs Steinbild über ihm, und tanzender rötlicher Steinstaub kratzte in seinem Hals, der trocken und ausgedörrt war wie nach einem mehrtägigen Wüstenmarsch.

Eine faltige Hand reichte ihm eine Trinkflasche. Ardua griff fiebernd zu und trank in gierigen Schlucken.

„Tut es sehr weh?“, fragte Lournu besorgt.

Ardua schüttelte heftig den Kopf und bereute die Bewegung sofort, als der Wind in die Wunde auf seiner Wange griff, eine winzige glührote Brandwunde mit fünf schmalen Fingern wie von einer sehr kleinen Hand. Aber er bemühte sich, tapfer zu lächeln.

„Das ist gut“, seufzte die Hexe. „Zwergenwunden heilen nie.“

Sie half ihm vorsichtig beim Aufstehen und tastete seine Arme und Beine ab. „Für das andere habe ich Salben. Wir werden dich schon wieder in Ordnung bringen, kleiner Prinz.“

Ardua winkte ab. „Später“, sagte er. „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich vorher noch gern dein Pfefferkuchenrezept lernen. Ich fürchte, ich habe beim letzten Mal nicht richtig aufgepasst.“

Gestützt auf die alte Waldhexe hinkte Ardua auf dem unebenen Schotterweg zurück zum Hexenhaus, und zum ersten Mal in seinem Leben hatte er dabei das Gefühl, nach Hause zu kommen.

Geschichten aus Movenna

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