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Das letzte Glied der Kette

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Man konnte den fremden Eroberern eine ganze Menge nachsagen. Nur das eine nicht, dass sie es nämlich nicht verstanden, Feste zu feiern. Zwar Harvart aus Mogàl, der das Land mit seinem Heervolk überzogen hatte, war noch das alte Raubein von Kriegerkönig geblieben, als er sich selbst zum neuen Herrscher Movennas ernannte, und er hatte auf jeden Pomp verzichtet. Doch schon sein Sohn Jurtak hatte seine Krönungsfeierlichkeiten als eine solche Demonstration von Macht und Pracht begangen, wie man es im Lande noch niemals erlebt hatte. Nicht zu Zeiten der sieben großen Könige, ja nicht einmal als die sieben kleinen Könige regierten, die doch für ihren Reichtum und ihre Prunkliebe berühmt gewesen waren. Da hatte es Waffenspiele gegeben und Gelage und die grausigsten Hinrichtungen, die ein mogalithisches Herz sich nur erträumen konnte, daneben Gesang und Tanz und Theateraufführungen in der kostbarsten Ausstattung. Bier und Wein waren in Strömen geflossen, und noch Jahre später sprachen selbst die entschiedensten Gegner Jurtaks mit Anerkennung, ja mit Begeisterung von dieser Krönungsfeier.

Und doch waren die Krönungsfeierlichkeiten Jurtaks nichts im Vergleich zu den überwältigenden Spielen, die der König am zehnten Geburtstag seines Sohnes und Kronprinzen Ardua gab. Denn Ardua, so war es Jurtaks Wille, sollte dereinst als sein Erbe die Herrschaft über Movenna antreten und die noch junge mogalithische Königsdynastie im Lande fortsetzen. Und so war es wichtig, dem Volk der Moven’Am den jungen Prinzen als Herrn der Festspiele zu präsentieren und als freigebigen Fürsten, der mit Gold und Geschenken nicht sparte. Zwei ganze Wochen lang hallten die Straßen der mächtigen Reichshauptstadt Pol Movenn wider von Trompetenklang und Saitenspiel, Hufschlag und Schwerterklirren, und jeden Tag ritt der Kronprinz in einem prächtigen Umzug durch die Stadt zum Festplatz hinaus, streute aus vollen Händen Goldmünzen mit seinem Bildnis unters Volk und ließ sich huldigen. Draußen auf dem Festplatz aber saß er dann auf einem gewaltigen goldenen Thron an der Seite seines Vaters Jurtak und sah gemeinsam mit dem Volk den Spielen zu, die zu seinen Ehren gegeben wurden, lauschte den berühmtesten Barden des Reiches und ergötzte sich an den Reiterkämpfen, für die sich die Moglàt seit jeher begeistern konnten.

Mehr als einmal schrien die Moven’Am angstvoll auf, wenn einer der mogalithischen Reiter sein Pferd auf der Hinterhand wendete oder sich in vollem Galopp unter dem Bauch seines Pferdes hindurch gleiten ließ, um einen winzigen Goldreif vom Boden aufzugreifen. Die fremden Reiter aus den östlichen Steppen, so hieß es, hatten ihr gesamtes Leben auf dem Rücken ihrer Pferde zugebracht, und daheim in Mogàl, so erzählte man sich in Movenna, aßen und schliefen sie sogar im Sattel. So war es kein Wunder, dass ihre Kunst den Moven’Am bei diesen Spielen den Atem raubte.

Einzig die Nearith, die im Grenzland zwischen Movenna und Mogàl lebten, konnten mit den Reitern der Eroberer konkurrieren, und groß war der Jubel auf dem Festplatz, als ein junger Häuptlingssohn aus den nearithischen Steppen das große Ringstechen vor allen mogalithischen Reitern gewann und einen goldenen Ehrenpokal aus den Händen Arduas empfing. Die Ehre Movennas schien gerettet mit diesem Sieg, und auch die Moglàt stimmten in die Beifallsrufe des Volkes mit ein, denn zum einen galten die Nearith als ein vor Jahrhunderten nach Movenna eingewanderter Stamm der Moglàt, zum anderen aber war Arduas Mutter eine nearithische Prinzessin gewesen, und so blieb auch dieser Sieg in der Familie der neuen Dynastie.

Auch Jurtak und Ardua lauschten dem nicht enden wollenden Jubel auf dem Festplatz. Jurtak mit der zufriedenen Miene eines Staatsmannes, dem ein schwieriges Projekt gelungen war, und Ardua mit großen runden Kinderaugen, wie sie die schmaläugigen Steppenbewohner fast alle bekommen hatten in den farbenfrohen Landschaften Movennas, doch Arduas Augen waren besonders rund und glänzend, selbst für einen Moglàt.

Endlich hob Jurtak die Hand, und ein schmetternder Fanfarenstoß aus hundert Trompeten schallte über den Platz. Sofort trat Stille ein. Aller Augen richteten sich auf den König, der sich von seinem Sitz erhoben hatte und sich in einer feierlichen Ansprache zugleich an den Prinzen und an das Volk der Moven’Am wandte: „Ardua, mein Sohn“, hallte seine Stimme weithin über die Köpfe der Zuschauer bis hin zu den Knechten und Tagelöhnern ganz hinten in den letzten Reihen des Volkes. „Du bist der Erbe zweier großer Nationen und wirst dereinst an meiner Statt die Krone dieses Reiches tragen. Zwei Wochen lang habe ich dich dem Volk gezeigt, und du hast die Huldigungen deiner zukünftigen Untertanen entgegengenommen. Empfange nun zu deinem Geburtstag das letzte Geschenk deines Vaters und des Landes Movenna.“

Wieder hob Jurtak die Hand, und ein erneuter Fanfarenstoß erschütterte die Luft. Mit weitaufgerissenen Augen starrten die Moven’Am auf den Kampfplatz und erwarteten gespannt die neuen Sensationen, die jetzt kommen sollten. Pferde mit glänzendem Fell und bebenden Nüstern mussten nun heran galoppieren, gewandte, sehnige Steppenkrieger und Magier der Reitkunst, noch großartigere Darbietungen als bisher erwartete das Volk.

Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen teilten sich die Reihen der mogalithischen Krieger und gaben den Blick auf einen einzelnen, alten Mann frei, ein Greis mit wallendem weißen Bart und lang auf die Schultern niederfallenden weißen Locken kam zu Fuß auf den Kampfplatz geschritten, langsam, feierlich, einen Schritt nach dem anderen, trat er in die Mitte der Arena, senkte in einer kurzen, ruckartigen Bewegung vor dem König und seinem Sohn den Kopf und schlug dann seinen weißen, weitgebauschten Mantel zurück.

„Das ist ja Rimuric!“, rief plötzlich einer der Moven’Am in die atemlose Stille hinein.

Rimuric! Der Name flog von Mund zu Mund, erst flüsternd, dann jubelnd, aufjauchzend. „Heil Rimuric!“, rief, schrie, brüllte die Menge, dass man für einen Augenblick befürchten musste, die Mauern Pol Movenns könnten einstürzen. „Heil Rimuric, größter Sänger Movennas!“

„Mein Gott, er ist es wirklich“, rief ein junger Schüler. „Ich habe ‚Rayan und Yvalir’ bestimmt zwanzigmal gelesen.“

„Und ich kenne beide Kranichsepen auswendig“, warf sich eine ältliche Bettelfrau in die Brust. „Und alle Diamantlieder kann ich singen.“

„Ja, er ist es“, murmelte bestätigend ein Händler aus der Seestadt Ura. „Ich kenne ihn von dem Porträt, das vorne in seiner Gesamtausgabe eingedruckt ist. Es ist kein Zweifel möglich: Dies ist Rimuric, Movennas Dichter.“

Der alte Mann hörte den Jubelrufen des Volkes eine Weile wohlgefällig zu und lächelte leise. Dann winkte er zurück zu den Reitern, und zwei mogalithische Diener trugen ihm seine Harfe herbei, ein mächtiges, volltönendes Instrument aus dunklem Winterbaumholz, auf dem goldene Rosshaarsaiten wie Windhauch säuselten.

Schon bei den ersten Tönen verbreitete sich ein ungläubiges Raunen über den Festplatz. Die Unruhe steigerte sich, doch griff der Greis gleichmütig tiefer in die Saiten hinein und schien den Sturm nicht zu bemerken, den er entfesselte mit dieser Melodie. Denn das Lied, das er spielte, kannte wohl jeder Moven’Am auswendig, jeder einzelne. Noch vor einigen Monaten war ein junger Bursche hingerichtet worden, der es in einer Schenke gesungen hatte. Mit leuchtenden Augen lauschten die Moven’Am, als Rimuric das Lied sang, die alte Kette der movennischen Könige, der wahren Herrscher Movennas:

„Surbold als erster war König Movennas

ihm folgte sein schöner Sohn Vidger

dann Glaukos und Henna

Katlyna Selanna

und Wulfric der König der Schwerter

von hoher Gestalt war Eirikir",

sang Rimuric mit einer Stimme wie Sturm und Ewigkeit, machtvoll tönte das Lied des alten Sängers über Mauern und Türme Pol Movenns, griff nach den Herzen des Volkes, das berauscht und bestürzt zugleich den alten Worten lauschte. Zaghaft, dann mächtiger werdend, fielen die ersten Stimmen in Rimurics Gesang mit ein:

"und Flaric ein freundlicher Mann

schönen Künsten zugetan

dann Vagn der Starke und Luthold der Rasche

mit heller Stimme auch Lathmon und Kyris

so sind die Könige Movennas

mit Lorman und Orsan

richtig aufgezählt.“

Das Lied von den Königen Movennas war gesungen worden. Und das am zehnten Geburtstag Arduas und unter den Augen der mogalithischen Garden. Scheue Blicke flogen zum Thron des Königs und seines Prinzen hinüber, doch Ardua summte nur die Melodie lustig mit und hielt das alte heilige Lied wohl für einen Kinder-Abzählvers. Jurtak aber blickte mit gespanntem Gesichtsausdruck und einem seltsam zufriedenen Lächeln auf den Sänger, der noch immer die Saiten rührte und weiterspielte, obwohl die Kette nun zu Ende gesungen war. Doch Rimuric spielte noch immer, noch immer spielte der alte Dichter. Dann öffnete er erneut den Mund. Und sang. Sang nach der Melodie der alten Kette. Dies waren seine Worte:

„Drauf Harvart der Große mit Heermacht gewann er

und mächt’gem Gefolge Movenna

Jurtak sein Erbe voll Umsicht und Weitblick

errichtet von neuem das Reich

aber als Stolz seiner Väter

strahle im Ruhme der Herrschaft

Ardua Blüte Movennas.“


*

Das Volk ging schweigend auseinander. Und wieder einmal fragte sich König Jurtak, was er von diesen Moven’Am eigentlich wusste. Eigentlich sehr wenig, schloss er seine Grübeleien ab, eigentlich so gut wie gar nichts. Nur das eine hatte sich wieder einmal als unerschütterliches movennisches Naturgesetz erwiesen, und das war die verwünschte Gelassenheit, die bei diesen Leuten immer wieder bei den unpassendsten Gelegenheiten zu Tage trat. Jubelrufe hatte er erwartet oder auch Unmutsäußerungen des Volkes, in jedem Fall aber erregte Diskussionen darüber, dass der König die Kette öffentlich hatte vortragen lassen. Doch in den Gesichtern der Untertanen war nichts zu lesen. Mit gleichmütigen Mienen trennten sie sich, sie gingen auseinander, ohne ein Wort oder auch nur einen Blick zu wechseln, jeder seines eigenen Weges, und Jurtak sah sich plötzlich allein mit seinen Moglàt auf dem Festplatz zurückgelassen und gab rasch das Zeichen zum Aufbruch, um die Entzweiung beider Nationen nicht allzu offenkundig werden zu lassen. Mit lautschallenden Fanfarenstößen trabten die Moglàt zurück nach Pol Movenn, und inmitten des Heervolks der kühnen Reiter wippte auf seinem Pony Prinz Ardua auf und ab und streute Goldmünzen aus, die niemand mehr aufsammelte.

Einzig Rimuric, der greise Sänger, blieb auf dem Platz zurück. Seine Hände glitten noch immer über die Saiten der Harfe. Noch einmal spielte er die Melodie der Königskette. Ein versonnenes Lächeln lag auf seinen Lippen, als er die Worte sang, die alten und die neuen Verse, würdig einer großen Tradition und des größten Dichters der Moven’Am. Die Kranichsepen hatten seinen Ruhm begründet, und die Diamantlieder konnte man in den Städten Movennas an jeder Straßenecke singen hören. Die Geschichte von Rayan und Yvalir schließlich war so tief in die Herzen des Volkes eingedrungen, dass viele sie für eine alte movennische Sage hielten, und nicht für die Dichtung, die sie war. Aber erst jetzt, fühlte der alte Dichter, erst jetzt hatte er sein wahres, sein größtes Werk geschaffen, als er die neuen Verse an den heiligen Gesang anfügte. Und so die längst vergangene Zeit der Heroen mit der kräftigen Gegenwart einer neuen Epoche verknüpfte. Ein letztes Mal spielte er das Lied der Könige, dann nahm er die schwere Winterbaumharfe auf und schlug den Weg zur Stadt ein.

Oh, er hatte es sich wahrlich nicht leicht gemacht. Niemand würde sagen können, er habe leichtfertig gehandelt oder sich gar kaufen lassen. Der Dichter kicherte leise, als er an Jorn zurückdachte. Jorn, der alte Waffenmeister Jurtaks, der schon unter Harvart gedient hatte. Ein beeindruckender Mann, zweifellos, dieser alte Kämpe in der verbeulten Rüstung, die er noch trug aus der Zeit, als er das Land erobert hatte. Zweimal erobert hatte, zuerst unter Harvart, dann ein zweites Mal als Mentor des jungen Königs Jurtak.

Rimuric sah den Helden noch immer vor sich stehen, breitbeinig im Wohnzimmer, genau vor dem Bücherregal, vor dem er keinerlei Ehrfurcht zu haben schien.

„Bist du der Dichter Rimuric?“, tönte seine raue Stimme in die Ohren des Sängers. „Der, den sie den Barden Movennas nennen?“

„Es mag wohl sein, dass mich der eine oder andere so genannt hat“, entgegnete der Verfasser der Yvalir gelassen.

Da griff der Krieger in seinen Brustharnisch hinein. „Das hier schickt dir mein König.“

Ein prallgefüllter Lederbeutel segelte durch die Luft und schlug schwer auf dem Schreibtisch Rimurics auf. Der volle, satte Klang hatte wenig gemein mit dem Geräusch, das eine normale Poetenbörse beim Aufprall verursachte.

„Einhundert movennische Reichstaler Königsgold“, verkündete Jorn prahlend. „Wenn du mich fragst, ein stolzer Preis für ein wenig Reimerei, aber Jurtak muss ja wissen, was er tut.“

Da ergriff Rimuric den Beutel mit den Münzen, wog ihn gleichmütig in der Hand und warf ihn schließlich ebenso gleichmütig zum Fenster hinaus.

„Sag deinem König“, lächelte er Jorn an, „Movennas Dichter habe keine Verwendung für mogalithisches Gold.“ Und als Jorn aus dem Haus stürzte, um den kostbaren Dichterlohn wieder aufzulesen, hatte der Barde Movennas die Tür hinter ihm verschlossen.

Rimuric lächelte vor sich hin bei der Erinnerung an diesen Abgang des riesenhaften Moglàt. Man sollte es nicht für möglich halten, wie sich ein alter schwacher Mann bei einem solchen Fleischberg in Achtung setzen kann.

Inzwischen hatte er sein kleines Häuschen erreicht, das ein wenig außerhalb der Mauern auf einer kleinen Anhöhe lag. Wohlgefällig glitten seine Augen über den gepflegten Vorgarten und über die vielen bunten Blumen, deren Farbenpracht auch jetzt noch, im Licht der untergehenden Sonne, eine außerordentliche Leuchtkraft hatte. Nur wenige Dichter konnten einen solchen Garten ihr eigen nennen, dachte Rimuric stolz. Und nur wenige Dichter hätten je einen Krieger wie Jorn ihrer Wohnung verwiesen. Während er die Haustür aufschloss, wanderten seine Gedanken erneut zu Jorn und zu dem Boten, der nach ihm gekommen war. Wieder kicherte er. Und dachte an Gulltong, den geschmeidigen Ratgeber Jurtaks.

Gulltong war einen Tag später bei ihm erschienen. Noch immer glaubte der Dichter in seiner Wohnung den schweren, süßlichen Parfümgeruch wahrzunehmen, den der Moglàt hinterlassen hatte. Gulltong war ein Freund schöner Worte und kannte, im Gegensatz zu Jorn, die Schriften Rimurics sehr genau.

„Ich habe stets den Wohlklang und die klugen Gedanken deiner Kranichsepen bewundert, Barde Movennas“, begann der Moglàt das Gespräch. Und als Rimuric bescheiden dankte, fuhr er fort: „Man hat mir erzählt, die Geschichte sei frei erfunden. Doch das habe ich nie so recht glauben wollen. Schon als kleines Kind daheim in Mogàl war ich überzeugt, dass eine große Wahrheit in den Versen verborgen lag. Ich habe lange darüber nachgesonnen, Rimuric. Und nun glaube ich, sie gefunden zu haben.“

„In jeder großen Dichtung liegt Wahrheit verborgen“, nickte Rimuric zustimmend. „Ich freue mich, dass mein Kranich dir so viel davon geben konnte.“

„Und dennoch erschien mir die Geschichte des Kranich um vieles wahrer als manche andere Erzählung“, lächelte Gulltong. „Du hast darin die Abenteuer eines fremden Ritters beschrieben, der aus einem sagenhaften Land im Osten nach Movenna kam. Gayol der Kranich besiegte alle Ritter des Reiches, denn er war stark und mutig. So erwarb er die Hand der movennischen Prinzessin, und nach des Königs Tod gewann er die Herrschaft über das Land und war ihm ein weiser und gerechter Fürst.“

„Das alles wurde in den Kranichsepen berichtet, ja“, sagte Rimuric. „Aber einen historischen Gayol hat es, wie du weißt, nie gegeben. Nicht zur Zeit der sieben großen und nicht am Hof der sieben kleinen Könige.“

„Und dennoch irrst du dich.“ Gulltong beugte sich erregt vor. „Ich spreche nicht von vergangenen Zeiten, wenn ich die Wahrheit der Kranichsepen suche. Nein, Rimuric, nicht in den alten Zeiten habe ich deinen Gayol gefunden. Als du die Verse schriebst, leitete dich ein prophetischer Geist. Nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft deines Landes hast du beschrieben. Jurtak ist es, den du verkündet hast. Dem ganzen Volk hast du, Jahrzehnte vor seiner Ankunft, den neuen König gezeigt, ohne es zu wissen.“

Rimuric wich erschrocken zurück. Doch Gulltong fasste mit beiden Händen nach seinem Arm. „Sieh es ein, Rimuric. Das Ideal eines Königs, wie du es im Gayol entworfen hast, es ist nun zum Greifen nahe.“

„Einen Eroberer und Tyrannen habe ich nicht beschrieben“, entgegnete der Barde unwillig. „Die Hände deines Königs sind mit Blut befleckt.“

„Sicher“, gab Gulltong zu. „Er hat in den ersten Jahren ein wenig härter durchgreifen müssen. Ein neues Königreich regiert sich nicht so leicht wie ein seit Generationen ererbtes. Aber sieh dich doch um in Movenna. Jurtak ist dem Volk gegenüber nun milder und großzügiger, als es je ein König aus Surbolds Stamm gewesen ist. Recht und Gesetz genießen Achtung in unseren Landen, und das neue Gesetzbuch wird selbst von Feinden des Königs gepriesen. Du selbst, alter Mann, würdest dich kaum abends auf die Straßen Pol Movenns wagen, wäre Orsan noch König. Und nahm nicht Jurtak eine movennische Prinzessin zur Frau? Achtet er etwa nicht movennische Sitten und Gebräuche? Sicher, ein Teil von ihm wird stets ein Fremder hier im Lande bleiben. Doch sein Sohn Ardua wird einer von euch sein, Rimuric. Und das ist gut so. Schau, die sieben kleinen Könige waren kaum noch stark genug, Surbolds Volk weiter zu leiten. Mit Harvart und Jurtak strömte nun neues, frisches Heldenblut durch den morschen Stamm. Eine neue Ära der Heroen wird in Movenna heraufziehen ...“ Gulltong verstummte. Er blickte den Dichter auffordernd an.

Auch Rimuric schwieg. Er war nicht sicher, was er von der ganzen Angelegenheit halten sollte. Seinen Ritter Gayol mit Jurtak zu identifizieren, schien ihm eine recht unpassende Deutung seiner Dichtungen. Und doch hatte die Vorstellung vom Heraufdämmern eines neuen Heldenzeitalters in Movenna etwas ungemein Verlockendes für den alten Barden. Denn waren nicht die Könige Lorman und Orsan schrecklich unpoetische Figuren gewesen? Undenkbar ein Epos über den alten Lorman oder darüber, wie Orsan in der letzten Schlacht um Movenna versagt hatte. Rimuric hatte stets daran gelitten, in einer Zeit nüchterner Interessenvertretung und Handelspolitik zu leben. Wie hatte er von ruhmreichen Schlachten geträumt in seiner Jugend, von Reiterkönigen wie Surbold. Was hätte er dafür gegeben, Barde am Hof König Eirikirs sein zu dürfen und dessen Taten zu besingen. Und Lorman und Orsan hatten die Mittel für das Heer dermaßen zusammengestrichen, dass Harvart der Einladung irgendwann einfach folgen musste.

„Warum erzählst du mir das alles?“, fragte Rimuric schließlich.

„Weil dein König dich braucht“, antwortete Gulltong, jedes einzelne Wort betonend. „Jurtak kennt und achtet die Macht der Barden. Dir als dem größten Dichter Movennas hat er eine Aufgabe zugedacht, wie sie ehrenvoller kaum sein kann: Es ist an dir, Rimuric, die alte und die neue Zeit zusammenzuschmieden durch ein Werk, das nur der Barde Movennas vollbringen kann: Ergänze das alte Königslied, Dichter. Schmiede ein neues Glied für die Kette Movennas. So lautet Jurtaks Befehl.“

Bei dem letzten Wort Gulltongs schoss Rimuric in die Höhe, als habe ihn eine Schlange gebissen. „Die Kette ist heilig, lieber Freund“, entgegnete er förmlich. Man hängt da nicht einfach irgendwelche Namen an.“ Wenig später hatte er den Moglàt mit einer knappen Verbeugung hinauskomplimentiert, und Gulltong war ebenso erfolglos davongegangen wie vor ihm Jorn.

Die Erinnerung an die beiden Boten Jurtaks tat dem alten Dichter wohl. Zufrieden lehnte er seine Harfe an das Bücherregal und ließ den Blick über die Buchrücken gleiten. In seinem nächsten Gedichtband würde er die Verse der Königskette aufnehmen, das machte sich bestimmt ausgesprochen gut darin. Wieder summte er die Strophe vor sich hin, während er die Kerzen auf dem Schreibtisch entzündete. Er wärmte seine Hände an den Flammen und sah vergnügt zu, wie die Schatten über die Wände huschten.

Genau so hatten die Schatten getanzt an dem Abend, als der König zu ihm gekommen war. Ja, Jurtak persönlich war in die bescheidene Hütte des Dichters herabgestiegen, um ihn um die Verse zu bitten.

„Der König vermag nichts ohne den Dichter“, hatte Jurtak gesprochen. „Die Macht des Königs ist nichts im Vergleich zu der deinen. Darum bitte ich dich heute, Barde Movennas: Erkenne mich als König an. Tu, was kein König jemals vermöchte. Vereine unsere Völker, schmiede die alte und die neue Dynastie zusammen. Ich bitte dich, Barde Movennas.“

In dieser Nacht hatte Rimuric das letzte Glied der Kette geschmiedet.

*

Ein Geräusch ließ den Dichter aufhorchen. Er lauschte. Waren da Schritte im Vorgarten? Besuch noch um diese Zeit? Doch niemand klopfte an die Tür, und die Schritte – er hatte sie sich nicht eingebildet – entfernten sich wieder. Mühsam erhob er sich aus dem Sessel und schlurfte zur Tür.

Draußen war es bereits dunkel geworden, er konnte niemanden entdecken, kein Mensch war auf der Straße unterwegs, nicht einmal eine streunende Katze war zu sehen. Doch auf der Türschwelle lag etwas. Ein kleines Büchlein lag dort, kaum größer als seine Hand, eingebunden in brüchiges, abgegriffenes Leder, und Rimuric brauchte nicht hineinzusehen, um seine Diamantlieder wiederzuerkennen.

Er hob das Buch auf und kehrte ins Haus zurück, hatte kaum wieder im Sessel Platz genommen, als draußen erneut Schritte zu hören waren. Schritte, die kamen. Schritte, die gingen. Und die prunkvolle Erstausgabe der Kranichsepen blieb vor der Tür liegen.

Die ganze Nacht über ging das so. Schritte kamen, Schritte gingen. Nie waren es laute Schritte, doch niemals bemühte sich jemand, besonders leise aufzutreten. Schritte kamen, Schritte gingen, Bücher blieben zurück, auf der Türschwelle, im Vorgarten. Tagelang, Nächte durch, Schritte kamen, Schritte gingen, wochenlang, Bücherberge türmten sich auf im Garten des Dichters, Diamantlieder, Kranichsepen, täglich wuchsen die Berge aus Versen, täglich kamen neue Bücher herzu, aus allen Teilen des Landes brachte man sie zurück, und niemand, der jemals ein Buch Rimurics besessen hatte, behielt es bei sich, wie weit der Weg auch sein mochte.

Den Dichter aber hat kein einziger Mensch jemals wiedergesehen.

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