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Nora und Mark 1995 bis 1997

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Nora hatte ihren kleinen Ford bis unters Dach gepackt und war nach Coburg gefahren. Es war Juni, und die Proben für „Figaros Hochzeit“ gingen los, Noras Einstieg ins Coburger Opernensemble. Es war ungewöhnlich, einen Sänger kurz vor Spielzeitende neu zu engagieren, aber Nora war damit zufrieden. Sie konnte sich die ersten Wochen in Coburg eingewöhnen, als Susanna brillieren, und dann mit Mark einige schöne Wochen in Mannheim verbringen, bevor sie zum Opernfestival nach Eutin fuhr.

Die erste musikalische Probe fand im Zimmer des Generalmusikdirektors statt. Die Kollegen behandelten Nora wie ihresgleichen, nicht wie eine Anfängerin von der Hochschule. Und Nora sang gut, sie merkte es an den Reaktionen des Dirigenten. Hatte sie im Theater eine Pause, flitzte Nora sofort zur Mitwohnzentrale und ließ sich Wohnungen zeigen. Im Zuge der Besichtigungen lernte Nora die ganze Stadt kennen. Nach einigen Tagen schaute sie sich eine kleine Wohnung in einem schönen, freistehenden Haus an. Nora fand sie ideal und unterschrieb den Mietvertrag. Dann fingen die szenischen Proben für „Figaro“ an, und Nora glühte vor Begeisterung.

Sie hatte ihren Kollegen gegenüber den großen Vorteil, die Partie schon gesungen zu haben; sie brauchte weder Texthilfe von der Souffleuse noch die musikalischen Einsätze des Dirigenten. Der Regisseur war sehr zufrieden damit, dass Nora viele Gesten, Blicke oder Reaktionen aus ihrer Opernschulinszenierung übernahm. Sie tat das, was er für sie sowieso inszeniert hätte. Er hielt sie für ein großes Talent. Auch die Kollegen sparten nicht mit Komplimenten. Nora war glücklich, und genoss die Anerkennung. Dann freundete sie sich mit Karen an. Karen war Repetitorin am Theater. Sie kam aus Schottland, und war genau so alt wie Nora. Die beiden Frauen verstanden sich auf Anhieb, mochten die gleichen Kollegen, und lachten über die gleichen Witze. Nora und Karen verbrachten jede freie Minute im Theater gemeinsam, und fühlten sich unbesiegbar. Coburg, das war beiden klar, und darüber redeten sie stundenlang, war das pefekte Sprungbrett für eine weitere Karriere.

Mark hatte keine Gelegenheit, Noras Einstieg in Coburg mitzuerleben. Er war bis kurz vor Noras Premiere mit einer Musikschul-Band, die er vor eininger Zeit übernommen hatte, bei einem Festival in USA zu Gast. Durch die Zeitverschiebung und Noras Arbeitspensum war es schwer, zu telefonieren. „Aber was soll’s“, dachte Nora, und schob das ungute Gefühl weg, das sie immer wieder beschlich. „Sobald er wieder da ist, wird er herkommen!“ Das wollte er aber nicht. Erschöpft und erkältet kam er aus USA zurück, und vertröstete Nora auf einen tollen Premierenabend und die anschließenden Sommerferien. Nora schluckte ihre Enttäuschung tapfer hinunter, sagte sich, dass sie aus Nervosität überreagiere, und lieferte eine astreine öffentliche Generalprobe ab.

Zur Premiere reiste Mark zusammen mit seiner Mutter an. Endlich war Angelika wieder da, wo sie seit ihrer Kindheit hingewollte hatte, hinter den Kulissen, bei ihrer “Star-Schwiegertochter”. Dafür war sie Nora unendlich dankbar und betütelte sie, als wäre sie die Callas. Mark hingegen fühlte sich im Theater unwohl. Als er Nora in Kostüm und Maske sah, war sie ihm so fremd, dass er ihr nur ein Küsschen auf die Wange hauchte. Mit der Opernschule hatte er entspannt umgehen können, das waren ja alles nur Studenten gewesen, genau wie er. Aber das hier war professionelle Oper, damit hatte er nichts mehr zu tun. Hier war er nur Gast, und hätte sich eigentlich voller Stolz hinter Nora stellen müssen. Das konnte er nicht. Ärgerlich schob er die unguten Gefühle auf den Umstand, dass er und Nora sich einfach lange nicht gesehen hatten.

Das Coburger Publikum war begeistert vom jungen Neuzugang, und Nora wurde mit Ovationen überhäuft. Sie strahlte vor Glück, und wollte nichts anderes mehr, als Opern interpretieren, und den gerechten Applaus dafür bekommen. Die anschließende Premierenfeier schlitterte jedoch am Rand der Katastrophe entlang. Nora saß mit Mark und Angelika am Tisch des Generalmusikdirektors. Nora wünschte sich so sehr, dass Mark die Arbeit der letzten Wochen und ihre Leistung dieses Abends honorierte und bewunderte. Aber Mark, der viele Aufführungen in der Mannheimer Oper gesehen hatte, meinte mit gerunzelter Stirn: „Sechs Wochen habt ihr geprobt dafür?“ Und natürlich war das Niveau der Mannheimer Sänger ein ganz anderes. Aber für Nora war er voll des Lobes. Immer wieder legte er besitzergreifend den Arm um sie. Er war sicher, dass viele Männer ihn heute Abend beneideten. Er erklärte dem amüsierten GMD ausführlich, dass Nora ja nicht lange in Coburg bleiben würde, in ihrem jugendlichen Alter, und mit dem Talent. Angelika war einfach nur begeistert, plapperte und zwitscherte.

Nora stocherte in ihrem Salat. Ihr Blick fiel auf den kleinen Strauß, den Angelika ihr beim Applaus auf die Bühne geworfen hatte. Die Kelche hingen müde herab, die Blätter wurden bereits gelb, und das Papiertuch um die Stängel war zerfetzt. Nora spürte die Tränen in ihrem Kehlkopf brennen.

Nora sang noch drei Vorstellungen, dann fuhr sie für zwei Wochen nach Mannheim. Sie hatte Coburg gar nicht gern verlassen, und konnte es kaum erwarten, nach den Ferien mit den Proben für das “Weiße Rössl” zu beginnen. Mit jedem Kilometer jedoch, der sie Mannheim näher brachte, stieg ihre Vorfreude auf Mark. In ihrer Handtasche knisterten die überwältigenden Zeitungskritiken, die sie für ihre Susanna bekommen hatte, und sie brannte darauf, sie mit Mark zusammen zu lesen, obwohl sie sie längst auswendig kannte. Nora genoss die Zeit in Mannheim. Mark hatte vormittags an der Uni zu tun, und Nora schlief, las und bereitete für Eutin die Vespina in Haydns “Infedeltà” vor. Am Abend bummelten Mark und Nora Hand in Hand durch Mannheim, saßen stundenlang im Biergarten, gingen ins Kino oder in die Oper. Nora genoss das Gefühl, eine Opernvorstellung jetzt mit ganz anderen Augen zu sehen. Sie gehörte jetzt dazu.

Die zwei Wochen waren so harmonisch verlaufen, dass Nora überhaupt keine Lust auf das Opernfestival in Eutin hatte. Als Mark sie morgens zum Zug brachte und ihren riesigen Koffer in den Zug wuchtete, fing sie an zu schluchzen. Mark nahm sie in die Arme: ”Hey, was ist denn los?” Nora schluckte. “Ach Mark, es war so schön in Mannheim, mit dir, ich will jetzt nicht sechs Wochen weg. Wir müssen doch viel mehr Zeit miteinander verbringen, denn danach bin ich doch schon wieder in Coburg, und ... ” Mark zog sie an sich und küsste sie. ”Aber es sind doch nur drei Wochen, dann komm’ ich doch hoch für ein Wochenende. Und Silke ist doch jetzt schon dort und probt, oder? Die holt dich doch bestimmt am Bahnhof ab!” Nora nickte verzagt, so hatte sie es mit Silke vereinbart. Fürsorglich wischte Mark ihr die Tränen ab, ohne ihre Wimperntusche zu verschmieren. Nora musste lächeln. Mark sah sie an. ”Wir haben genug Zeit füreinander! Und jetzt steig ein, ich muss los. Ich liebe dich!” Der Zug setzte sich in Bewegung. Heulend blieb Nora am Zugfenster stehen. Die Zugfahrt war lang und Nora hatte genügend Zeit, sich wieder zu fangen. Nach einer Stunde holte sie ihre Brote aus der Tasche, nach zwei Stunden die Haydn-Noten, und nach drei Stunden summte sie begeistert die schweren Koloraturen ihrer Partie.

Am Bahnhof in Eutin stand Silke im engen Minikleid und winkte ungeduldig. Kaum stand Nora auf dem Bahnsteig, riss Silke ihr den Koffer aus der Hand und plapperte los. “Meine Cosi-Gruppe ist total nett, ich glaube, die Haydn-Sänger reisen alle erst heute an, oder?” Sie wartete Noras Antwort gar nicht ab und redete munter weiter. “Aber was die Männer angeht muss ich leider sagen, Fehlanzeige, bis auf den Bühnenbildner. Ich war gestern mit ihm in seiner Werkstatt, naja, eher ein Schuppen hinter der Bühne, aber olala ... ”, sie lachte anzüglich. Silke war nicht zimperlich, das war an der Mannheimer Hochschule bekannt. Sie hatte zwar einen festen Freund, aber wenn ihr ein Mann gefiel, dann konnte er sie haben. Nora mochte Silke, weil sie immer so herzlich war, aber ihre Bettgeschichten, die sie ohne Bedenken überall herumerzählte, irritierten Nora. Silke brachte Nora zum Wohngebäude und zeigte ihr ihr Zimmer. Dann blickte sie auf die Uhr und sagte: ”Kurz vor sieben schon! Ein paar von uns hatten heute ein Sponsoren-Konzert, müssten aber jetzt im “Alten Wirt” sitzen, komm, ich stell dich allen vor!” Sie frischte ihren Lippenstift auf, und zog Nora plaudernd am Arm aus dem Zimmer.

Vor der urigen Kneipe waren vier Tische zusammen geschoben. Silke schlug mit einem Löffel an ein Glas. “Alle mal herhören, das ist Nora, sie wird beim Haydn mitmachen!” Ein mehrstimmiges Hallo hieß Nora willkommen. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl. Zwei ihrer Haydn-Kollegen waren schon da, und nahmen Nora in ihre Mitte. Sie entspannte sich und bestellte ein Bier. Ein dunkler, gutaussehender Typ am anderen Ende des Tisches ließ Nora nicht aus den Augen und schenkte ihr, als sie die Gruppe kurz darauf verließ um auszupacken, eine Rose, die er die ganze Zeit in Händen gehabt hatte. “Herzlich willkommen bei uns. Die Rose hab’ ich eben nach dem Konzert bekommen, sie steht dir, finde ich”, und senkte seinen Blick in Noras. Sie dankte errötend, drehte sich hastig weg und schlug den Weg zum Wohngebäude ein.

Am nächsten Morgen begannen die Proben für Haydn. Weil Noras große Auftritte alle erst im zweiten Akt kamen, hatte sie die komplette erste Woche nichts zu tun. Nachdem sie die wunderschöne Gegend zu Fuß erkundet hatte, schaute sie immer wieder bei den Cosi-Proben vorbei. Ihr Rosenkavalier vom ersten Abend hieß Robert und sang den Ferrando. Er flirtete mit Nora, freute sich sichtlich, wenn sie zum Zuschauen kam, und lud sie zum Bootfahren oder Minigolfen ein. Es war alles im freundschaftlichen Rahmen, und Nora machte sich keine Gedanken. Robert aber schien ihre Nähe zu suchen, lauerte ihr manchmal regelrecht auf. Als sie sich eines Morgens am Buffet noch ein Brötchen holte, stand er auf einmal neben ihr und flüsterte ihr ins Ohr: „Deine Haare duften so!“ Nora genoss seine Nähe und den schlecht versteckten Neid der anderen Frauen. Denn Robert war mit Abstand das begehrteste Objekt rund um das Eutiner Schloss.

Eines Nachmittags gingen Nora und Silke am See spazieren. Silke redete ohne Unterlass, Nora hing ihren Gedanken nach. Bis Silke von ihrem Treffen mit Robert in Mannheim sprach. “Wie?“, fragte Nora, “Ihr kanntet euch schon vorher?“ Silke grinste: „Ich hatte ja seit Wochen die Adressliste mit allen Eutin-Sängern und rief ihn einfach an, er wohnt ja in Karlsruhe. War auch sehr nett!“ Ihr Grinsen wurde breiter, und sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen: „Und du kannst mir glauben, der ist von der Natur mächtig gut ausgestattet worden!“ Nora räusperte sich, mußte aber grinsen. Sie war nicht eifersüchtig, weil sie nicht in Robert verliebt war. Silke erzählte noch mehr. ”Mit Angie lief hier auch einiges! Du weißt schon, die Dorabella?” Nora nickte. Silke fuhr fort: ”Aber die ist abgemeldet, der hat ja nur noch Augen für dich!” Nora seufzte. Deshalb also guckte Angie sie immer so sauer an und redete als einzige der Cosi-Leute nicht mit ihr. Als Nora später allein im Probezimmer saß, fragte sie sich nachdenklich, was Robert eigentlich von ihr wollte. Denn dass sie sich niemals auf ein flüchtiges Abenteuer einlassen würde, wusste er doch sicher.

Am nächsten Abend saßen Nora und Robert am Ufer des Sees. Nora fragte nach Silke und Angie, und war völlig unvorbereitet auf die Lawine, die sie lostrat. “Ich schäme mich so entsetzlich!”, stöhnte Robert und schlug die Hände vors Gesicht. Schluchzend gestand er Nora seine Gefühle. ”Du bist ganz anders, so rein! Du bist ein Engel, und ich bin ein Schwein. Ich bewundere dich so sehr, du stehst so über allen ... ”, wimmernd brach er ab. Nora legte den Arm um ihn. Unruhig registrierte sie, wie heftig ihr Herz klopfte.

Robert stammelte: “Ich will so nicht mehr sein, du weißt schon, just for fun und so. Ich wär’ gern so wie du. Ich brauche dich, ich schaffe das allein nicht. Mit dir zusammen könnte ich es, ich weiß es!” Er weinte wieder. Nora biss sich auf die Lippen. Robert war ihr nicht so gleichgültig, wie sie sich bis jetzt vorgemacht hatte. Sie mochte ihn sehr. Und sie begehrte ihn. Plötzlich wusste sie es und erschrak. Das durfte nicht sein. Das nicht. Natürlich musste und würde sie standhaft bleiben, das war ja offensichtlich auch das Bild, das er von ihr hatte. Sie zog Robert sanft die Hände vor dem Gesicht weg, und nahm das zitternde Bündel in die Arme, tröstend und mütterlich. “Du bist doch kein schlechter Mensch, Robert”, sagte sie leise und strich ihm über den Kopf. Sie war versucht, die Augen zu schließen und sein Haar zu küssen. Seinen Mund. Er war so nah. Brutal drückte sie ihr Begehren weg und rette sich in die Rolle der Seelsorgerin, die ihr momentan am ungefährlichsten schien. “Aber weißt du, dein Verhalten tut weder dir gut noch den Frauen, die beteiligt sind.” Robert schniefte und sah sie an. “Aber die machen doch mit!” Nora nickte. “Ja. Aber dann verlieben sie sich oft. Nicht Silke, aber Angie hat’s echt erwischt.” Robert blickte betreten zu Boden. Nora redete weiter und merkte erleichtert, dass sie wieder Boden unter den Füßen spürte. “Jedesmal, wenn du Sex ohne Liebe hast, gibst du ein Stück von dir weg. Irgendwann hast du dich verloren. Das willst du doch nicht, oder?” Robert schüttelte den Kopf. “Nein. Das will ich nicht. Es ist doch noch nicht zu spät, oder?” Nora lächelte, jetzt wieder völlig ruhig. “Es ist nie zu spät.” Robert blickte sie erstaunt an. ”Aber dir würde sowas nie passieren, oder?” Nora schüttelte energisch den Kopf. “Nein. Weil ich Mark nicht anlügen könnte. Und weil so etwas alles kaputt macht.” Sie nahm Roberts Hand und zog ihn hoch. Hand in Hand schlenderten sie zum Schloss zurück.

Die Cosi-Truppe hatte ihre letzten Vorstellungen und reiste ab. Nora hatte jede freie Minute mit Robert verbracht. Aber sie war eisern geblieben, obwohl es ihr unwahscheinlich schwer gefallen war. Sie fühlte sich Robert so nah. Seine Liebe tat ihr gut und sie spürte, wie wichtig sie für ihn gewesen war. Ihr sexuelles Begehren hatte sie in den tiefsten Winkel ihres Körpers verbannt, aber es war da. Und manchmal wachte sie nachts auf und sehnte sich nach Roberts Körper, ganz nah an ihrem. Aber bei Tageslicht war sie jedes Mal dankbar, dass es nie so weit gekommen war. Mit den Schuldgefühlen hätte sie nicht leben können, sie hätte Mark nicht mehr in die Augen sehen können, und sie hätte lügen müssen.

Und dann fuhr Robert ab. Leer und einsam blieb Nora zurück. Sie verstand nicht, was passiert war. Sie wusste nicht, ob sie sich verliebt hatte, aber sie wusste, dass sie Robert ganz schnell vergessen musste. Und nach einigen Tagen atmete Nora tatsächlich leichter. Sie vermisste Robert, aber nicht mehr so verzehrend. Ihre Kollegen waren lustig und nett; die Haydn-Truppe wuchs genauso zusammen wie die Cosi-Leute in den Wochen zuvor. Nora konzentrierte sich auf ihre Partie, und übte jede Phrase, bis sie perfekt saß. Bei den Proben gab sie alles, was sie zu geben hatte.

Die Premiere stand kurz bevor, und Mark reiste an. Er sah sofort die Rose, die wie durch ein Wunder noch ein paar Blätter hatte, und im Wasser vor sich hingammelte. Nora hatte es nicht fertiggebracht, sie wegzuwerfen. Mark fragte, Nora wurde rot, und die ganze Robert-Geschichte brach aus ihr heraus. Mark rastete aus. Spielte den eifersüchtigen Ehemann, tobte und schrie. Er fühlte sich betrogen, verraten, und wollte umgehend abreisen. Nora erschrak zu Tode und überprüfte im Schnelldurchlauf die letzten Wochen. Aber sie fand nichts, weswegen sie sich schuldig fühlen müsste. “Mark!”, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. ”Ich hab’s dir doch gesagt, ich hab ihn ja nicht einmal geküsst! Das musst du mir glauben!” Nora weinte jetzt heftig. Mark wurde ruhiger. Eigentlich traute er seiner Nora so etwas auch nicht zu. Aber die Bedrohung durch den Unbekannten schnürte ihm die Luft ab. “Hat er dir geschrieben?” Nora wischte sich erschöpft die Tränen ab. “Bis jetzt nicht, aber wir wollten eigentlich schon in Kontakt bleiben, schon wegen ... ” Mark ließ sich aufs Bett fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Ob Nora nicht wisse, dass es nur eine Möglichkeit gebe in so einer Situation, nämlich den Kontakt völlig abzubrechen? Nora willigte sofort ein, panisch und erschrocken, und beteuerte, dass sie Mark niemals damit habe verletzen wollen. Mark zog sie an sich, küsste sie und begann, ihre Hose aufzuknöpfen. Nora zuckte zurück, ließ ihn dann aber gewähren. Sie wusste, dass er danach ruhiger wäre. Sie schloss die Augen und zwang ihre Gedanken weg von Robert.

Nora bemühte sich ängstlich, das Wochenende für Mark besonders angenehm zu gestalten. Die Rose hatte sie demonstrativ sofort in den Müll geworfen. Die Tränen stiegen ihr dabei in die Augen, aber das hatte Mark vom Bett aus nicht gesehen. Sie führten stundenlange Gespräche und letztendlich konnte Nora ihn von ihrer Unschuld überzeugen. Mark verzieh ihr und gewann seine Selbstsicherheit zurück.

Bei einer Bootsfahrt am nächsten Tag erzählte er grinsend, dass er die Bildhauerin Marion wiedergetroffen habe. Nora wusste sofort, welche Marion er meinte und wurde blass. Bei einer Party vor einigen Monaten hatte diese Marion sich fast aggressiv an Mark herangemacht, obwohl Nora daneben gestanden hatte. “Was ist mit der blöden Kuh?”, fragte Nora und war überrascht, wie scharf ihre Stimme klang. Mark legte die Ruder ab und streckte die Füße ins Wasser. “Na ja, sie hat mich angerufen, kurz nachdem du nach Eutin gagangen bist. Wollte sich mit mir treffen, nur auf ‘nen Drink. Ich fand nichts dabei, wir waren im Nanini.” Nora zwang sich, ruhig zu bleiben. „Und dann?“ „Nichts und dann, wir sind noch zu ihrem Atelier gefahren, und sie hat mir alles gezeigt.“ Er schloss die Augen und ließ sich die Sonne aufs Gesicht scheinen. „Nachts?“, fragte Nora misstrauisch. „Ja, aber es passierte gar nichts. Sie wollte schon, sie wollte unbedingt, aber es ist nichts passiert, wirklich!“ Nora war erleichtert. Dann beschlich sie ein ungutes Gefühl. Warum hatte er nichts erzählt? Sie glaubte ihm, dass nichts passiert war, es blieb ihr ja auch nichts anderes übrig. Und schließlich hatte er unter der Sache mit Robert ja auch sehr gelitten. Vielleicht waren sie ja nun sowas wie quitt.

Mark fuhr versöhnt und zufrieden zurück nach Mannheim. Nora vermisste ihn furchtbar und schrieb ihm lange Briefe. Wie leid es ihr tue, zu was sie sich habe hinreißen lassen. Aber sie habe Robert doch nur helfen wollen. “Ich bin so dankbar, dass du mir die Augen geöffnet hast, Mark”, schrieb sie. “Du hattest so recht, wie konnte ich auf den Gedanken kommen, mit ihm weiter Kontakt zu haben! Es tut mir so leid! Ich liebe dich so sehr!” Als Robert einige Tage später im Sekretariat der Festpiele anrief, und sich mit Nora verbinden lassen wollte, ließ sie sich verleugnen. Sie hatte zu große Angst davor, dass Mark danach fragen würde. Und Nora wollte nicht lügen.

Nora kam zurück nach Coburg, die Spielzeit begann. Und Nora stürzte sich kopfüber in den Theateralltag. Jede freie Minute verbrachte sie im Theater, übte, probte oder diskutierte mit Karen. Die Beziehung der beiden hatte sich noch vertieft, stundenlang redeten die beiden über ihre kleine, riesige Theaterwelt. Nora ging komplett auf in ihrem neuen Umfeld. Sie wusste, wie privilegiert sie war, diesen Traumberuf ausüben zu dürfen. Ihr ganzes Denken kreiste ums Theater und oft vergaß sie, dass es ausserhalb des Theaters auch noch eine andere Welt gab.

„Figaros Hochzeit“ wurde wiederaufgenommen, und Noras Verkörperung der Susanna hatte über die Wochen an Tiefe gewonnen. Dann stand die Operette “Im Weißen Rössl” an. Nora war als brave Fabrikantentochter Ottilie besetzt. Bei der ersten Probe, der großen Walzerszene, inszenierte der Regisseur zwischen Nora und ihrem Partner Frank, den Nora erst eine halbe Stunde zuvor in der Kantine kennengelernt hatte, einen langen, intensiven Bühnenkuss. Begeistert erklärte er, wie wunderbar das aussehen würde: das Ballett, ganz in hellblau, in der Mitte das küssende Paar, 50 Takte lang. Der Regisseur blickte die beiden erwartungsvoll an, aber weder Nora noch Frank, der ebenfalls frisch von der Hochschule kam, trauten sich, die Szene anzugehen. Der Regisseur schob die beiden eng zusammen, fuchtelte ungeduldig mit den Armen und meinte: “So. Jetzt küsst euch mal, aber bitte nicht wie zwei Sänger!” Nora schloss die Augen und sprach ein stummes Gebet. Und dann küssten sie sich. Bei jeder Probe, und schließlich bei jeder Vorstellung, 34 mal. Frank verlor völlig den Kopf und begann, Nora den Hof zu machen. Die interessierte sich aber überhaupt nicht für ihn, also schwang er auf Karen um, die zwar prinzipiell interessiert gewesen wäre, aber mit der forschen Assistentin Maike, die es vehement auf Frank abgesehen hatte, nicht konkurrieren wollte. Frank geriet in Panik, und stellte den Kolleginnen kurz darauf seine neue Freundin vor: eine ehemalige Kommilitonin, polnische Koloratursopranistin, blondiert und blasiert. Nora, Karen und Maike nahmen Frank freundschaftlich in ihre Mitte, und redeten ihm die Dame, sanft aber nachdrücklich, wieder aus.

Die Monate flogen dahin, und für Nora kamen anspruchsvollere Partien. Eine Herausforderung war die Rolle der Lehrerin Elli Maldaque, die durch üble Nachrede in den Verdacht gerät, Kommunistin zu sein. “An der schönen blauen Donau” wurde nicht auf der großen Bühne, sondern im Kammertheater gespielt, das maximal 80 Zuschauer fasst. Nora hatte die Partie intensiv studiert, und die komplizierte, moderne Musik schnell auswendig im Kopf gehabt. So konnte sie sich vollkommen auf die Darstellung der Elli konzentrieren, die so intensiv war, dass das Publikum jedesmal stehend applaudierte.

Und dann kam das Ännchen im „Freischütz“, eine Traumpartie für jede Sopranistin. Das Ännchen war wie für Nora komponiert. Die beiden Arien hatte sie seit Jahren im Vorsing-Repertoire und nun war sie überglücklich, die gesamte Partie interpretieren zu dürfen. Bei den Proben gab es viel Gelächter. In der „Schlanker Bursch“ Arie sollte sie, um Agathe aufzumuntern, lachend über die Bühne hüpfen, und dabei ein Männchen aus Papier ausschneiden, den “Schlanken Burschen”. Noch in der öffentlichen Generalprobe musste zweimal abgebrochen werden: Nora und ihre Kollegen konnten vor Lachen nicht weitermachen; beim ersten Versuch hatte Noras Männchen drei Beine, beim zweiten gar keine. Der Regisseur beschloss daraufhin, das Männchen jedsmal vorher vom Requisiteur mit Bleistiftt vorzeichnen zu lassen. Auch als Ännchen hatte Nora großen Erfolg. Ihre Natürlichkeit und ihre frische Stimme verzauberten Publikum und Kritiker.

Nora gab alles, was sie hatte. Nichts war ihr zu anstrengend, nie sagte sie ab. Als ihre Kollegin Marianne, mit der sie in fast allen Partien doppelt besetzt war, zehn Tage krankheitshalber ausfiel, sang Nora in diesen zehn Tagen alle neun Vorstellungen allein. Und sie war glücklich dabei. Sie wusste, dass das ihr Leben war, und sie nichts anders tun wollte, als auf der Bühne zu stehen. Als Nora nach einer Woche vom Leiter des Betriebsbüros darauf hingewiesen wurde, dass sie laut Vertrag eigentlich nur vier Vorstellungen pro Woche singen müsse, lachte Nora nur und rannte zur Bühne.

Die Herausforderungen wurden immer größer. In der „Lustigen Witwe“ war sie als Valencienne besetzt, kapriziöse und untreue Ehefrau des Baron Zeta. Einer der Höhepunkte der Operette ist der mitreißende CanCan im dritten Akt, den Valencienne singt, und das Ballett tanzt. In der Coburger Inszenierung allerdings sollte Valencienne den CanCan zusammen mit dem Ballett tanzen. Kollegin Marianne, die wie Nora als Valencienne besetzt war, jubelte begeistert. Nora hingegen gereit völlig in Panik. Aber sie wollte unbedingt für die Premiere besetzt werden. Und so trainierte sie den CanCan, jeden Tag, im Ballettsaal mit den Tänzerinnen. Für die Ballett-Mädchen war das ein Spaziergang, für den sie sich nicht mal aufwärmten, für Nora die körperliche Herausforderung ihres Lebens. Als die Endproben losgingen, warf sie das Bein so hoch wie die anderen, und schlug Räder quer über die Bühne.

Nora wurde für die Premiere ausgewählt. Während der Hauptprobe hatte Nora beim CanCan plötzlich ziehende Schmerzen im linken Oberschenkel. Beim Radschlagen spürte sie, wie etwas riss, und ihr wurde sofort schwarz vor Augen. Ihr Kollege Hanno, der den Zeta sang, führte sie vorsichtig von der Bühne. Nora setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf einen Rollwagen, der auf der Seitenbühne stand. Nora stiegen die Tränen in die Augen. Marianne kam hinter die Bühne. “Was ist denn los?”, rief sie. “Bist du o.k? Wenn nicht, soll ich soll weitermachen, hat der Regisseur eben gesagt.” Noras Kopf fuhr nach oben. Sie biss die Zähne zusammen, stützte sich auf Hannos Arm und meinte lächelnd zu Marianne: “Geht schon, ich bin wohl in irgendwas reingetreten.” Marianne zog die Brauen hoch, und ging in den Zuschauerraum zurück. Nora zwang sich, nicht zu humpeln und machte die Probe zuende. In der Nacht wurden die Schmerzen so schlimm, dass Nora morgens die Orchesterprobe absagte und zum Arzt kroch. Der diagnostizierte einen Muskelfaserriss, verordnete Krücken, absolute Ruhe, und riet ihr dringlichst, die Premiere abzusagen. Nora nickte, und verließ die Praxis. Sie zerriss das Rezept für die Krücken, humpelte ins Theater und machte die Probe zu Ende. Auf die Fragen der anderen meinte sie: „Eine leichte Zerrung, kein Problem!“ Nora machte die Premiere, und warf ihr Bein fast so hoch wie die anderen. “Auf der Bühne gibt es keinen Schmerz!”, sagte sie vor der Vorstellung ungeduldig zu Mark, als dieser besorgt in ihrer Garderobe auf und ab tigerte.

Marks Sommersemester ging mit mehreren Prüfungen zu Ende, und er bestand alle mit Auszeichnung. Drei Monate Semesterferien lagen vor ihm, bevor sein letztes und wichtigstes Studienjahr begann. Da Mark schon immer an asiatischer Kampfkunst großes Interesse gehabt hatte, schrieb er sich, sobald die letzte Prüfung hinter ihm lag, in einer Kung-Fu-Schule in Mannheim ein. Eines Nachmittags erzählte ihm sein Trainingspartner Mick stolz, dass er vor Kurzem in Coburg eine Zweigstelle der Mannheimer Kung-Fu-Schule eröffnet habe. Begeistert erzählte Mark am nächsten Wochenende Nora von diesem unglaublichen Zufall. Nora war glücklich. Bis jetzt hatte sie wegen der vielen Proben kaum ein Wochenende in Mannheim verbringen können. Das schlechte Gewissen hatte sie mehr schlecht als recht verdrängt. Als Mark nun von der Coburger Kung-Fu-Filiale erzählte, war sie erleichtert. Und Mark reiste enthusiastisch Wochende für Wochende nach Coburg, trainierte mit Mick, und besuchte Noras Vorstellungen.

An einem dieser Wochenden saßen Nora und Mark abends bei ihrem Lieblings-Thailänder. Mark redete weniger als sonst, und Nora sprach ihn darauf an. Mark legte die Stäbchen weg. “Erinnerst du dich an die Schulfreundin von Chrissy, Kathi aus Freiburg?” Nora nickte. Mark spielte mit der Tischdecke. “Die arbeitet inzwischen für Thyssen, in Kapstadt, stell dir vor!” Nora äußerte höfliche Begeisterung, wusste aber nicht, worauf Mark hinaus wollte. Er sagte: “Chrissy hat den Kontakt zu ihr wieder hergestellt, und mir ihre Nummer geben. Gestern habe ich sie angerufen.” Noras Herz begann unkontrolliert zu schlagen. “Ich könnte, bevor das letzte Studienjahr losgeht, bei ihr wohnen. Durchs Land reisen und so. Das ist eine einmalige Chance, was denkst du?” Jetzt erst hob er den Kopf und sah Nora an. Nora legte ihre Stäbchen weg. Sie war überhaupt nicht begeistert. Die nächste große Premiere, die Musette in „La Bohème“ stand an, ihre erste italienische Partie, und sie hätte Mark lieber in der Nähe gehabt. Vorsichtig formulierte sie diese Gedanken. Dann spann sie den Faden weiter. “Warum ziehst du nicht quasi zu mir nach Coburg?” Nervös nahm sie ihre Stäbchen wieder in die Hand. “Du kannst Kung Fu trainieren, und wenn ich frei habe machen wir Ausflüge .. ” Nora brach ab, denn Mark senkte den Blick. Und plötzlich wusste Nora, dass Mark sie gar nicht um ihre Meinung gefragt, sondern die Entscheidung längst gefällt hatte. Sie wurde blass und lehnte sich zurück.

Aber Mark argumentierte gut; es war für ihn die letzte Chance, bevor in einem Jahr der Berufsalltag losginge, einmal so eine Reise auf eigene Faust zu machen. Außerdem sei er nach dem letzten Semester sehr erschöpft. Und dann spielte er seinen Trumpf aus: „Und wenn die Spielzeit in zwei Monaten zuende ist, kommst du nach! Bis dahin kenne ich alles, und wir machen Safari in Südafrika und Namibia!“ Zwei Monate. Mark nahm es in Kauf, zwei Monate von ihr getrennt zu sein. Freiwillig. Er schwärmte begeistert. ”Weißt Du, das Land ist so riesig, allein für den Kruger-Park brauche ich eine ganze Woche.” Er plapperte weiter und bestellte noch zwei Bier. Nora gab sich geschlagen, weil sie sah, dass sie keine Chance hatte. Sie schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter. Offensichtlich wollte Mark weg, und sie konnte ihn nicht halten.

Mark flog nach Afrika und Nora studierte die Musette. Sie hatte den Entschluss gefasst, die Zeit zu nutzen. Nach sich zu schauen, sich auf die “Bohème” zu konzentrieren, und nicht auf das Klingeln des Telefons zu warten. Mark rief einmal die Woche an. Erzählte von seinen Abenteuern, vom Joggen neben Krokodilen, vom Durchfall, drei Tage ohne Essen und Trinken, irgendwo in einer Lehmhütte. Er beschrieb die weißen Juppies wie Kathi und ihre Freundin Jule, bei der Mark zwischenzeitlich eingezogen war, weil Kathi ihre Familie zu Besuch hatte. Kathi und Jule lebten zwar in Kapstadt, hatten aber noch nie ein Wort mit einem Farbigen gewechselt. Sie trafen sich mit ihren weißen Freunden zum After-Work-Drink und verschanzten sich in ihren, vom privaten Sicherheitsdienst bewachten, Villen. Mark erzählte von seinen Spaziergängen durch die Townships, bei denen er sein Leben riskierte, wie er wohl wusste. Aber er wollte Südafrika kennenlernen. Mit allem was dazu gehört, wie er sich ausdrückte. Nora hatte Angst um ihn, aber sie konnte nichts tun. Als sie ihn eines Tages bat, öfter anzurufen, meinte er nur gut gelaunt: „Zu teuer, ich melde mich nächste Woche!“ Nora verdrängte ihre Enttäuschung und klammerte sich an ihre Arbeit. Die kapriziöse Musette wurde ein ebenso großer Triumph für sie, wie alle anderen Partien bisher; und wenn sie in ihrer Arie den Tisch umwarf, kreischend mit dem Fuß aufstampfte, oder ihren alten Liebhaber niedermachte, ließ sie all ihre Trauer und Wut auf der Bühne frei. Nachts aber, allein in ihrer kleinen Wohnung, kamen die Tränen. Und das Gefühl, dass Mark sich nicht mehr für sie und ihr Leben interessierte, sprang sie an wie ein hungriges Tier.

Für die letzte Premiere vor der Sommerpause wurde im Theater eine selten aufgeführte Oper von Schubert geprobt. Nora hatte eine große Partie und genoss die wunderbare Musik, die perfekt zu ihrer Stimme passte. Sie stürzte sich in die Arbeit und merkte erleichtert, dass sie nicht mehr ununterbrochen an Mark dachte. Der Frühsommer war warm; bei den Proben waren die Fenster weit geöffnet, und in den Pausen stürzten die Sänger nach draußen und hielten die Gesichter in die Sonne. Abends, wenn keine Vorstellung angesetzt war, saß Nora mit Karen und Dramaturg Tobi, mit dem Karen sich angefreundet hatte, im Biergarten Bugenhof. Nora mochte Tobi, und genoss die stundenlangen Gespräche über das Theater und die fremde Welt der Schauspieler. Eines Abends brachte Tobi Klaus mit. Klaus war der Leiter der technischen Werkstätten am Coburger Theater. Ein großer, schlaksiger Kerl mit schwarz-gefärbter Dauerwelle, Schnäuzer und Golkettchen. “Wolfgang Petri für Arme”, sagten die anderen Techniker immer lachend, wenn Klaus betont eilig an ihnen vorbei Richtung Bühne ging, und dabei wichtigtuerisch in sein Funkgerät sprach. Klaus war ein Angeber, den keiner ernst nahm. Niemand glaubte ihm, dass er wirklich mit Placido Domingo per Du war, und niemand nahm ihm ab, dass er eine Villa auf Mallorca besaß. Als Tobi nun plötzlich mit Klaus im Bugenhof auftauchte, bekam Nora große Augen. Karen grinste nur und flüsterte: ”Wenn man vom Teufel spricht ... ” Nora zischte ihr zu, den Mund zu halten. Tobi setzte sich neben Karen und bestellte ein Bier. Klaus fragte Nora höflich, ob er sich neben sie setzen dürfe. Nora wurde puterrot, nickte, und rutschte unbehaglich zur Seite. Karen grinste.

In der Woche zuvor war Klaus ständig auf der Seitenbühne aufgetaucht. Immer zu Noras Szenen. Kam sie von der Bühne, machte er ihr Komplimente: ”Du klingst wirklich gut, gib mir mal deine Unterlagen, dann organisier‘ ich dir ein Vorsingen beim Placido!“ Oder: „Du singst wie ein Engel. Und du bist so eine schöne Frau!“ Zuerst war Nora amüsiert. Dann wurde es ihr peinlich, denn die Kollegen begannen zu kichern. Doch langsam begannen seine Worte zu wirken. Seine Komplimente hatten eine Aufrichtigkeit, die Nora seltsam berührte. Nun saß er neben ihr auf der Bierbank, und Nora merkte überrascht, wie nervös sie war. Panisch begann sie, von Mark zu erzählen, von seinem Job und seiner Reise. Karen und Tobi waren in ein Gespräch vertieft und hörten gar nicht zu. Klaus blickte Nora nur an und sagte dann: “Wenn ich dein Mann wäre wüsste ich, wo ich jetzt sein wollte. Sicher nicht in Südafrika.“ Nora wurde nachdenklich und unsicher. Sie hatte nicht das Gefühl, dass Klaus sie einfach nur rumkriegen wollte. Sie spürte, dass Klaus sie wirklich sehr mochte und für ihr Können grenzenlos bewunderte.

Ab diesem Abend verbrachten Tobi, Klaus, Karen und Nora jede freie Minute miteinander. Nachmittags trafen sie sich im Freibad, und abends fuhren sie gemeinsam zum Bugenhof, wo sie oft bis weit nach Mitternacht saßen. Klaus hielt nicht damit hinter dem Berg, dass er sich in Nora verliebt hatte. Jeder durfte es wissen. Nora war für ihn ein Wunder, die Traumfrau schlechthin. Im Theater wurde darüber gelacht und getratscht, aber niemand hielt es ernsthaft für möglich, dass die kluge, erfolgreiche und attraktive Nora für einen Mann wie Klaus umkippen würde. Aber kurz vor der Schubert-Premiere gab Nora den Kampf auf. Sie war nervös, denn viele Kritiker hatten sich ob des unbekannten Stückes angesagt. Mark meldete sich kaum noch. Aber da war Klaus, der bei jeder Probe da war. Der ihr ein Auto schenken, oder mit ihr nach L.A. fliegen wollte. Nora nahm das alles nicht ernst, aber Klaus war da. Und er schaute sie an, wie Mark sie noch nie angeschaut hatte.

Nora sang ihre Premiere und war der Star des Abends. Nach der offiziellen Feier im Foyer fuhren die Sänger zu Fabrizio, dem Stammitaliener des Coburger Ensembles. Viele Nächte hatten Nora und ihre Kollegen dort schon verbracht. Zu fortgeschrittener Stunde kam es vor, dass einer der Sänger einfach aufstand und sang. Koch Paolo holte dann den dicken Ordner mit den zerfledderten Notenblättern, und spielte alles, was gefragt wurde. Als Fabrizio mit Champagner, den er nach Premieren traditionsgemäß aufs Haus servierte, aus der Küche kam, rief er: “Nora, canta la Musetta per me!”, und ließ den Korken knallen. Nora ließ sich nicht zweimal bitten, stand auf und sang. Auf dem Stuhl neben ihr saß Klaus und blickte mit Tränen in den Augen hoch zu ihr. Und Nora sah, dass Klaus sie verzehrend liebte. Klaus brachte Nora nach Hause, und sie küssten sich zum ersten Mal. Nora war betrunken und wollte mit Klaus schlafen. Aber Klaus nahm ihr den Schlüssel aus der Hand und schloss ihre Tür auf. Dann legte er sie ins Bett und ging.

Für Nora begann eine furchtbare Zeit. Obwohl sie wusste, dass außer dem Kuss nichts passiert war, fühlte sie sich schuldig und beschmutzt. Sie hatte das Gefühl, Mark betrogen zu haben. Und fühlte sich gleichzeitig so stark zu Klaus hingezogen, dass sie sich zwang, ihn zu meiden. Sie hatte panische Angst davor, in den letzten Tagen der Spielzeit doch noch schwach zu werden, und floh nach Mannheim zu Frau Hartmann. Die hörte sich alles an und wurde sehr ernst. Sie erklärte Nora, dass es nicht in Ordnung war, wie Mark sich verhalten hatte, dass er ihrer Meinung nach Nora emotional verhungern lasse. Frau Hartmann sprach Nora von jeglicher Schuld frei. Nora verließ die Praxis halbwegs beruhigt und fuhr zurück nach Coburg. Sie meldete sich im Theater für die letzten beiden Tage krank, packte ihren Koffer und stieg ins Auto, ohne sich von Klaus verabschiedet zu haben. Sie wollte weg von ihm, weg von seinen Augen und seiner Liebe. Weit weg von der Versuchung. Sie wollte zu Mark, denn irgendetwas lief nicht gut. Sie nahm sich vor, Mark alles zu erzählen, obwohl sie große Angst vor seiner Reaktion hatte.

Als Nora in Kapstadt aus dem Gate kam, und Mark sie durch die Glasscheibe anlachte, war die Angst weg. Vertraut fühlte es sich an, als wäre er gestern erst geflogen. Trotzdem wollte sie Mark möglichst schnell ihren Fehltritt beichten. Nora flog in Marks Arme. Er nahm ihr den Koffer ab und ging plaudernd voran zum Parkplatz. Mark fuhr durch Kapstadt, als hätte er nie woanders gelebt. Nora sah die townships; unüberschaubar große Flächen vollgepfercht mit dreckigen, kaputten Blechhütten. Mark erzählte von den Menschen, die er dort kennengelernt hatte. Nora beneidete Mark um seine Einblicke und bewunderte ihn grenzenlos für seinen Mut und seine Sicherheit.

In Jules Haus angekommen, blieb Nora vor Staunen der Mund offen stehen. Ein wunderschönes, großes, helles Gebäude tat sich auf, mit Holzboden, Kamin, einer großen Küche und einem schicken Badezimmer. Wie konnte eine Frau in Jules Alter sich so ein Haus leisten? “Die sind hier nicht teuer”, meinte Mark und öffnete die Fenster. “Und Jule verdient gut bei Thyssen.” Nora strich bewundernd mit den Händen über den steinernen Kaminsims. “Wann lerne ich sie kennen?”, fragte sie. “Sie ist diese Woche in Deutschland bei ihrer Familie", sagte Mark und grinste. "Und gottfroh, dass jemand währenddessen ihr Haus und ihr Auto hütet!” Dann zog er Nora an sich. Sie schafften es gerade noch bis in Jules Schlafzimmer, bevor sie hungrig übereinander herfielen.

Danach kuschelte Nora sich an Mark und schloss einen Moment die Augen. Es fühlte sich so gut an neben ihm. Sie beschloss, dass jetzt der richtige Moment gekommen war, um Mark alles zu gestehen. Sie setzte sich auf, wickelte sich ins Leintuch und erzählte stockend, und von vielen Schluchzern unterbrochen, was passiert war. Mark beruhigte sie, gab ihr ein Taschentuch und nahm sie in die Arme. “Bist Du nicht sauer?”, schniefte Nora an Marks Schulter. “Nein, es ist doch nichts passiert!”, sagte er beruhigend und streichelte ihr Haar. “Für solche Schmeicheleien bist Du eben anfällig. Ist doch nicht schlimm!“ Er lachte. “Aber sehr wählerisch warst du ja nicht gerade mit diesem Klaus!” Nora schluckte, sie hatte das Bedürfnis, Klaus verteidigen zu müssen. Aber wie sollte sie Mark klarmachen, was Klaus ihr gegeben hatte. Was sie bei Mark so oft vermisst hatte. Sie löste sich von Mark und wischte sich die Tränen ab. “Ich danke dir. Du bist so ein toller Mann. Verständnisvoll und tolerant.” Die Tränen liefen schon wieder, und Mark umarmte Nora lachend. Dann schob er sie auf Armeslänge von sich und meinte: “Aber du hast es dir ja ganz schön gut gehen lassen, guck‘ mal, ich komm‘ mit den Armen kaum um dich rum! Stehen dir aber nicht schlecht, die paar Kilos!“ Nora erschrak. Natürlich hatte sie nicht auf ihr Gewicht geachtet, weil sie sich die letzten Wochen so attraktiv und geliebt gefühlt hatte, wie schon lange nicht mehr. Sie biss sich auf die Lippe. Klaus hatte ihr jeden Morgen auf seinem Weg zum Theater eine Tüte Croissants vor die Tür gelegt, die sie mit einem seligen Wohlgefühl verdrückt hatte. “Keine Panik“, meinte Mark gähnend, “Nächste Woche werden wir viel unterwegs sein, da gehen die Pfündchen von alleine runter, ich helfe dir!“ Nora murmelte ihren Dank und verschwand im Bad. Sie fror. Wie konnte sie sich attraktiv gefühlt haben, fett, wie sie geworden war.

In den ersten beiden Tagen zeigte Mark Nora Kapstadt. Sie bummelten an der Waterfront entlang, saßen stundenlang im Sportscafé und redeten. Sie fuhren zum Kap der Guten Hoffnung und fütterten Pinguine. Abends trafen sie sich mit Kathi und ihre weißen Freunden in edlen Restaurants. Nora war glücklich. Zwischen Mark und ihr war es wunderbar, und sie dachte nicht mehr an Klaus.

Mark und Nora flogen nach Namibia. Sie mieteten einen riesigen allradbetriebenen Jeep, auf dessen Dach man schlafen konnte und fuhren los, in Richtung Etosha-Wüste. Unbeschreibliche Tage, ungeahnt intensive Momente stellten sich ein. Tagsüber saßen Mark und Nora im Auto an den Wasserlöchern und warteten auf die Tiere. Manchmal redeten sie, und oft schwiegen sie nur, aber es war ein gutes Schweigen. Nora hatte sich noch nie so entspannt gefühlt. Tiere beobachten, das hatte sie zum letzten Mal im Zoo mit zwölf Jahren getan, und nun konnte sie nicht genug davon bekommen. Alles verlor an Bedeutung, wurde klein und unwichtig, wenn die Giraffe sich breitbeinig hinstellt, ihren langen Hals zum Wasserloch navigiert und trinkt. Nachmittags steuerten sie dann eine der Lodges an, um dort zu übernachten. Viele Lodges hatten beleuchtete Wasserlöcher. Nach dem Abendessen setzten Mark und Nora sich mit einer Flasche Bier zu den anderen schweigenden Gästen, die schon am Wasserloch saßen und auf die Tiere warteten. Frühmorgens ging es dann wieder auf die Straße. Oft musste man das Auto stoppen, um eine Elefantenherde die Straße überqueren zu lassen. Oder weil ein Zebra auf der Kreuzung stand, vor sich hinblickte, und sich nicht vom Fleck bewegte. Und am dritten Tag, gegen mittag, sahen sie eine Löwenherde. Eine Familie, die in der Sonne lag und schlief. Dann und wann wackelte ein Ohr, ab und zu zuckte eine Schwanzspitze.

Nach einer Woche machten Mark und Nora sich auf den Rückweg nach Windhoek. Die Reise war lang und sie beschlossen, noch zweimal unterwegs zu übernachten, und einen kleinen Umweg über Swakopmund zu machen. Die erste Nacht verbrachten sie in einer luxuriösen Lodge, in der sie durch Zufall noch ein Zimmer bekommen hatten. Sie schliefen in Lehmhütten, die jedoch aufs Feinste ausgestattet waren. Nora lag am Pool, ließ sich von einem farbigen Butler Bier servieren, und fragte sich ständig, ob sie das alles vielleicht nur träumte. Die Reise war unbeschreiblich, und sie konnte all die Eindrücke des fremden Landes gar nicht abspeichern, so voll war sie davon. Und mit Mark war sie einfach nur glücklich.

Die zweite Nacht verbrachten Mark und Nora auf ihrem Autodach. Zuerst war es romantisch; Feuer machen, Sonnenuntergang, und dabei zischend Bierdosen öffnen. Sobald es aber, von einer Minute auf die andere, dunkel geworden war, ging der Lärm der Wildnis los, und Mark und Nora flüchteten sich aufs Dach, wo sie eng aneinander gekuschelt lauschten. Das war ein Stampfen, ein Schreien und Jaulen; ein großes Tier trampelte gemächlich ganz nah am Auto vorbei, das konnte Nora nicht nur hören, sondern auch riechen. Sie schauderte, fiel aber irgendwann in einen unruhigen Schlaf.

In Swakopmund nahmen sie sich ein Hotel und bummelten dann durch den Ort. Viel zu sehen gab es nicht, und seltsam war es obendrein: die Straßen hatten alle noch deutsche Namen, in vielen Restaurants und Hotels hing gerahmt an der Wand das „Südwester-Lied“. Die Leute sprachen alle deutsch, und irgendwie, fand Nora, hatte das mit Afrika gar nichts zu tun.

Am Abend, nach dem Essen kamen Mark und Nora ins Hotel zurück. Sie waren beide ziemlich beschwipst, und Mark zog Nora mit einem Glitzern in den Augen zum Bett. Danach kuschelte Nora sich zufrieden unter ihrer Decke zusammen, und wollte gerade das Licht ausknipsen, als Mark ihr mit einem Grinsen eröffnete, es gäbe da noch etwa zu erzählen. Nora war mit einem Schlag hellwach. Mark drehte sich zu ihr und stützte seinen Kopf auf. “So was Ähnliches wie mit deinem Klaus ist mir mit Jule passiert”, begannn er. Noras Mund wurde trocken. “Was meinst du?”, fragte sie, ihre Stimme klang heiser. Mark lachte, drehte sich auf den Rücken und verschränkte die Arme unter dem Kopf. ”Ach, keine Panik. Nur kuscheln auf dem Sofa vor dem Kamin, reden, und naja, einen Kuss gab es, mehr nicht!“ Er stand auf und zog die Vorhänge zu. Nora starrte ihn mit trockenen, heißen Augen an. Dann wurde sie wütend. Das Gefühl war so stark, dass ihr die Luft wegblieb. Die ganze Zeit hatte sie mit schwerem Herzen, schlechtem Gewissen und dem Gefühl von Betrug in Coburg verbracht, und Mark? Nicht genug damit, dass er sie für so lange Zeit allein gelassen hatte, nein, er nahm sich auch mal wieder eine kleine Schmusekatze! Nora hätte sich um ein Haar übergeben, so sauer wurde sie.

Sie rannte ins Bad und schmetterte die Tür hinter sich zu. Sie ließ kaltes Wasser über ihre Arme laufen und versuchte, ruhig zu atmen. Nach einigen Minuten kehrte sie ins Zimmer zurück. Mark ging auf sie zu und nahm sie in die Arme. Nora ließ es geschehen, aber sie fühlte sich leer und taub. Dann fing Mark an zu erklären, und Nora hörte zu, bitter und gedemütigt. Sie hätte seine Worte mitsprechen können: wie schlecht es Jule ging. Wie schlimm ihre Scheidung von diesem Typen war, der sie geschlagen hatte. Sie hatte jemanden gebraucht, der nett zu ihr war und zuhören konnte. Mark vergrub sein Gesicht in Noras Haar. “Mir hat ihre Bewunderung so gut getan”, flüsterte er. “Weißt du, für sie war ich der Prinz, der Retter.” Nora fühlte sich schwach und gliederlos, wie eine Marionette. Sie wollte nichts mehr hören, aber Mark rechtfertigte sich. “Ich habe ihr von Anfang an gesagt, dass ich verlobt bin! Und wirklich, es ist nichts weiter passiert!” Nora löste sich langsam und setzte sich aufs Bett. Sie sehnte die Wut zurück, aber da war nur noch Leere. Es tat so weh. Er flog nach Afrika, obwohl sie so gern die Zeit mit ihm verbracht hätte. Sie hatte Verständnis gehabt, hatte ihn ziehen lassen. Aber warum wieder eine andere Frau. Und warum wieder das gleiche Muster. Erfolgreich im Job, aber hilflos wenn es um Männer geht. Dankbar für die starke Schulter. Und sie? Nora? Hatte sich zerfleischt, hatte gefleht, die Gefühle für Klaus mögen aufhören. Hatte schwere Stunden allein in ihrer Coburger Wohnung verbracht, voller Scham. Und hatte Klaus brutal gemieden, weil sie Angst gehabt hatte, doch noch schwach zu werden.

Nora erhob sich mühsam und streifte langsam ihr Nachthemd über. Mark trat auf sie zu und lächelte. “Komm, Schatz, es ist doch nichts passiert. Schau, jetzt sind wir doch quitt, oder?” Nora kroch unter ihre Decke. “Siehst Du”, sagte Mark zufrieden und legte sich ins Bett. “Toll, dass wir so über alles reden können!” Er wollte sie in seine Arme ziehen, aber Nora drehte sich zur Wand. Weit weg wollte sie sein. Nicht bei Klaus, und sicher nicht bei Mark, einfach nur weg, vielleicht bei der Giraffe am Wasserloch. Sie dämmerte kurz weg, aber mitten in der Nacht schrak sie auf. Morgen ging der Flug nach Kapstadt. Und dann würden sie wieder in Jules Haus wohnen. Mit dem feinen Unterschied, dass diese inzwischen aus Deutschland zurückgekehrt war.

Bis zum Morgengrauen tat Nora kein Auge mehr zu. Dann weckte sie Mark. “Wir werden auf keine Fall in Jules Haus wohnen!”, rief sie, und merkte selber, wie schrill ihre Stimme klang. Mark rieb sich die Augen, nickte, tastete dann nach dem Telefon und rief Kathi an. Die verstand gar nicht, warum die beiden plötzlich in ihr, wesentlich kleineres, Haus umziehen wollten. Mark hatte den Lautsprecher angestellt. “Außerdem kommen ab morgen zwei Kollegen aus Belgien, die wohnen eine Woche bei mir”, zwitscherte sie gut gelaunt. “Hey, wir können uns ja alle die Tage mal im Kloofmans treffen! Tschüß, ihr Turteltäubchen!” Mark legte den Hörer auf und lächelte Nora hilflos an. Nora stand auf und ging ins Bad. Setzte sich auf den Rand der Badewanne und begann zu weinen. Die wunderschöne Namibia-Woche war weg, hatte nie stattgefunden, war Teil eines miesen, kitschigen Romans.

Mark und Nora flogen zurück nach Kapstadt. Wieder und wieder hatte Mark beteuert, dass Jule ihm nichts bedeute. Und dass sie außerdem auch nicht besonders hübsch sei. Irgendwann war Nora zu müde geworden, um noch weiter auf einem Hotel zu bestehen. Traurig willigte sie ein, doch wieder in Jules Haus zurückzugehen. Und dann stand sie Jule gegenüber. Jule war keinesfalls so unattraktiv, wie Mark sie dargestellt hatte. Sie war zwar klein und etwas rundlich, hatte aber wunderschönes, langes braunes Haar. Nora hatte sich keinen Plan zurechtgelegt, aber als Jule ihr die Hand schüttelte und freundlich sagte: “Endlich lernen wir uns kennen, Mark hat so viel von dir erzählt!“, zog Nora die Augenbrauen hoch und zu erwiderte: „Ja, von dir hat er auch viel erzählt!“ Jule wurde puterrot, aber der Abend verlief glimpflich. Jule hatte gekocht, und nach einem letzten Glas Wein machte Nora deutlich, dass sie mit Mark allein sein wollte. Jule räumte ab, Nora und Mark packten im Gästezimmer ihre Koffer aus. Als Nora aus dem Bad kam zog Mark sie an sich. “Alles klar? Siehst du, sie ist doch ganz nett!” Nora nickte und wollte sich losmachen. Aber Mark hielt sie fest. ”Und du hast ja auch gemerkt, dass zwischen uns alles total freundschaftlich zugeht!” Er küsste sie und ging ins Bad. Nora legte sich ins Bett. Sie war bleiern müde, aber an Schlaf war vorerst nicht zu denken.

Als sie eben aus dem Bad gekommen war, hatte sie Jule am Küchentisch sitzen sehen. Den Kopf in den Armen vergraben, schluchzend. Nora war auf Zehenspitzen weiter geschlichen. Sie konnte nichts dagegen tun, Jule tat ihr leid. Mark hatte wieder zugeschlagen. Nora schluckte die Tränen hinunter und knipste schnell die Lampe aus. Mark kam aus dem Bad und kroch zu Nora ins Bett. Nora schlug überrascht die Augen auf. “Willst du nicht die Tür zumachen?” Mark stotterte: ”Nein, also, weißt du, die Luft hier drin ... ich will aber das Fenster nicht aufmachen, deshalb dachte ich ... ”, hilflos brach er ab. Nora blickte ihn kalt an und drehte sich weg. Ihr Herz drohte zu zerspringen. Mark wollte nicht, dass Jule das Gefühl bekam, sie und Mark hätten heißen Sex hinter geschlossener Tür. Er wollte ihr nicht wehtun. Weil er ganz genau wußte, wie es um Jules Gefühle stand. Nora vergrub den Kopf in den Kissen.

Die Afrikazeit ging zu Ende. Mark wollte den Freunden und Bekannten, denen er in Kapstadt begenet war, einen besonderen Dank zukommen lassen. Er fragte Nora, ob sie Lust habe, einen Liederabend für seine Freunde zu geben. Nora überlegte nicht lange. Sie wollte Jule zeigen, wer Chefin im Ring war. Sie wollte, dass die Leute sie bewunderten, sie wollte dort sein, wo sie sich sicher fühlte, auf der Bühne. Jule sollte klein und unscheinbar neben ihr aussehen. Nora kam überhaupt nicht in den Sinn, dass es eigentlich nicht ihre Sache war, sich bei Marks Freunden zu bedanken, sie wollte nur singen und zu guter Letzt ihre Sicherheit zurückgewinnen. Kathi organisierte einen Pianisten. Pete war Alkoholiker, und seine Hände zitterten so stark, dass er vier Wochen zuvor seinen Job an der Akademie verloren hatte. Er weinte, als Nora die ersten Töne sang. Das Konzert fand in einer Schule statt, und der Saal war voll. Kurz vor Beginn kam der Hausmeister mit seiner kompletten Familie, alle im Sonntagsstaat. Sie setzten sich auf die letzten freien Plätze in der ersten Reihe. Das Konzert begann und wurde ein unglaublicher Erfolg. Mit den ersten Tönen zog Nora die Zuhörer in ihren Bann und ließ sie nicht mehr los. Als sie zum Schluss den „Musensohn“ von Schubert anstimmte, mit seinem eindrücklichen Rhythmus, begann der Hausmeister, den Takt mitzuklatschen, mit ihm seine Familie, und schließlich der ganze Saal. Nora genoss ihren Erfolg und den Applaus. Sie wusste, dass sie über Jule gesiegt hatte.

Am nächsten Tag flogen Mark und Nora nach Deutschland. Nora hatte sich höflich von Jule verabschiedet, und war voraus gegangen zum wartenden Taxi. Sie hatte Mark bewusst allein gelassen, damit er sich von Jule verabschieden konnte. Als Mark nach zehn Minuten immer noch nicht kam, stiegen Nora die Tränen in die Augen. Das Hochgefühl des vergangenen Abends war verpufft. Mark und Jule küssten sich vermutlich gerade. Nora schloss die Augen. Dann merkte sie, wie Mark sich neben sie setzte und die Autotür zuschlug. Es war vorbei. Sie konnte nach Hause. Und sie konnte nach Coburg zurück. Nora wischte sich die Tränen ab. Im Flugzeug bestellte Mark Sekt bei der Stewardess und erneuerte seinen Heiratsantrag. Er wollte Nora im folgenden Sommer, nach Abschluss seines Studiums, heiraten. Und Nora wollte das auch. Sie stießen an. Dann lehnte Nora sich erleichtert im Sitz zurück und schloss die Augen. Sie hatte gewonnen.

Die Spielzeit begann, und Nora reiste nach Coburg. Kaum hatte sie das Theater betreten, sah sie Klaus mit einigen Kollegen am schwarzen Brett stehen. Ihr Herz begann unkontrolliert zu schlagen. Aber sie hatte sich entschieden. Sie wollte Marks Frau werden. Sie schluckte, trat auf Klaus zu und begrüßte ihn herzlich. Die anderen Techniker, die dabei standen, zogen sich diskret zurück. Klaus sah Nora an und Nora erschrak. Denn sie sah in seinen Augen, dass sich an seinen Gefühlen für sie nichts geändert hatte. Hastig begann sie zu erzählen. Von Südafrika und den Tieren, von Kapstadt und von der geplanten Hochzeit. Klaus hatte sich gut im Griff. Er gratulierte Nora, umarmte sie freundschaftlich, und ging Richtung Kantine. Erleichtert blickte Nora ihm nach.

Die “Lustige Witwe” wurde wieder aufgenommen. Nora freute sich auf die Vorstellungen. Und sie freute sich darauf, Klaus weiterhin um sich zu haben. Aber Klaus zog sich komplett zurück. Er stand bei den Proben nicht mehr auf der Seitenbühne, und mied Nora im Theater, wo er konnte. Nora vermisste ihn. Gestand es sich ein und versuchte, dagegen anzukämpfen. Aber es gelang ihr nicht. Die Vorstellungen machten ohne ihn keinen Spaß. Sie vermisste seine Bewunderung. Und sie hatte Angst, ihn verletzt zu haben. Bei der dritten Vorstellung jedoch öffnete sich die Tür zur Seitenbühne. Nora drehte automatisch den Kopf. Es war Klaus. Er lehnte sich ans Inspizientenpult und schlug die Arme übereinander. In dem selben Moment sagte auf der Bühne Danilo zur Witwe Hanna: “Velieb’ dich oft, verlob’ dich selten, heirate NIE!” Klaus lächelte Nora zu und schüttelte ganz leicht den Kopf. Dann verließ er die Seitenbühne wieder. Und Nora wusste, das Klaus ihr verziehen hatte.

An Silvester kam Mark mit seinen Eltern und Hermann nach Coburg. Auch Noras Eltern hatten sich entschieden, ihre Tochter an diesem Abend als Valencienne in der Gala-Vorstellung “Witwe” zu erleben. An Silvester wurde dem Coburger Publikum immer etwas besonderes geboten, und so waren die Sänger vor der Vorstellung angehalten, sich in Paaren, bereits kostümiert, im Foyer zu ergehen.

Nora flanierte gut gelaunt und aufgeregt mit ihrem Bühnenpartner Albi durch die Menge der Zuschauer, und hielt nach ihrer Familie Ausschau, die sie schließlich mit Sektgläsern bewaffnet an der Treppe stehen sah. Strahlend rannte Nora auf sie zu. Sie fiel allen um den Hals und stellte ihren Partner vor. Dann merkte sie, dass Mark nicht dabei war. “Er sucht dich!”, zwitscherte Angelika. “Schon die ganze Zeit, er konnte dich bis jetzt nicht finden!” Nora schluckte. Ihre gute Laune begann zu bröckeln. Es gongte zum ersten Mal, und Nora verabschiedete sich. “Wir sagen ihm, dass wir dich gesehen haben!” rief Anton ihr nach. Nora winkte und zog Albi hastig Richtung Bühne. Sie musste Mark vor Vorstellungsbeginn unbedingt noch abfangen. Doch er war nicht aufzutreiben.

Die Vorstellung begann. Nora spielte wie eine Besessene. „Verlieb‘ dich oft, verlob‘ dich selten, heirate NIE!“ Obwohl sie eigentlich nicht wollte, drehte sie den Kopf und erblickte Klaus, der lächelnd den Kopf schüttelte. Ihre nächste Textzeile musste die Souffleuse liefern, so konfus wurde Nora. Nora zwang sich zur Konzentration. Schließlich saß Mark im Zuschauerraum.

Nach der Vorstellung zog Nora sich völlig erschöpft in ihre Garderobe zurück. Sie sehnte sich danach, einfach den Kopf auf den Tisch zu legen und zu heulen. Mark klopfte und trat ein. Nora sah seine Augen. Ihr Herz zog sich zusammen. Er lehnte sich betont lässig ans Fenster und sagte kühl: “Ich hätte dich gern vor der Vorstellung noch gesehen." Nora sagte hastig: ”Ich war doch im Foyer!” “Ja”, unterbrach Mark. Seine Stimme klang gefährlich ruhig. “Das haben deine Kollegen auch behauptet!” “Was?” fragte Nora verständnislos. Ihr wurde kalt. “Ich hab’ dich in der Kantine gesucht, in der Garderobe und hinter der Bühne. Marianne sagte dann, du seist im Foyer. Da warst du aber offensichtlich nicht, sonst hätte ich dich ja gesehen!” Seine Augen wurden schmal. “Wo warst du also wirklich?” Nora sprang auf. Ihre Stimme überschlug sich: “Ich war im Foyer, deine Eltern haben mich doch gesehen!” Zornige Tränen sprangen in ihre Augen. “Was glaubst du eigentlich! Spinnst du? Mich so zu verdächtigen! Kurz vor der Vorstellung ... in einer Beleuchterloge, oder was?" Nora ließ sich auf ihren Stuhl fallen und begann hemmungslos zu schluchzen. Mark fiel in sich zusammen. Schließlich ging er auf Nora zu, und berührte sie am Arm, doch sie schüttelte seine Hand ab. “Nora, es tut mir leid, ich weiß doch, dass du im Foyer warst. Ich war nur so unsicher wegen diesem Klaus.” Nora wischte sich müde die Tränen ab und blickte Mark an. Sie wußte nicht, was sie sagen sollte. Mark fuhr fort, bestrebt um Wiedergutmachung. “Ich glaub dir doch alles, was du mir sagst! Bitte, sei mir nicht böse!” Er gewann seine Sicherheit zurück. Nora nickte. Sie spürte nichts als Erschöpfung. Und eine vage Erleichterung, dass es so glimpflich abgelaufen war. Sie stand auf, gab Mark einen Kuss auf die Wange und begann sich abzuschminken. Mark trat hinter sie und legte die Arme um ihre Taille. Er flüsterte in ihr Haar: “Du warst wirklich richtig gut! Dieser Klaus stand sicher irgend wo ‘rum, und hat nur auf deine Beine gestarrt!“ Nora schluckte, rang sich ein Lächeln ab, und warf den Wattebausch in den Mülleimer. Mark gab ihr einen Kuss: ”Ich warte draußen!” Er verließ die Garderobe. Nora blickte lange in den Spiegel. Ihr Kopf war leer.

Die Familie wartete auf der anderen Straßenseite, bei den Autos. Nora gab beim Pförtner ihren Schlüssel ab und trat nach draußen. Ihre Eltern winkten. Nora schickte sich gerade an, die Straße zu überqueren als sie Klaus sah. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen, gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern ging er mutterseelenallein nach Hause. Mit trockenen Augen starrte Nora ihm nach. Ihr Kehlkopf brannte vor unterdrückten Tränen. Aber sie hatte sich entschieden. Und auf der anderen Straßenseite wartete ihre Familie. Und Mark. Sie atmete tief durch, riss ihren Blick los von der einsamen Gestalt, die eben aus ihrem Blickfeld verschwand, und spurtete über die Straße.

Nora ließ sich umarmen, alle redeten begeistert auf sie ein, bis sie sich schließlich lachend losmachte. Dann fuhren sie gemeinsam zu Fabrizio, wo Nora einen Tisch reserviert hatte. Als sie das Restaurant betrat wurde Nora schwindlig. Mit Klaus war sie zum letzten Mal hier gewesen. Nach der Schubert-Premiere. An dem Abend hatte er sie geküsst. Nora mußte sich am Türrahmen festhalten. Mark umfasste sie lachend. “Hey, wir haben doch noch gar nicht angestoßen!” Nora zwang sich zu lächeln und murmelte: “Kreislauf”. Fabrizio kam mit einem Tablett voller Champgnergläser aus der Küche und geleitet sie zu ihrem Tisch. Kaum hatten sie den ersten Schluck auf Nora getrunken fragte Fabrizio: „Nora, ti prego, singst du was?“ Abwehrend hob Nora die Hände. Aber der Laden war voll, und die Stimmung phantastisch. Und eigentlich wollte sie Fabrizio danken, denn er hatte er diesen Abend möglich gemacht, obwohl das Restaurant längst ausgebucht gewesen war. Sie nickte.

Paolo kam aus der Küche, setzte sich ans Klavier und fragte “Musetta?” Nora konnte nur nicken. Und sang die Musetta. Sie schloss die Augen und sah Klaus wieder, wie er an jenem Abend zu ihr aufgeblickt hatte. Und wie er vorhin allein die Straße entlang getrottet war. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen kamen. Die Stimme fing an zu wackeln. Aber nur ganz kurz. Nora war Profi. Tosender Applaus nach ihrer Arie. Fabrizio nahm ihre Hände: „Dio mio, so hab’ ich das von dir noch nie gehört! Grazie mille. Und der Abend heute geht auf’s Haus! Buon appetito!“ Nora straffte die Schultern, strahlte in die Runde und begann zu essen. Erzählte lustige Anekdoten von den Kollegen und sang später noch einmal. Um Mitternacht auf der Terrasse, bei Eiseskälte, küsste sie Mark innig und sagte ihm, wie sehr sie sich darauf freue, seine Frau zu werden. Und in diesem Moment meinte sie es so.

Als Nora im neuen Jahr nach Coburg zurückkam kam, war Klaus nicht mehr am Theater, hatte Nora aber beim Pförtner eine Nachricht hinterlegt. Er habe kurzfristig einen lukrativen Job in Italien angeboten bekommen, und sofort zugeschlagen. Er schloss mit den Worten, dass er Nora liebe, und sie für immer in seinem Herzen tragen werde. Mit brennenden Augen starrte Nora auf die Notiz in ihrer Hand. Dann knüllte sie den Zettel zusammen.

Das Jahr schritt voran, und die Hochzeitsvorbereitungen liefen auf Hochtouren. Nora und Mark hatten sich gegen einen Polterabend entschieden, wollten dafür aber sämtliche Freunde, Bekannten und Verwandten zur Hochzeit einladen. Mark fuhr durch die Gegend und sah sich zahlreiche Festsäle an. Schließlich fand er die perfekte Örtlichkeit; ein altes Weingut mit großer Scheune, die bequem alle Gäste fassen konnte. Mark übernahm die komplette Organisation der Hochzeit. Sein erstes Referendariatsjahr begann zwar nach den Sommerferien, aber bis dahin hatte er frei. Und Nora hatte in Coburg viel zu tun, ihre erste „Zauberflöten“-Pamina stand an. Mark wusste ganz genau, wie Nora sich ihre Hochzeit vorstellte, und plante dementsprechend. Nora wollte alles unter einen Hut bringen. Alle Menschen, die bis jetzt in ihrem Leben eine Rolle gespielt hatten, sollten Zeugen sein, wie sie an Marks Arm in ihr neues Leben schritt. Bach musste gespielt werden, die Musik, die Nora begleitet und beschirmt hatte. Psalmen und Lieder mussten erklingen, Beschwörungsformeln, die Nora ihre Sicherheit zurück geben sollten. Choräle, oft gesungen, Psalmen, oft gesprochen. Aus diesen Worten strömte für Nora die Kraft, mit der sie sich wappnen wollte. Und mit der sie am Tag der Trauung eine Bastion von vertrauten Klängen und Worten errichten wollte, um geschützt zu sein. Geschützt vor Anfechtungen, uneinnehmbar.

Drei Wochen vor der Hochzeit begannen in Coburg die „Zauberflöte“-Proben. Nora war glücklich. Schon in ihren ersten Vorsingen hatte sie immer die gefürchtete Arie der Pamina gesungen, sie kannte die Klippen dieser musikalisch und stimmlich höchst anspruchsvollen Partie und konnte sie versiert umschiffen. Sie war bereit für Pamina. Als Tamino stellte man ihr einen Gasttenor zur Seite. Julius sah unglaublich gut aus, und als er zum ersten Mal in einer Probe seine Bildnis-Arie aussang, fiel sogar der strengen Regieassisstentin Maike der Bleistift aus der Hand. Julius’ Stimme war samtig, dunkel und männlich. Er sang locker und ohne Druck, ganz anders als die meisten Tenöre. Nora brannte lichterloh. Sie versank im Reich der Phantasie, spann sich Geschichten mit sich und Julius zurecht, nahm die Geschichten mit zu den Proben und flocht sie in ihre Interpretation der Pamina ein. Nora wusste, dass das nur eine Schwärmerei war, die niemandem schadete und ihr guttat. Schließlich war Julius ihr erster Tamino. Und Klaus war endlich weg aus ihren Gedanken. Als Nora in der Generalprobe in silbrigem pianissimo „Tamino mein“ sang, und ihren Tamino mit soviel Liebe und Hingabe anblickte, spürte jeder im Saal, wie die Uhren stehen blieben. Manch einer vergaß zu atmen, manch einer wischte verstohlen eine Träne weg. Nach der Premiere verabschiedete Nora sich mit einer langen, innigen Umarmung von Julius, weil das Theater ihn aus Kostengründen nur für die Premiere engagiert hatte.

Nora fiel ins Premierenloch, aber nur einige Tage. Nach zwei weiteren Vorstellungen mit Frank als Tamino verblasste die Erinnerung an Julius, und Nora richtete ihre Konzentration wieder auf die bevorstehende Hochzeit. Mit ihrem Brautkleid im Gepäck fuhr sie nach Mannheim. Nervös und glücklich. Das Kleid hatte sie in einem Coburger Geschäft gefunden. Ihr Traumkleid. Genau so, wie sie es sich immer vorgestellt hatte.

Am Tag der standesamtlichen Trauung schüttete es wie aus Eimern, und die Zeremonie war langweilig und staubtrocken. Aber das störte die Jungvermählten nicht. Für beide fand die eigentliche Hochzeit erst am nächsten Tag in der Kirche statt, mit allen Freunden und Verwandten. Nach dem Standesamt luden Anton und Angelika das Brautpaar und Noras Familie zum Mittagessen ein, danach fuhr Nora mit ihren Eltern nach Hause. Sie wollte es genau so machen, wie sie es sich schon immer ausgedacht hatte: die letzte Nacht würde sie nicht mit Mark zusammen verbringen.

Am Morgen der Hochzeit war es zwar kühl, aber sonnig. Nora ging zum Friseur und ließ sich ihren Blumenschmuck ins Haar flechten. Zuhause zog sie ihr Kleid an und strahlte vor Glück. Es sah genauso aus wie in ihrem Traum. Dann fuhr Papa sie zur Kirche. Es war schon spät, alle Gäste waren bereits in der Kirche. Mark stand allein draußen und wartete auf seine Braut. Als er sie erblickte, bekam er feuchte Augen. Nun wurde auch Nora nervös. Sie war eine Bühnendarstellerin, und sie wollte, dass ihre Inszenierung perfekt klappte. Alles sollte genau so sein, wie sie es geplant hatte. Das Orgelvorspiel brauste. Schon vor Jahren hatte Nora entschieden, dass diese Orgelphantasie von Bach eines Tages bei ihrer Hochzeit erklingen sollte. Und an welcher Stelle der Musik sie dann mit ihrem Bräutigam die Kirche betreten wollte. Beim Einzug kamen schließlich auch ihr die Tränen. Aber sie weinte nicht vor Glück, weil sie nun endlich Marks Frau wurde, sondern weil alle gekommen waren. Weil sie es geschafft hatte, Kindheit, Studium und Coburg für diesen einen Tag unter einen Hut zu bringen. Die Zeitebenen überlappten sich, die Emotionen schwappten über.

Dann formierte sich der Chor. Nora und Mark blieb der Mund offen stehen. Alle Hochzeitsgäste, die irgendetwas mit Musik zu tun hatten, stellten sich vorne auf, und die gewaltigen Klänge erschütterten das Kirchenschiff. Überwältigt und erschöpft gaben Mark und Nora sich das Jawort. Nach der Trauung standen alle Gäste vor der Kirche beim Bier. Nora war glücklich. Alles klappte so reibungslos. Auch bei der Feier auf dem Weingut gab es keine Panne. Es war ein traumhaftes Fest. Alles stimmte, die Gäste fühlten sich wohl. Man tanzte und trank bis in den Morgen hinein. Außer Nora, denn sie hatte am nächsten Tag eine Nachmittagsvorstellung „Zauberflöte“ in Coburg. Die Vorstellung hatte sich nicht verschieben lassen, und schließlich hatte Mark sich resigniert damit abgefunden. Nora verabschiedete sich um Mitternacht von ihren Gästen. Sie wollte auf Nummer sicher gehen, denn ein wichtiger Agent hatte sich zur Vorstellung angesagt. Zufrieden und nüchtern fiel sie ins Bett.

Am nächsten Tag gab es ein spätes Katerfrühstück für alle Hochzeitsgäste. Die frischgetraute Ehefrau war längst weg und saß glücklich in der Maske. Alles hatte geklappt. Allen hatte es gefallen. Sie streckte die Beine aus und schloß die Augen. Dann stellte sie fest, dass sie und Mark gestern nicht viel voneinander gehabt hatten. De facto hatten sie eigentlich nur den Walzer zusammen getanzt, und sich danach gar nicht mehr gesehen. Unbehaglich rutschte Nora auf dem Sessel hin und her und nahm schließlich einen Schluck Kaffee. Sie blickte nachdenklich in den Spiegel. Sie hatte es am Morgen überhaupt nicht bedauert, ihr Hochzeitsfest nicht mit dem gemeinsamen Frühstück abschließen zu können. Sie hatte sich auf Coburg gefreut, auf die Vorstellung. Nora atmete tief durch und schob das ungute Gefühl, das sie eben hinterhältig beschlichen hatte, entschieden weg. Sie war Sängerin, und da galt es, Opfer zu bringen. Und außerdem kümmerte Mark sich ja um alles. Er würde die Gäste verabschieden und die Geschenke ins Auto packen. Es war ja auch keine große Sache. Alle hatten Verständnis für Nora und ihre berufliche Situation gehabt. Zufrieden schloss Nora die Augen und überliess sich dem weichen Schwämmchen der Maskenbildnerin.

Mark saß beim Frühstück und beantwortete zum zehnten Mal die Frage, wo eigentlich Nora sei. Er tat es mit einem Grinsen ab, dass seine Frau am Tag nach ihrer Hochzeit nicht mit ihm zusammen war, sondern auf der Bühne stand. Der Kaffe schmeckte plötzlich bitter. Doch Mark lächelte.

Pamina hat Hunger

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