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Kapitel 5 Ella
ОглавлениеElla schlug die Augen auf und eine Welle von Angst überspülte sie. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Das Bett war fremd, das Fenster gehörte nicht an diese Wand, den Kleiderschrank hatte sie noch nie gesehen, doch der Moment der Verwirrung ging vorüber, sie erinnerte sich wieder. Leise fluchend setzte sie sich auf. Sie hatte anscheinend die ganze Nacht durchgeschlafen, aber sie musste furchtbare Alpträume gehabt haben. Das Nachthemd war völlig durchgeschwitzt und die Bettdecke komplett verdreht. Sie ließ den Blick durch das kleine Zimmer schweifen. Gestern Abend hatte sie sich vor lauter Müdigkeit nicht mehr umgesehen. Der Raum bot gerade genug Platz für das altmodische Bett mit dem verzierten Nachtkästchen und dem kleinen Lämpchen darauf. Vor dem Fenster stand ein Schaukelstuhl mit einem braunen Kissen und, als sie näher hinsah, mit kleinen, bunten Zeichnungen: Märchengestalten, Zwerge, Einhörner und Zauberinnen waren liebevoll auf das Holz gemalt. Der Stuhl musste Elisabeth gehört haben, dachte Ella, vielleicht hatte Charlotte abends der kleinen Elisabeth Märchen vorgelesen und dabei in diesem Schaukelstuhl gesessen. An einer Wand stand eine große, klobige, mit Schnitzereien versehene Kommode, mit drei großen Schubladen darunter. Oben darauf stand eine große, laut tickende Uhr. Über der Kommode hing ein riesiges Bild, das ziemlich alt und verschmutzt war. Ein röhrender Hirsch war darauf abgebildet.
Ella rümpfte die Nase, ein absolut hässliches Motiv und ganz sicher nichts für ein Mädchenzimmer. Hinter der Tür stand ein Kleiderschrank, ein Monster von einem Schrank, aus massivem Holz, wahrscheinlich eine teure Schreinerarbeit. Das ganze Zimmer wirkte altmodisch und ungemütlich, es roch muffig und irgendwie bitter. Hier müsste mal dringend gelüftet werden, dachte Ella und zog die Gardinen beiseite, um das Fenster zu öffnen. Eine milchige, graue Masse drückte sich gegen die Fensterscheibe und Ella ließ den Vorhang wieder fallen. Oh nein, dachte sie mutlos, hat sich der Nebel immer noch nicht verzogen.
Sie trottete zur Kommode, um einen Blick auf die alte Uhr zu werfen: zehn nach drei. Sie erstarrte vor Schreck und blickte sich in dem hellen Zimmer um. Es musste bereits Nachmittag sein. Nein, schoss es ihr durch den Kopf, nein, das kann nicht sein, das kann einfach nicht sein. Spätestens früh um halb neun hätte sie im Büro sitzen müssen. Ihr war auf einmal ganz schlecht. Sie musste unbedingt in der Arbeit Bescheid geben und endlich ihre Mutter erreichen. Womöglich wurde sie schon vermisst und alle machten sich Sorgen. Eilig zog sie ihre Sachen an und verzog das Gesicht. Ich muss dringend die Kleider wechseln, das Zeug riecht schon so schlecht wie das Haus, dachte sie.
Ella nahm ihre Tasche fest in die Hand, verließ eilig das Gästezimmer und sprang die Treppe hinunter. Das Telefon stand verlockend auf der Anrichte und Ella hob zitternd vor Aufregung den Hörer ab und lauschte. Mist, dachte sie, wieder kein Freizeichen. Enttäuscht ließ sie die Schultern hängen. Dann musste sie wohl abwarten, bis sie wieder in ihrer eigenen Wohnung war. Einen Moment lauschte sie auf Geräusche im Haus. Wo sich Charlotte wohl aufhielt? Sie warf einen Blick in die Küche, aber der Raum war leer und alles blitzblank aufgeräumt. Die Türen zum Esszimmer und zum Wohnzimmer waren fest geschlossen, also musste Charlotte sich oben in ihrem kleinen Zimmer befinden. Ella warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Haustür, stieg dann aber die Treppe wieder hinauf. Sie hatte es eilig, das Haus zu verlassen, wollte sich aber unbedingt nochmals bei Charlotte bedanken und sich von ihr verabschieden. Die Tür zu Charlottes Zimmer war nur angelehnt und Ella klopfte kurz, bevor sie den Kopf zu Tür hineinsteckte. Charlotte saß wieder an ihrem kleinen Tischchen und legte eine Patience. Als sie Ella sah, lächelte sie erfreut. »Hast du gut geschlafen, Kind?«, fragte sie und Ella dachte grimmig, Ella, ich heiße Ella. Sie lächelte verkrampft zurück und murmelte etwas von »Albträumen« und »viel zu lange geschlafen.«
Charlotte stemmte sich von ihrem Stuhl hoch. »Hast du Hunger? Komm mit in die Küche, ich mach dir was zum Essen. Ach, und du könntest mir mit der Wäsche im Keller helfen. Es wäre lieb, wenn du mir noch den vollen Wäschekorb hoch tragen könntest. Langsam wird mir das zu beschwerlich, ich habe schon überlegt, ob ich mir die Waschmaschine in die Küche stellen lassen soll, weißt du, dann müsste ich die schweren Körbe nicht immer die Treppe rauf und runter tragen«.
Ella nickte verständnisvoll. »Ja, natürlich trage ich ihnen noch die Wäsche herauf. Danach muss ich aber wirklich gehen. Ich habe Sie schon lange genug belästigt und muss jetzt dringend nach Hause. Ich hätte doch heute in die Arbeit gemusst und jetzt ist es bereits Nachmittag und ich hab mich nicht mal im Büro abgemeldet. Ich weiß gar nicht, wo die Zeit hin ist«, sagte sie kläglich, »ich muss wirklich los«, wiederholte sie.
Charlotte ging vor ihr vorsichtig die Treppe hinunter. Sie winkte Ella zur Kellertreppe und machte das Licht an. »Wenn es dir recht ist, steige ich nicht mit hinunter.« Sie stützte sich schwer auf den Handlauf. »Siehst du dort links, das ist die Tür in die Waschküche.«
»In Ordnung.« Ella stieg die Treppe hinunter. Mit jeder Treppenstufe fühlte es sich kälter an und trotz der Wandlampen wurde es immer dunkler. Ein beklemmendes Gefühl überkam sie. Sie wollte möglichst schnell die Wäsche holen und endlich aus diesem Haus gelangen. Hier unten wurde der üble Geruch immer stärker und Ella musste beinahe würgen. Dann hörte sie ein leises Summen. Ella lauschte. Aus dem Summen wurde ein auf- und abschwellendes Flüstern. Sie bekam Gänsehaut und schluckte trocken. Auf der letzten Stufe angekommen sah sie die Umrisse der Tür. Unter dem Türschlitz schien Licht hervor. Charlotte muss das Licht angelassen haben, dachte Ella und streckte die Hand nach der Türklinke aus. Da sah sie plötzlich, wie sich unter dem Türschlitz ein dunkler, schlanker Schatten heraus schlängelte, er wand sich zuckend hervor und gewann an Substanz. Der Tentakel drehte sich blind und peitschte kleine und dann immer größere Kreise, als ob er irgendwo Halt suchen würde. Der Fangarm wurde länger und dicker, schon erschien ein zweiter Schatten, der sich suchend hervor schlängelte. Ella sah wie gelähmt zu und brachte keinen Laut heraus. Was war das denn? Ihr wurde eiskalt und sie fühlte eine tiefe Angst in sich aufsteigen. Das war nichts Gutes, diese Dinger waren abgrundtief böse, das spürte sie instinktiv. Auf keinen Fall durfte sie von diesen Tentakeln berührt werden. Sie drehte sich auf dem Absatz herum und sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe wieder hinauf. Sie stolperte, rappelte sich auf und keuchte weiter. Dann blickte sie erstaunt hoch. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Vorhin war sie die wenigen Stufen locker hinunter geeilt, doch jetzt sah sie kaum das Licht oben im Flur. Charlotte war nur als ein Schatten zu erkennen. Weiter, befahl sie sich, weiter. Ella rannte so schnell sie konnte, die Treppenstufen nahmen noch immer kein Ende. Doch endlich, endlich erreichte sie die letzten paar Stufen, sprang in den Flur, drehte sich kurz panisch um, ob ihr die Tentakel folgten. Rannte an Charlotte vorbei, wurde nicht langsamer, bis sie die Küche erreicht hatte. Dort ließ sie sich schwer atmend auf den nächsten Stuhl fallen. Ihr Herz pochte so stark, dass sie Angst hatte, es würde ihr aus der Brust springen.
»Charlotte!«, schrie Ella und ihre Stimme überschlug sich, »Charlotte, kommen Sie da weg! Da unten sind irgendwelche … Dinger!« Ella sprang wieder auf und rannte voller Sorge um die alte Frau zur Küchentür. Charlotte stand noch immer an der Kellertreppe und drehte sich langsam zu Ella um. Ein trauriger Ausdruck glitt über ihr Gesicht, dann sah sie plötzlich entsetzlich enttäuscht aus und jede Falte in ihrem Gesicht war deutlich zu sehen. »Ach Kind, was ist denn los, du hast die Wäsche ja gar nicht mitgebracht«, klagte sie weinerlich.
Ella erstarrte. Hatte Charlotte denn überhaupt nichts bemerkt? Und ich heiße …, sie hielt inne und ein heißer Schreck durchfuhr sie, ich heiße … nichts, völlige Leere in ihrem Kopf, ich heiße … Ella! Ella überkam eine Welle von Übelkeit.
Charlotte war schrecklich wütend, ihr Körper pulsierte vor Zorn. Nein, sie schüttelte den Kopf. Nicht sie, das Ding in ihrem Körper war wütend. Es schickte schmerzhafte Stromstöße durch mikroskopisch kleine Fäden, mit denen es das ganze Haus und auch ihren Körper eingesponnen hatte. Ach Wilhelm, dachte Charlotte traurig, wenn du wüsstest, was du getan hast. Warum konntest du das Ding nicht in Ruhe lassen? Ich hätte es einfach weggeputzt, vernichtet. Aufgewischt und mit dem Schmutzwasser ausgeschüttet. Uns allen wäre so viel Leid erspart geblieben. Ein Stromschlag schoss durch ihren Kopf, vor Schmerz krümmte sie sich. Dieses aufsässige Kind war nicht in den Keller gegangen, wie sie es befohlen hatte. Charlotte war rasend vor Wut!