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Genug ist genug

Tom schaute auf die Uhr. Es war schon halb acht, Lotta wollte bereits vor einer Stunde zu Hause sein. Sie hatten vor, sich zu zweit einen schönen Abend zu machen. Seit sie vor zwei Jahren in die Stadt gezogen waren, waren sie Stammgäste bei dem Italiener am Park, und das aus gutem Grund: Bei Carlo einzukehren, fühlte sich immer wie eine kleine Reise nach Italien an. Bei ihrem letzten Besuch hatte er angekündigt, die Muschelsaison einzuläuten. Vielleicht war es heute ja schon so weit... Während Tom wartete, sah er den Muscheltopf schon vor sich. Es war ihm, als könne er die typische Mischung aus Kräutern und Meeresluft riechen.

Endlich hörte er Lotta die Wohnungstür aufstoßen. Schon an der Art, wie sie das tat, wurde Tom klar, dass der gemütliche Abend zusammen mit den Muscheln noch eine Weile warten musste.

Nachdem sie ihren Mantel im Flur ausgezogen hatte, trat Lotta in das Wohnzimmer. Sie war wütend, das konnte Tom ihr sofort ansehen. Über den Tag hinweg hatte sich wohl einiges in ihr angestaut, das sich jetzt seinen Weg nach draußen bahnte.

„Ich habe die Nase voll!“, platzte es auch schon aus ihr heraus. „Der Tag hat mich vielleicht Nerven gekostet. Ein Meeting jagte das andere, dazwischen gaben sich die Kollegen die Klinke in die Hand, alle wollten etwas von mir. Ich hatte kaum Zeit, mal zur Toilette zu gehen, geschweige denn, einen klaren Gedanken zu fassen.“ Genervt verdrehte Lotta die Augen. „Zu allem Überfluss renovieren sie noch das Gebäude nebenan. Ständig lief die Kreissäge, das Geräusch ging mir jedes Mal durch Mark und Bein.“ Sie bekam jetzt noch eine Gänsehaut, wenn sie an das Kreischen der Säge dachte. „Ich bin total erledigt. So kann es nicht mehr weitergehen.“

Aus Erfahrung wusste Tom, dass es keinen Sinn machte, jetzt sofort zum Essen aufzubrechen. Wenn Lotta in einer solchen Stimmung nach Hause kam, musste sie erst einmal „schleusen“, wie sie es nannte, den Arbeitstakt abschütteln und durchatmen. Lächelnd sagte er: „Ich freue mich auch, dich zu sehen. Hattest du einen schönen Tag?“

Erschöpft ließ sich Lotta auf das Sofa fallen. Ein wenig ruhiger fuhr sie etwas später fort: „Ich meine es ernst, diesmal reicht es wirklich. Wir müssen grundlegend etwas an unserem Leben ändern. Nur was?“

Bei dieser Frage blickte sie Tom herausfordernd an. Er kannte diesen Blick. Wenn Lottas grüne Augen ihn so anfunkelten, dann war sie wirklich aufgebracht. Er konnte sie ja verstehen, und so vieles hatten sie schon ausprobiert. Regelmäßig nahmen sie sich Auszeiten, waren sogar umgezogen und hatten die Jobs gewechselt. Doch trotz all dem liefen sie immer wieder in die gleichen Alltagsfallen hinein.

„Wir können diesen ganzen Stress nicht mehr ignorieren“, sagte Lotta nun. „Ich nehme die Themen von der Arbeit mit nach Hause, habe schlaflose Nächte und das Kopfkino ist pausenlos aktiv, auch abends und am Wochenende. Das macht mich fertig.“

„Du hast ja recht“, sagte Tom. „Aber ich weiß auch nicht mehr, was wir noch machen oder ändern müssen, damit das aufhört.“ Er stellte sich hinter Lotta und begann, ihr die Schultern zu massieren. Der Stress saß ihr ganz schön im Nacken, das konnte er bei der ersten Berührung spüren. ,So kann es tatsächlich nicht weitergehen‘, dachte er bei sich und sagte dann: „Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir an so einem Punkt stehen. Bisher haben wir nie den Kopf in den Sand gesteckt und immer versucht, das Leben für uns passend zu machen.“

Ungeduldig schüttelte Lotta Toms Hände ab. Sie sprang vom Sofa auf und drehte sich zu ihm um. „Natürlich haben wir vieles probiert, das weiß ich auch. Aber aus irgendwelchen Gründen fruchtet das alles nicht. Es ist, als ob wir auf der Stelle treten. Wir drehen uns im Kreis und kommen immer wieder an dem Punkt an, an dem wir losgegangen sind.“ Lotta fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Das Thema regte sie zu sehr auf, um still auf dem Sofa sitzen zu bleiben. „Früher haben wir Energie in etwas hineingegeben und mehr herausbekommen, als wir investiert haben. Heute ist es umgekehrt, es fühlt sich an, als hätten wir ein Leck im Tank. Wir stecken unglaublich viel Energie in das, was wir tun, aber am Ende kommt kaum etwas dabei heraus. Kein Wunder, dass wir erschöpft sind.“

„Nicht nur wir, es scheint anderen ja auch so zu gehen“, erwiderte Tom. „Es werden doch immer mehr Menschen von dem ganzen Druck und Stress krank. Die Zeitschriften und das Internet sind voll von gut gemeinten Ratschlägen, wie ich meine Widerstandsfähigkeit stärken kann. Meditation, Ernährungskonzepte oder Achtsamkeit, es gibt unendlich viele Ideen, was ich alles für mich tun kann und soll.“

„Das ist auch alles schön und gut, aber wenn ich mich am nächsten Tag erneut der Belastung aussetze, die ich am Abend zuvor wegmeditiert habe, fängt alles wieder von vorn an.“ Lotta sprach aus Erfahrung: Jeden Mittwoch ging sie zum Yoga und fühlte sich danach durchaus gut. Sie genoss die Bewegung, ihr Körper wurde geschmeidiger und sie entspannte sich ein wenig. Doch wenn sie donnerstagmorgens zurück an ihrem Schreibtisch war, fühlte sie sich nach einer Viertelstunde genauso verspannt und gestresst wie am Vortag. Der Yoga-Effekt hielt nicht an.

Davon konnte Tom ein Lied singen. Als Physiotherapeut kannte er dieses Thema nur zu gut, auch von vielen seiner Patienten. „Ja klar, die eigentlichen Stressauslöser werden durch das Meditieren nun mal nicht behoben. Du bekämpfst damit lediglich die Symptome. Für den Moment hilft das zwar, aber wenn es danach ungebremst weitergeht, hast du auf Dauer nichts gewonnen.“ Tom wunderte sich oft darüber, wie wenige seiner Patienten es tatsächlich schafften, Stresssituationen zu reduzieren, die ihnen nicht guttaten. „Viele Menschen müssen wohl erst krank werden oder Angst vorm Sterben haben, bevor sie etwas in ihrem Leben verändern. Das können wir besser, es sollte doch möglich sein, da gegenzusteuern.“

Lotta runzelte die Stirn. Offenbar war sie nicht ganz einverstanden. „Aber wir reden doch gerade darüber, dass wir keinen Schritt weiterkommen, obwohl wir ständig versucht haben, unser Leben anzupassen. Ab einem gewissen Punkt stoßen all die Selbstoptimierungsmaßnahmen doch an ihre Grenzen.“ Sie seufzte resigniert. „Ich verstehe einfach nicht, wie es so weit kommen konnte. Irgendwie bin ich in diese Stressfalle hineingerutscht. Erst habe ich es gar nicht bemerkt, es war ein schleichender Prozess.“

Lotta war schon immer ehrgeizig gewesen. Nach ihrem Wirtschaftsstudium war sie richtig durchgestartet, erst bei einer Unternehmensberatung, dann als rechte Hand der Geschäftsleitung in einem amerikanischen Großkonzern. Viele Überstunden, wenig Urlaub – irgendwann hatte Lotta sich eingestehen müssen, dass sie das Tempo nicht mehr lange durchhalten würde. „Unterm Strich will ich doch einfach nur einen guten Job machen, und das tue ich ja auch. Aber zu welchem Preis? Ein Nervenbündel bin ich geworden!“, gab sie zu. „Dass es darauf hinauslaufen würde, habe ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt.“

Tom überlegte einen Moment, bevor er antwortete. „Das Stressspiel geht nur so lange, wie sich Mitspieler dafür finden. Es gibt doch inzwischen viele Menschen, die genug davon haben, kein Wunder, dass hier so viele Firmen händeringend Mitarbeiter suchen.“

„Ich für meinen Teil überlege ernsthaft, wie lange ich noch mitspielen will.“ Lotta zuckte mit den Schultern.

Tom nahm sie tröstend in den Arm. Nach ein paar Minuten bemerkte er, dass sich ihre Stimmung aufhellte. Wie so oft zeigte die liebevolle Umarmung Wirkung. Lotta begann, sich zu entspannen. Nach einer Weile fragte sie: „Wollen wir los?“ Tom nickte. Sie zogen ihre Mäntel an und machten sich auf den Weg zum Italiener.

„Buona sera, come stai?“ rief Carlo mit einem strahlenden Lächeln und wies sie mit einer einladenden Geste auf ihren Lieblingsplatz. Der Tisch am Fenster war frei. Eine rot-weiß karierte Decke lag auf dem Tisch, darauf eine einfache Kerze. Carlo hielt nicht viel von moderner Dekoration, die Atmosphäre war eher so, wie man sie sich in einem kleinen italienischen Bergdorf vorstellte. Dazu passte es, dass hier noch die ,Mama‘ kochte, und zwar am liebsten das, was ihr gerade in den Sinn kam. Das schrieb sie dann mit Kreide auf eine Tafel an der Wand. ,Frische Muscheln‘ stand heute da, energisch unterstrichen, darunter die beiden Optionen: in Weißweinsauce oder in Tomatensauce. Blumige Worte waren nicht nötig. ,Mamas‘ Stammgäste wussten ohnehin, dass das Essen gut sein würde.

Tom frohlockte, darauf hatte er gehofft. Bevor Carlo erst lange verschwand, um die Getränke einzuschenken, bestellte er kurz entschlossen die Muscheln in Weißweinsauce für Lotta und ihn selbst. Endlich konnte der angenehme Teil des Abends beginnen. Versonnen blickte Tom auf die alten Fotos italienischer Schauspieler an den Wänden.

„Adriano Celentano… Hast du jemals einen Film mit ihm gesehen?“ Er vertiefte sich mit Lotta in ein Gespräch darüber, welche Filme sie als Kinder mit diesem oder jenem Schauspieler gesehen hatten. Mit jedem Satz fielen der Tag und seine Belange ein Stück mehr von ihnen ab. Als die Muscheln einige Zeit später auf dem Tisch standen, war ihre Welt langsam wieder ins Lot geraten. In diesem Augenblick war alles gut. Warum war das bloß immer nur ein kurzer Moment? Sollte das nicht ein ganz normaler Zustand sein und der Stress die Momentaufnahme? Es musste doch möglich sein, sich über längere Zeit hinweg gut zu fühlen. Irgendetwas lief da gerade schief, nicht nur in ihrem eigenen Leben, sondern in der gesamten Gesellschaft.

Bewusstseinssprung ins neue Leben

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