Читать книгу Bewusstseinssprung ins neue Leben - Petra Pliester - Страница 5
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Auf den Spuren der Leichtigkeit
Wie konnten Tom und Lotta ihrem Leben eine neue Richtung geben? Seit dem aufwühlenden Abend, der seinen Ausklang beim Italiener fand, stand diese Frage im Raum. Allerdings hatten die beiden nicht wirklich Zeit, sich dem Thema zu widmen. Der Alltag entfaltete seine gewohnte Dynamik, so dass sich erst Wochen später die Gelegenheit ergab, den Faden wieder aufzunehmen.
Bevor erneut etwas dazwischenkommen konnte, entschieden sie sich, gleich am Samstagmorgen im Wald spazieren zu gehen. Während sich Tom die Wanderstiefel zuschnürte, dachte er daran, wie er früher als Junge immer mit seinem Fernglas losgezogen war, um Vögel zu beobachten. Stundenlang war er unterwegs gewesen und hatte dabei die Zeit vergessen. An anderen Tagen hatte er sich einfach treiben lassen, Eicheln gesammelt, Gewölle von Eulen oder andere Dinge untersucht, die seinen kindlichen Forscherdrang weckten. Schon immer hatte er es geliebt, im Wald unterwegs zu sein. Mit einem Anflug von Wehmut erinnerte er sich an die Leichtigkeit und Freude, die er dabei empfunden hatte. Heute brauchte es immer eine Weile, um die Arbeitswoche abzuschütteln und sich auf den Wald einzulassen.
Lotta wartete schon im Wagen, als Tom aus der Haustür trat, und sie fuhren gemeinsam die kurze Strecke zum Wanderparkplatz hinauf. Während sie die ersten Schritte gingen, merkte Tom, wie steif und ungelenk er sich bewegte. Vor zwei Jahren hatte er sich als Physiotherapeut selbständig gemacht. Damit wollte er eigentlich erreichen, dass er seine Arbeit selbst einteilen konnte, um sich auch mal aus dem Stress herausnehmen zu können. Aber das Gegenteil war der Fall: Um über die Runden zu kommen, musste er seine Patienten genauso wie vorher auch im Zwanzig-Minuten-Takt durchschleusen. Durch den ganzen Stress war er völlig verspannt. Er benötigte immer mehr Zeit, bis sein Körper wieder geschmeidig wurde und er sich einigermaßen wohl darin fühlte.
In seinem Kopf sah es nicht viel anders aus. Die Schönheit des Waldes nahm er in diesem Zustand kaum wahr. Irgendwie schienen die Eindrücke der Umgebung gar nicht zu ihm durchzudringen. Er ertappte sich sogar dabei, wie er beim Laufen stur nach unten starrte. In seinen Gedanken war er bei einer Meinungsverschiedenheit mit einem Patienten hängen geblieben. Wie in einer Endlosschleife geisterte ihm das Gespräch immer und immer wieder im Kopf herum. Er kannte das schon: Beim Laufen kam erst einmal alles, was ihn beschäftigte, an die Oberfläche. Irgendwann würde es besser werden, als gäbe er mit jedem Schritt ein wenig Ballast an den Wald ab. Er vermisste die Leichtigkeit, mit der er früher unterwegs war.
Tom ließ Lotta an seinen Gedanken teilhaben: „Was hat denn damals eigentlich diese Leichtigkeit ausgemacht? Ich kann das gar nicht so richtig greifen.“
Lotta überlegte einen Moment. „Nun, lachen und albern sein zum Beispiel.“ Dabei stieß sie Tom mit dem Ellbogen an. „Und nicht alles so ernst nehmen.“
„Genau, und in den Tag hineinleben, das macht viel aus“, spann Tom den Faden weiter. „Einfach mal keinen Plan haben, mal die ganzen blöden Verpflichtungen vergessen.“
„Sorglos sein wie spielende Kinder.“ Lotta warf eine Kastanie nach ihm und traf.
„Au!“, sagte Tom und raffte einen Haufen Laub zusammen, den er über Lotta fallen ließ.
Die Blätter verfingen sich in ihrem Haar. Sie sah aus wie eine Waldfee. Tom fing an zu lachen, und auch Lottas Proteste gingen in ein Lachen über. Schon war die Stimmung eine ganz andere. Beschwingt liefen sie weiter und genossen die frische Luft. Lotta strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und fragte: „Warum ist es für Kinder so einfach, sich frei zu fühlen?“
„Na ja, sie haben nun einmal weniger am Bein. Und sie vertrauen darauf, dass für alles gesorgt ist. Sie kennen praktisch keine Existenzangst, durch ihre Eltern haben sie ja eine Art Grundsicherung.“
Lotta ließ den Gedanken auf sich wirken. „Außerdem treffen Kinder immer wieder andere Kinder zum Spielen, da sind sie die ganze Zeit voll bei der Sache“, fügte sie dann hinzu.
„Und dass sie bedingungslos Freude daran haben, gemeinsam etwas zu unternehmen. Als Erwachsene haben wir doch kaum noch echte Freundschaften. Wenn wir jemanden treffen, prüfen wir erst einmal, ob wir einen Nutzen von dieser Person haben, ob wir von der Verbindung profitieren könnten.“
„Bei Kindern ist das anders. Sie verstellen sich nicht, wenn sie zusammen sind, sie legen einfach los. Bei uns Erwachsenen ist es fast schon zur Routine geworden, in eine Rolle zu schlüpfen, um in den Augen der anderen gut dazustehen.“
Plötzlich legte Tom einen Finger auf die Lippen und zeigte auf den Boden. Unweit vor ihnen lief ein Eichhörnchen über den Weg. Auf der anderen Seite angekommen, huschte es eine Fichte hinauf und verschwand zwischen den Ästen. Tom war gut darin, Tiere aufzuspüren. Er hatte schon im Augenwinkel das Eichhörnchen flitzen sehen. Ein gutes Zeichen, offenbar fing er an, sich zu entspannen und seine Umgebung wieder wahrzunehmen. Es war, als würde er nach einem Bad im Schlamm unter die Dusche steigen. Die ganzen Fremdeinflüsse wurden abgespült, und darunter kam er selbst wieder zum Vorschein – ein befreiendes Gefühl.
In seiner Jugend ging es ihm immer dann am besten, wenn er mit Gleichgesinnten zusammen war, mit Menschen, die genauso feinfühlig waren wie er. Daran hatte sich bis heute nichts geändert. So wie die Welt aber nun einmal war, hatte er im Alltag eher mit groben Menschen zu tun, und das tat ihm nicht gut.
„Irgendwie kann ich nur am Wochenende oder im Urlaub so sein, wie ich wirklich bin“, nahm Tom das Gespräch wieder auf. „Es braucht einfach zu viel Zeit, um wieder richtig bei mir selbst anzukommen.“
„Das ist genau das, was ich meinte, als ich neulich so aufgebracht nach Hause kam“, sagte Lotta. „Wir drehen uns im Kreis. Kaum habe ich das Gefühl, wieder in meiner Mitte zu sein und meine Gedanken sortiert zu haben, ist schon wieder Montag und das Spiel beginnt von vorn. Kein Wunder, dass ich sonntags am Abend so oft Bauchschmerzen habe. Der Gedanke, dass am nächsten Morgen kein Raum mehr für mich sein wird, macht mich richtig krank.“
„Logisch, so feinfühlig wie du bist.“ Tom rieb seine Fingerspitzen aneinander, um seine Äußerung zu unterstreichen. „So geht es mir ja auch. Die Sensibilität ist ein Teil von mir, aber bei der Arbeit muss ich es ausschalten, um so zu funktionieren, wie andere sich das vorstellen.“
„Was wir benötigen, um gut arbeiten zu können, ist für andere Menschen nur schwer nachvollziehbar.“ Lotta dachte an einen ihrer Kollegen aus dem Verkauf. Dieser brauchte es, ständig im Kontakt mit Leuten zu sein, was für seinen Job natürlich eine sehr hilfreiche Eigenschaft war. Die Kehrseite war, dass er sehr viel Raum einnahm, wo immer er gerade war. Wenn er etwa mit seinen Kunden telefonierte, füllte seine Stimme mühelos das Großraumbüro. Er selbst konnte dann wunderbar arbeiten, alle anderen allerdings nicht mehr.
Als Lotta die Situation kurz beschrieb, hatte Tom gleich ein lebhaftes Bild von dieser Person vor seinem inneren Auge. „Wer immer in Aktion sein will, genießt es geradezu, von Termin zu Termin zu springen, er will sich ständig neuen Reizen aussetzen. Jemand, der anders ist als er, kann unter solchen Bedingungen nur sehr mühsam arbeiten und erst recht nicht sein ganzes Potenzial entfalten.“
„Ja, solche Menschen bringen mich manchmal völlig durcheinander. Ich brauche die Zeit und die Möglichkeit, auch mal in ein Thema einzutauchen, in die Tiefe zu gehen und etwas länger dabei zu bleiben. Erst dann kann ich optimal arbeiten und meine Stärken einsetzen. Jemand, der ständig mit den Dingen um sich herum beschäftigt ist, versteht in der Regel gar nicht, was ich überhaupt tue“, klagte Lotta. „Ich fühle mich von den gröberen Menschen oft regelrecht an die Wand gedrückt. Sie wollen jedem ihre eigene Arbeitsweise aufdrängen, und damit werde ich in meinem Arbeitsfluss ausgebremst. Es ist, als hätte ich einen Motor mit 300 PS in mir, den ich nicht voll hochfahren kann. Ich arbeite die ganze Zeit über mit halber Kraft, und das nur, weil da draußen kein Platz für Menschen wie mich zu sein scheint.“
„Ja, das Gefühl kenne ich“, bestätigte Tom. „So eine Arbeitswoche ist wie eine große Blockade. Sie bringt mich weit weg von dem, was mir wichtig ist. Mich persönlich weiterzuentwickeln, scheint unter diesen Umständen gar nicht möglich zu sein. Das ist es, was mich oft frustriert und ratlos macht.“
„Ich habe gerade ein Déjà-vu. Genauso war es doch neulich beim Italiener, erinnerst du dich? Warum ist das immer nur eine Momentaufnahme? Kann es nicht umgekehrt sein? Die Leichtigkeit sollte doch der normale Zustand sein und schwere Phasen die Ausnahme.“
„Das kann ich dir sagen“, meinte Tom. „Unser ganzes Leben lang werden wir schon in Strukturen hineingepresst, die zu einer ganz anderen Zeit erschaffen wurden, als es noch viel mehr darum ging, zu überleben. Um zum Beispiel im Krieg oder danach durchzuhalten, wäre man mit Feingefühl nicht weit gekommen, da galt es, mit anzupacken, und es ging auch mal grob zu. Der Krieg ist aber nun schon lange vorbei und wir sind einige Generationen weiter, doch wir sollen nach den gleichen Prinzipien agieren wie damals.“ Er hielt einen Moment inne. „Nur mal so eine Idee: Was wäre denn, wenn ein Großteil der Bevölkerung mittlerweile feinsinnig ist, aber all diese Menschen ihr Potenzial nicht leben können, weil sie nach veralteten Regeln und Strukturen funktionieren müssen?“
„Es wäre zumindest eine Erklärung dafür, dass so viele Menschen unter Stress leiden.“
„Vielleicht sind wir hier auf das große Thema unserer Zeit gestoßen: Das, was wir alle leben, sind wir gar nicht.“
Mit dieser Erkenntnis im Gepäck setzten Tom und Lotta ihren Weg fort. Die Luft war kalt und Frühnebel strich zwischen den Bäumen umher. Ein paar erste Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch die Wolken hindurch und brachten das Versprechen eines sonnigen Tages mit sich.