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Der Sprung ins Nichts

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Als wir den gefährlichen Abschnitt der Strecke erreichten, verwandelte sich meine Haut in das hauchdünne Häutchen unter einer Eischale. So verwundbar fühlte ich mich. Der Fahrer unseres Autos drückte das Gaspedal durch. Wir rasten mit 144 km/h über Schlaglöcher. Die kräftigen Erschütterungen überlagerten mein Zittern. Danach fühlte ich mich nicht als glorreiche Heldin. Ich war schlicht und ergreifend froh, zu leben und in Aleppo zu sein. Viel mehr konnte ich am Beginn dieser Reise im Sommer 2013 nicht denken.

Der Ostteil dieser syrischen Stadt war während des Bürgerkrieges drei Jahre lang eine Hochburg der bewaffneten Opposition. Um dorthin zu gelangen, musste man illegal aus der Türkei nach Syrien einreisen; ein Pressevisum des syrischen Regimes für den Besuch von Aufständischen war ausgeschlossen. Die sechzig Kilometer lange Route von der Grenze bis Ost-Aleppo galt als „sicher“. Mit einer Ausnahme. Die letzte Etappe vor der Stadt führte über einige Kilometer dicht an Stellungen der syrischen Armee vorbei. Hier waren auf einer Anhöhe Scharfschützen in Stellung. Sie zielten auf Autos, die vorbeifuhren. Wer nach Aleppo wollte, in ein wichtiges Zentrum des syrischen Aufstandes, musste hier durch.

Ob „es“ das wert war? – Ja. Eine andere Antwort fällt mir nicht ein. Ich war danach in Krankenhäusern, die heimlich im Untergrund geführt wurden oder mit Sandsäcken verbarrikadiert waren. Im Notfall wurden dort auch die vielen Brandwunden mit Lehm behandelt, da Medikamente fehlten. Ärzte erzählten, sie müssten auch Amputationen ohne Anästhesie durchführen. Doch die größte Angst waren Luftangriffe, die das Wenige, was noch an Hilfe möglich war, pulverisierten. Eine 13-Jährige lag wimmernd, hoch fiebernd in einem Krankenbett. Ihre Leber war von einem Granatsplitter zerfetzt worden. In einer Not-Operation war es gelungen, ihr Leben zu retten, nur ohne Antibiotika waren die Komplikationen nach dem Eingriff kaum in den Griff zu bekommen. Niemand vom medizinischen Personal wollte mir seinen Namen nennen oder auf ein Foto. „Ärzte, die im Oppositionsgebiet arbeiten, gelten als Terroristen, unsere Familien geraten in größte Gefahr, wenn man uns identifiziert“, erklärte mir ein Arzt. Viele stammten wie er aus dem immer schon besser situierten Westen Aleppos, nannten sich „medizinische Deserteure“.

Die für mich besonders wichtigen Einblicke während meiner Reisen in diese Region boten Begegnungen mit den Trägern und Trägerinnen des Aufstandes gegen das syrische Regime. Ich traf einen Anwalt und einen Richter, die in ihren vereinsamten Büros eine neue Verfassung für Syrien erarbeitet hatten. Rechtsstaatlichkeit, Kontrollorgane der Macht, freie Wahlen: Dafür sollte ein dicker Stapel Papier den Rohentwurf bilden. Sie knallten mir den Packen wutschnaubend auf einen Tisch. Das würde doch der Westen wollen, und warum bekämen sie keine Hilfe, lautete ihr Vorwurf. Einen Tag nach unserem Gespräch wurden sie verhaftet. Von den „eigenen“ Leuten. Denn ihr neues Syrien war den islamistischen Fraktionen der Opposition nicht genehm. Diese hatten mächtige Milizen als Rückhalt; finanziert von den Golfstaaten und der Türkei mit einer klaren politischen Agenda, die sich als „Scharia“-Gericht manifestiert hat, untergebracht am Gelände der ehemaligen Augenklinik im Osten Aleppos.

Zirka 300.000 Menschen lebten damals noch in diesem Teil der einstigen Wirtschaftsmetropole Syriens. Die Industriegelände waren Kraterlandschaften, die Infrastruktur, der Kanal und die Wasserversorgung desolat. Diesel für Generatoren und Fahrzeuge wurde in Limonaden-Flaschen am Straßenrand um horrende Preise verhökert. Unter Kindern grassierte die Krätze, aus Schulen wurden provisorische Unterrichtseinheiten in Kellern. Jede Sekunde konnte hier blitzartig eine Fassbombe einschlagen. Tonnenschwere Geschosse, gefüllt mit Sprengstoff, Nägeln, manchmal Chlorgas. Die Vorwarnzeit für solche Fassbomben lag, wenn es hell war, bei einer halben Minute. Ein kleiner Punkt am Himmel war zu sehen, ein Surren war zu hören, dann der Lärm der Detonation.

Tausende solcher Fassbomben torpedierten jahrelang Aleppos Osten. Wenn sie in den Häuserreihen ihre heimtückische Sprengkraft entfalteten, zerfetzten die Metallteile alle in nächster Nähe. Staubwolken gingen hoch, die Lungen kollabieren ließen. Menschen erstickten qualvoll. Es war billige Munition, die ein Maximum an Angst und ein Minimum an Kosten verursachte. Nicht einmal der Tod der eigenen Bevölkerung war Syriens Regime mehr wert als das Recycling von Metallschrott.

Ich schlief mit einer Tasche in der Hand, in der Telefon, Pass und Bargeld steckten. Die Stiefel, die kugelsichere Jacke legte ich neben das Bett. Bevor ich mich hinlegte, übte ich mehrmals die Handgriffe, um alles zu finden, damit ich mich auch im Dunkeln und im Halbschlaf blitzschnell in Sicherheit bringen konnte. Geholfen hätte es im Ernstfall niemals. Aber es half mir einzuschlafen, eingelullt in eine selbstgestrickte europäische Blase, in der Kontrolle Sicherheit vorgaukelt.

Angst

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