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Wie ich zur Mafia kam

Wer so wie ich in einer ostpreußisch-schlesischen Großfamilie aufgewachsen ist, geprägt vom Katholizismus polnischer Prägung und von rauschenden Familienfesten, weiß um die Macht von Blutsbanden: Die Familie über alles. Großherzig nach innen und streng nach außen, hielt meine ostpreußische Großmutter den Clan bis zum letzten Atemzug zusammen. Und meine schlesische Mutter unterteilt die Menschheit bis heute in »wir« und »die Fremden«. Blut ist eben dicker als Wasser. Ich weiß noch, wie ich mich wunderte, als wir im Englisch-Leistungskurs die Bedeutung dieses für mich so offensichtlichen Satzes erklären sollten. Und dass ich die einzige war, die sich meldete.

Für den Erhalt der Familie hätte meine Großmutter alles getan. Wobei zur Familie im Ernstfall nur die Blutsverwandten gehörten. Wie eine Sizilianerin auch, unterschied meine Großmutter zwischen carne di carne, Fleisch aus Fleisch, und carne di contratto, Fleisch aus Vertrag. Und meine Mutter war nur Fleisch aus Vertrag.

Mein Vater war der älteste Sohn – und starb mit 27 Jahren als Bergmann unter Tage. Als meine Mutter sechs Jahre nach seinem Tod zum ersten Mal wieder tanzen ging, wurde sie von meiner Großmutter aus der Familie verstoßen. Fortan ging ich allein zu den Familienfeiern und saß auf dem Ehrenplatz neben meinen Großeltern. Und wenn meine Mutter mich später fragte, wie die Feier verlaufen war, wie meine Tanten angezogen gewesen und welche Geschenke gemacht worden waren, dann schwieg ich.

Ein gewisser amoralischer Familiensinn war mir also durchaus vertraut, als ich mit zwanzig zum ersten Mal nach Sizilien aufbrach. Ich fuhr mit meinem damaligen Freund in einem alten Renault 4 von Kamen nach Corleone, nur weil ich den Paten gelesen hatte: Die Geschichte einer Familie, die Segen und Fluch zugleich war, hatte mich fasziniert. Eine Familie, die man gleichermaßen liebt und hasst und der man dennoch nicht entkommen kann: All das erinnerte mich an den Loyalitätskonflikt, in den ich als Kind gestürzt war, als sich die Familie meines Vaters meiner Mutter gegenüber ungerecht verhalten hatte. Ich liebte die Familie meines Vaters und liebte meine Mutter – und war erleichtert, als der Bann gegen meine Mutter endlich wieder aufgehoben wurde.

Als ich zum ersten Mal nach Corleone fuhr, war die Mafia für mich nichts anderes als eine große, pervertierte Familiengeschichte. Damals ahnte ich noch nichts vom »amoralischen Familismus« – ein Begriff, den der amerikanische Anthropologe Edward C. Banfield bei der Erforschung süditalienischer Familienstrukturen geprägt hat: Vertrauen besteht nur gegenüber Familienmitgliedern, das Wohl der Familie stellt den höchsten Wert dar. Moral gilt nur innerhalb der Familie, nicht außerhalb – alles, was der Familie nützt, ist gut. Später diente der Begriff lange als Basis für die soziologische Erforschung der Mafia – und wird heute von vielen sizilianischen Mafiaforschern als inadäquat kritisiert, weil Banfield von dem Ergebnis seiner wenig repräsentativen Forschung in einem Dorf in der Basilikata auf ganz Süditalien und auf die gesamte Mafia geschlossen habe.

Ich wusste nichts davon – und doch war es genau das, was mich damals nach Sizilien trieb. Nach vier Tagen Fahrt (Venedig, Florenz und Rom ließen wir links liegen) kamen wir in Corleone an: Ich war enttäuscht, nur alte Männer mit Schlägermützen am Straßenrand sitzen zu sehen. Und dennoch war schon da mein späterer Lebensweg vorgezeichnet, also nach Italien zu ziehen und mich mit der Mafia zu beschäftigen: Die Familie ist an allem schuld.

Mafia. 100 Seiten

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