Читать книгу Meermädchen - Petra Vetter - Страница 5

Sommer 1990 St. Johns

Оглавление

„Jason, bist du fertig? Wo steckst du nur wieder?“ Laut tönte Liam Waterstones fröhliche Stimme durchs Haus. Jason kniff in seinem Versteck die Augen fest zusammen und kicherte. Er liebte es, mit seinem Großvater Verstecken zu spielen. Wenn er die Augen schloss, dauerte es länger, bis er gefunden wurde, das glaubte er zumindest. „Jason!“, hörte er seinen Opa erneut rufen, „komm schon, wir wollen endlich mit dem Boot los und angeln! Wenn du nicht bald kommst, sind alle Fische weggeschwommen! Dann können wir deiner Oma nicht beweisen, dass wir einen Kabeljau fürs Abendbrot fangen können!“

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Wie der Blitz schoss Jason aus seinem Versteck hervor. Er wollte nicht schuld an einem verspäteten Aufbruch zur heutigen Bootstour sein. Dafür freute er sich viel zu sehr darauf. Er war bereits seit dem Frühstück schrecklich aufgeregt.

Seine Großmutter, Sarah Waterstone, war heute Morgen schon in aller Frühe nach London aufgebrochen, so dass Jason alleine mit seinem Großvater gefrühstückt hatte. Sarah war die Mutter seines Vaters und 58 Jahre alt, doch wirkte sie, durch den frechen Fransenschnitt ihres mit silbernen Fäden durchzogenen blonden Haares und den blitzenden, hellblauen Augen, wesentlich jünger. Dieser Eindruck wurde durch ihre zierliche Figur noch betont. Als gefragte Illustratorin arbeitete sie freiberuflich für große Magazine und für die Werbebranche.

Trotz des aufkommenden Pixel- und Photoshop-Hypes schätzten sie immer noch die Vorzüge des handgezogenen Strichs, so dass Sarahs Beruf nicht vom Aussterben bedroht war.

Sie erledigte ihre Arbeit größtenteils im Home-Office und fuhr einmal im Monat in die Hauptstadt, zur Besprechung mit ihren Kunden.

Sein Großvater war sieben Jahre älter als seine Frau und seit zwei Jahren in Rente. Von großer, kräftiger Gestalt, mit dichtem, zerzaustem, graumeliertem Haar, wirkte er wie ein alter Seebär. Aus seinem gebräunten Gesicht blickten aufmerksame, graublaue Augen, die von Fältchen gerahmt waren. An den Londoner Terminen seiner Frau hatte er sturmfreie Bude. Jason wusste nicht, was Opa damit meinte, aber es war ihm auch egal. Erwachsene sagten manchmal komische Dinge. Vielleicht verstanden sie sie ja selber nicht richtig.

Nach dem Frühstück musste Liam noch die Bootsausrüstung zusammentragen und das Picknick zubereiten, während Jason spielte, und in seiner Fantasie bereits auf dem Meer war. Als es dann schließlich losging, konnte er sich das kleine Versteckspiel mit seinem Opa jedoch nicht verkneifen; es machte einfach zu viel Spaß.

Doch nun ließ sich Jason folgsam in etwas zu große Segelschuhe, für die er lästigerweise ein zweites Paar Socken brauchte, stecken. Es war ein wunderschöner, aber nicht allzu warmer Sommertag, und er wollte die Jacke, die ihm sein Großvater hinhielt, nicht anziehen, doch Opa bestand darauf. Er meinte, auf dem Wasser würde es durch den Fahrtwind recht frisch werden. Als er ihm aber die Schwimmweste überziehen wollte, protestierte Jason vehement. „Opa, die brauche ich nicht, ich kann doch schwimmen. Hast du das schon wieder vergessen? Du hast es mir doch selber beigebracht!“ „Nein, junger Mann, das ist mir keineswegs entfallen, aber eine Schwimmweste ist auf dem Boot Pflicht, auch für kleine Wasserratten wie dich. Da gibt es keine Diskussion.“ Jason zog eine Schnute. Opa war wirklich ahnungslos. Erst neulich hatten ihm ein Freund und dessen Eltern, die er ins Freibad begleitete, bestätigt, was für ein toller Schwimmer er war. Und nun sollte er eine Schwimmweste tragen; das war einfach nur peinlich.

„Komm schon, Sportsfreund“, lenkte sein Opa ein und strich seinem Enkel durch das wellige, hellbraune Haar, „kein Grund, beleidigt zu sein. Schwimmwesten werden auf Booten aus Sicherheitsgründen getragen. Wir sind hier am Meer, da kann das Wetter schnell umschlagen. Wenn das Boot bei hohem Seegang von einer Welle überrollt und du von Bord geworfen wirst, kann dir die Schwimmweste das Leben retten. Schau, ich trage auch eine, obwohl ich ein super Schwimmer bin.“

Jasons braune, ausdrucksstarke Augen blitzten kurz rebellisch auf, doch er wusste, wann er verloren hatte. Deshalb ließ er sich die rote Auftriebsweste jetzt widerstandslos über den Kopf ziehen.

Ihm fiel ein, dass seine Oma gestern strickt gegen die Idee mit dem Bootsausflug gewesen war. Er hatte einen Teil ihrer Diskussion, die nicht für seine Ohren bestimmt war, zufällig mit angehört. „Mit vier ist Jason noch zu jung“, waren Sarahs Worte an ihren Mann. „Du bist mit dem Boot und der Angel beschäftigt und kannst den Kleinen nicht dauernd festhalten. Du weißt, wie quirlig er ist; wer weiß, auf was für dumme Ideen er kommt. Nachher springt er dir noch über Bord, weil er mit den Fischen um die Wette schwimmen will.“

„Sarah, beruhige dich doch“, erwiderte sein Großvater. „Erstens ist Jason in zwei Tagen schon fünf, er wird selbstverständlich eine Schwimmweste tragen, und die See wird morgen so ruhig wie heute sein; ich habe den Wetterbericht gehört. Jason ist ganz wild darauf, auf Fischfang zu gehen. Lass ihm doch die Freude.“

„Gut, dass ich morgen in London bei meinem Auftraggeber bin und nichts von eurem Törn mitbekomme, Liam; das erspart mir einen Herzkasper“, seufzte seine Großmutter. Damit war die Diskussion beendet.

Seine Großeltern hatten wirklich keinen Schimmer, dachte Jason. Er war nicht wild aufs Angeln, und Fische waren ihm im Wasser viel lieber, als auf dem Teller, obwohl sie ihm schmeckten. Er wollte unbedingt aufs Meer fahren, weil er hoffte, dort dem Meermädchen Aldiana aus Großvaters Geschichte zu begegnen. Opa veränderte ihre Abenteuer bei jeder neuen Erzählung, die dadurch immer länger und spannender wurde. Doch der Kern wandelte sich kaum:

Aldiana war in den Tiefen des Ozeans zu Hause, in denen das Licht des Himmels die Unterwasserwelt auf wundersame Weise in ihren schönsten Farben erstrahlen ließ. Sie lebte, unbeschwert und geliebt von ihren Eltern und Geschwistern, in einem großen, atemberaubenden Felsen-Palast. Das Meerwasser strömte sanft durch seine Räume, was die, in wunderschönen Muschelvasen arrangierten Unterwasserpflanzen zum Tanzen brachte.

Dieses Glück hätte ewig dauern können, wäre Aldianas Vater Dorian der Zweite, der mächtige und gerechte Herrscher des gewaltigen Wasserimperiums, nicht eines Tages von den Drachenfischen entführt worden.

Drachenfische waren finstere Wesen, von grausigem Äußeren, mit furchterregenden Zahnreihen und einem Giftstachel auf dem Rücken. Vor ihnen hatten selbst die Haie Respekt. Da sie Unruhestifter waren, die die anderen Bewohner des Ozeans bedrohten und tyrannisierten, waren sie von den Meerkönigen in ein finsteres Reich in den abgelegenen Teilen der Tiefsee verbannt worden.

Trotzdem kam es immer wieder zu Aufständen, so dass die Meerkönige die Grenzen sichern mussten und deshalb eine Armee aus Haien rekrutierten, die in den Außenbereichen des Landes patrouillierten. Aber auch die Haie wurden mit der Zeit unzufrieden, denn ihre Aufgabe war anstrengend und gefährlich und trennte sie die längste Zeit des Jahres von ihren Familien. Und irgendwann hatte einer dieser Haie den Drachenfischen das streng gehütete Geheimnis der Meermenschen, das ihre Macht begründete, verraten. Wer diese Macht brechen wollte, musste den Meerkönig entführen.

Jason konnte die Geschichte nicht oft genug hören. Sie berührte ihn, nahm ihn mit in eine fremde Unterwasser-Welt, die alleine ihm und Aldiana gehörte, die er schon bald insgeheim nur noch ‚sein Meermädchen‘ nannte. Bestimmt wusste Aldiana, dass er heute aufs Meer fuhr, bestimmt würde sie sich ihm zeigen, bestimmt wollte sie den Jungen, der heimlich in sie verliebt war, kennenlernen. Wenn er sie also treffen wollte, musste er die Schwimmweste wohl oder übel in Kauf nehmen. „Nah siehst du, ist doch gar nicht so schlimm“, meinte sein Opa aufmunternd, als er Jason die Weste anlegte. Und den Fischen ist es sowieso egal, wie du aussiehst“, lachte er. Pah, dachte Jason, du hast ja schon Oma; du willst heute nicht das Mädchen aller Mädchen treffen. Er musste irgendeinen Weg finden, sich von dem blöden Gummiding zu befreien, wenn Aldiana neben dem Boot auftauchte, ohne dass Opa es bemerkte. Würde sein Großvater Aldiana wohl sehen können, fragte er sich oder zeigten sich die Wasserwesen nur Kindern?

Jason liebte die Sommerferien bei seinen Großeltern, denn er konnte hier selbstständiger unterwegs sein, als im großen London, wo er mit seinen Eltern wohnte. Seine Großeltern lebten außerhalb von Poole, in dem idyllischen Dorf St. Johns. Es lag direkt an der Küste und besaß einen eigenen Bootsanlegeplatz für die Dorfbewohner.

Jason und Liam machten sich auf den Weg. Sie ließen die Häuser des Örtchens hinter sich und gingen nun durch ein kleines Heidegebiet mit Blick auf die eindrucksvollen Felsformationen, die sich am Strand und im Meer ausdehnten. Man konnte weit über die flache Bucht mit ihren vielen kleinen Inseln blicken. Ein Großteil der Küste war wegen seiner außer gewöhnlichen geologischen Formationen zum Weltnaturerbe der UNESCO erklärt worden, doch das interessierte Jason nicht besonders. Er fragte sich vielmehr, auf welchem dieser Felsen sich Aldiana wohl sonnte, wenn sie an Land kam. Während er noch darüber grübelte, hatten sie bereits das Boot erreicht. Selbst Jasons kleine Beine konnten den kurzen Weg zwischen Haus und Anlegeplatz in wenigen Minuten zurücklegen.

„Bereit, Matrose?“, fragte sein Großvater. „Dann ab mit dir an Bord.“ Das ließ sich Jason nicht zweimal sagen. Geschickt balancierte er über den schmalen, geländefreien Bootssteg an Deck. „Ein echter Seemann“, hörte er seinen Opa hinter sich. Aus seiner Stimme klang Anerkennung. Jason strahlte; er war stolz auf sich. Beim Anblick des schmalen Stegs war ihm dann doch ein wenig mulmig geworden.

Liam verstaute den Picknickkorb sicher in der Kajüte, ermahnte Jason, während der Fahrt ruhig sitzen zu bleiben, dann warf er den Motor an. Er löste die Taue am Anlegeplatz und fuhr hinaus aufs Meer. Jason jauchzte; der Fahrtwind zerzauste seine Haare. Vorsichtig versuchte er, direkt über die Reling ins Wasser zu blicken, doch er konnte nichts sehen, denn wenn er saß, war die Bordwand noch zu hoch für ihn. Er sah nur die Heckwelle, die hinter dem Boot schäumte, und bekam den einen oder anderen Gischt-Spritzer ab.

Sie schipperten an Poole vorbei, der großen Hafenstadt im Südwesten Englands, die wegen ihres Naturhafens, dem zweitgrößten weltweit, berühmt war. Von hier gingen Fähren nach Frankreich, und es gab zahlreiche Bootsbauer und Werften für große Luxusyachten. Liam Waterstone war selbst ein bekannter Bootsbauer in der pulsierenden Stadt gewesen, doch als er in Rente ging, suchten er und Sarah sich ein ruhiges Haus in der Umgebung.

Nachdem sie ein Stück hinausgefahren waren, drosselte Liam den Motor, ließ den Anker fallen, und sie schaukelten nun auf den Wellen. Sein Boot war ein ehemaliger Fischkutter, den er in seiner Werft umgebaut hatte. Die Heckwand ließ sich herunterklappen und bildete eine Schwimm-Plattform, auf der man sitzen und die Beine im Wasser baumeln lassen konnte, vorausgesetzt, sie waren lang genug. Oder man sprang zum Schwimmen ins Meer. Es gab natürlich auch eine Leiter, um wieder zurück ins Boot klettern zu können. Liam saß dort besonders gerne, wenn er angelte. Nachdem er heute die Bootswand heruntergelassen hatte, wandte er sich an seinen Enkel: „Matrose, du darfst jetzt aufstehen und auf dem Boot herumlaufen. Aber sei vorsichtig, hörst du? Geh mir ja nicht über Bord, sonst darf ich nie wieder nach Hause kommen. Deine Oma macht mich zur Schnecke, wenn dir was passiert.“ „Keine Sorge, Opa, ich pass schon auf.“ „Gut, Seebär, dann lass uns mal die Angel klar machen. Wollen doch mal sehen, ob wir deiner Oma nicht einen schönen Fisch mitbringen können.“

Jason reichte seinem Opa den Köder; das hatte er bereits bei seinem Vater, einem passionieren Angler, gelernt. Aber Jason hatte sich bei dem damaligen Angel-Ausflug mit Rick fürchterlich gelangweilt, denn es war einfach nichts los. Er hätte lieber etwas Abenteuerlicheres unternommen, wie Drachen jagen oder Prinzessinnen retten, doch das hatte sein Vater anscheinend nicht verstanden. Hier auf dem Boot war das natürlich etwas anderes.

Obwohl das Meer ganz ruhig aussah schaukelte und drehte sich der Kahn im Kreis, ein paar Möwen umkreisten sie neugierig. „Opa, warum schaukelt das Boot so?“, fragte Jason, „es gibt doch gar keine richtigen Wellen.“ Liam war verblüfft; was diesem Knirps so alles auffiel. „Du hast recht“, antwortete er, „das Wasser sieht nicht sonderlich bewegt aus, aber das täuscht. Draußen auf dem Meer sind die großen Fähren unterwegs, deren Bugwellen bis in diese Bucht kommen und bei bestimmten Windverhältnissen für Unruhe im Wasser sorgen.“ Ganz verstanden hatte Jason diese Erklärung nicht, aber er gab sich zufrieden. Wichtig war nur, dass sie sich in Aldianas Reich befanden. Hoffentlich verfing sie sich nicht in der Angelschnur, dachte er besorgt.

Doch Opa hatte sein Meermädchen als geschickte, vollendete Tänzerin beschrieben, die es liebte, sich dem anmutigen Reigen der Wasserpflanzen anzuschließen. Sie teilte dabei mit ihrem Fischschwanz, der, anders als bei den übrigen Meermenschen, in allen Farben des Regenbogens schillerte, kraftvoll das Wasser, so dass ihre Drehungen und Salti von unerhörter Schönheit und Grazie zeugten. Nein, Aldiana war viel zu gewandt, als dass eine Angelschnur ihr gefährlich werden könnte.

Die Zeit verging, ohne dass ein Fisch anbiss. Einmal spannte sich die Leine, hing aber wieder durch, bevor Liam und Jason sie einholen konnten. Jason freute sich insgeheim für den Fisch. „Macht nichts“, meinte Liam, „lass uns erstmal etwas essen; ich bekomme langsam einen Mordshunger.“ Jason stimmte begeistert zu, denn er konnte das Picknick kaum erwarten; Opa packte immer so leckere Sachen ein und schien genau zu wissen, was sein Enkel am liebsten mochte.

Nach dem Imbiss gähnte Liam herzhaft. Das gute Essen und das Gläschen Wein -Jason hatte stattdessen Limonade aus einem Weinglas bekommen- ließen ihn ein wenig schläfrig werden.

Als Jason bemerkte, dass sein Großvater vor sich hindöste, zog er sich Schuhe und Strümpfe aus, setzte sich vorsichtig an den Rand der Plattform und versuchte, mit den Füßen im Wasser zu plantschen, doch seine Beine waren einfach noch zu kurz. Obwohl er schon ein guter Schwimmer war, wollte er nicht riskieren, ins Wasser zu fallen, denn dann würde sein Opa gewaltigen Ärger bekommen. Oma hatte ihm nämlich verboten, an Bord Wein zu trinken, weil ihn das immer müde machte. Also beobachtete Jason die Fische und bewegte ab und zu die Angel, damit keiner von ihnen aus Versehen anbiss.

Aldiana hatte sich bisher nicht blicken lassen. Jason überlegte: Sein Großvater hatte sich immer geweigert, ihm die Geschichte von Arielle zu erzählen, die alle anderen Kinder kannten. Dieser geklaute Walt Disney Kitsch hänge ihm zum Hals raus, begründete er seine Ablehnung. Zuckersüße Bilder, die dem tieferen Sinn des Märchens einfach nicht gerecht würden. Jason verstand nicht, was sein Opa meinte, doch spielte es keine Rolle, denn er hatte sein eigenes Meermädchen bekommen, das er mit keinem anderen Kind teilen musste. Aber eine große Frage war für ihn unbeantwortet geblieben. Opa erzählte von Aldiana, als würde es sie, im Gegensatz zu Arielle, wirklich geben. Konnte das sein? Warum schwamm sie dann nicht herbei? Nachdenklich blickte er auf den großen Felsen an der Backbord-Seite. Er sah genauso aus, wie der in Opas Beschreibung. Dort sonnte sich Aldiana am liebsten. Wenn es also den Felsen gab, musste es auch sie geben!

Jason versuchte, das Wasser mit seinen Blicken zu durchdringen, bis auf dessen Grund zu schauen. Wie gerne hätte er Aldianas Palast, der sich irgendwo in der Nähe befinden musste, gesehen! Was für ein munteres Treiben an diesem Ort herrschen musste, an dem Fische aller Art ihren ganz speziellen Aufgaben nachgingen.

Opa hatte von Meerforellen, den geborenen vornehmen Dienern, erzählt:

Sie beaufsichtigten die Putzerfische, sorgten dafür, dass die Kleidung der Palastbewohner immer in tadellosem Zustand war und überwachten die Service-Fische -meist Schellfische – beim Auftragen der Speisen, die eifrige Krabben und Krebse in der Palastküche zubereiteten.

Aale hingegen erledigten die Hausmeisterarbeiten, weil sie sich überall mühelos hindurchschlängeln konnten. Die vornehmen Schollen jedoch besetzten die Ministerposten, und so waren alle Aufgaben nach den Fähigkeiten der Meeresbewohner gerecht verteilt.

Doch wie sehr Jason sich auch bemühte, er konnte all diese Wunder nicht entdecken.

In diesem Moment schreckte sein Großvater aus seinem Nickerchen hoch. Er suchte Jason mit den Augen und sah erschrocken und schuldbewusst aus, als er ihn am Rand der Plattform entdeckte. „Alles in Ordnung, Opa!“, rief dieser ihm fröhlich zu, „ich war ganz vorsichtig! Du sollst doch keinen Ärger mit Oma bekommen.“

Liam räusperte sich verlegen. „Na, Seemann, schon etwas gefangen?“, dabei deutete er auf die Angel. Jason schüttelte bedauernd den Kopf, obwohl es ihm überhaupt nicht leidtat. „Wenn die Fische heute nicht beißen, können wir auch schwimmen gehen“, schlug Liam vor. Darauf hatte die Wasserratte Jason nur gewartet. Endlich raus aus der Schwimmweste und ab ins kühle Nass. Sie tollten wie wild herum, schwammen um die Wette und tauchten, bis sie völlig erledigt waren. Zurück an Bord gab es noch einen kleinen Snack zur Stärkung, dann war es auch schon Zeit, zurück zu schippern.

Während ihr Schiffsbug die Wellen teilte, dachte Jason an die weiteren Ereignisse in Aldianas Geschichte und an das wohlgehütete Geheimnis der Meermenschen.

Ein besonderes Lungengeflecht ermöglichte ihnen, sich sowohl im Wasser, als auch an Land aufzuhalten. Sie konnten bei Landgängen ihren Fischschwanz ablegen, an dessen Stelle sofort ein Paar Beine erschien. Da sie die Menschensprache beherrschten, konnten sie alle wichtigen Informationen beider Welten sammeln und so die Lebewesen des Wassers wirksam vor Übergriffen der Menschen schützen. Allerdings mussten sie ihre Wandlung in aller Abgeschiedenheit vollziehen, sonst verloren sie diese Fähigkeit und damit ihre Macht.

Ein Verräter-Hai, der dem Meereskönig eine Botschaft seines Hauptmannes überbringen sollte, hatte zufällig Königin Amber und ihre Tochter Aldiana belauscht, als sie über dieses Geheimnis sprachen. Er teilte es sofort dem Anführer der Drachenfische mit. Nachdem nun das Mysterium von Aldianas Volk für sie gelüftet war, wollten sie die Gabe der Meermenschen auf der Stelle stehlen, erfuhren aber durch den Verräter-Hai, dass dies unmöglich sei. Die Drachenfische konnten mit der Entführung von König Dorian dem Zweiten lediglich einen Fluch über das Reich legen, durch den die besonderen Eigenschaften der Meermenschen

verlorengingen.

Jason schreckte aus seinen Gedanken auf, als sie sich dem großen Felsen näherten. Er reckte seinen Kopf, doch vergeblich. „Opa“, fragte er, „ist das hier Aldianas Felsen?“ „Ganz genau“, erhielt er die Bestätigung. „Ich habe mich schon gewundert, dass du gar nicht fragst. Hatte schon befürchtet, du erkennst ihn nicht, obwohl ich ihn immer so gut beschreibe“, grinste sein Opa.

Bald darauf fuhren sie ihr Anlegemanöver und vertäuten das Boot am Anleger. Es war ein toller Ausflug, aber trotzdem war Jason ein wenig enttäuscht. Warum war Aldiana nicht erschienen? War sie vielleicht krank oder hatte womöglich einen Sonnenbrand? Was wusste er schon von Meermädchen.

Zurück im Haus, erwartete sie Sarah, die bereits aus London zurückgekehrt war. Die Frage, ob sie erfolgreich gewesen sei, bejahte sie und bedachte dabei ihren Mann mit einem verschwörerischen Lächeln. Normalerweise hätte Jason beleidigt darauf reagiert, weil er wusste, dass er bei diesen Blicken unter Erwachsenen von irgendetwas ausgeschlossen wurde, doch heute verzieh er es seinen Großeltern. Dafür gab es einen ganz besonderen Grund. Er hatte morgen Geburtstag, und bestimmt heckten die beiden eine riesengroße Überraschung für ihn aus. Der Abend ging, nach dem gemeinsamen Kochen und Abendessen, dann auch recht schnell für ihn zu Ende, denn er war hundemüde. Er schlief traumlos, wie ein Stein.

Meermädchen

Подняться наверх