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Geburtstag

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Am nächsten Morgen trieb es ihn schon in aller Herrgottsfrühe aus den Federn; er platzte fast vor Neugier und rumorte extra laut in der Gegend herum. Die beiden Schlafmützen von Oma und Opa sollten endlich aufstehen. Laut sang er: „Ich habe heute Geburtstag, ich habe heute Geburtstag!“ Verschlafen schauten Liam und Sarah aus ihrem Schlafzimmer hervor. Ihr Glück, dachte Jason. Wären sie jetzt nicht gekommen, hätte er ihr Zimmer gestürmt, um auf ihrem Bett herumzuhopsen. Seine Großeltern umarmten ihn, küssten ihn ab -darauf hätte er gut verzichten können, doch ließ er es heute großzügig geschehen- und sangen ihm ein Geburtstagslied. Es war nicht das übliche ‚Happy Birthday‘, sondern eine witzige Eigenkomposition seines Vaters, die Jason liebte. „Nochmal“, drängelte er deshalb seine Großeltern, als sie die letzte Note beendet hatten. „Später“, vertrösteten sie ihn. „Willst du nicht erst mal Geschenke auspacken? Heute warten noch einige Überraschungen auf dich.“ Das ließ sich Jason nicht zweimal sagen. Wie der Blitz rannte er ins Wohnzimmer, wo gewöhnlich der Tisch mit seinen Präsenten stand.

Sarah entzündete die Kerzen auf seiner Torte, die er alle auf einmal ausblies. Na ja, nicht alle. Eine blieb übrig, denn dafür hatte seine Puste heute vor lauter Aufregung nicht gereicht. Egal, auf dem Tisch lagen viele bunte Päckchen, die alle ausgepackt werden wollten. Da Jason mit fünf Jahren nach den Ferien in die Primary School gehen würde, hatten ihm seine Eltern seine erste Schuluniform geschenkt. Sie sah sehr chic aus, und Jason freute sich, dass er ein freundliches Türkisblau tragen durfte. Es erinnerte ihn ans Meer und war nicht so düster und langweilig, wie die Farben anderer Einrichtungen. Die Uniform saß wie angegossen. Es gab noch weitere Geschenke für seine Einschulung, so dass er schon fast ein bisschen enttäuscht war, als er das letzte Päckchen öffnete.

Schon das Papier gefiel ihm ungeheuer gut. Es schillerte in allen grün und blau Tönen, wie das Wasser in ihrer Bucht, und kleine Seepferdchen schwammen darauf herum. Was es wohl verbarg? Jason hatte nicht die geringste Ahnung, öffnete vorsichtig die Verpackung und hielt ein umwerfendes Buch in den Händen.

Auf dem Einband saß ein Meermädchen auf einem aus dem Wasser ragenden Felsen. Ihr Fischschwanz schillerte in allen Regenbogenfarben, und sie winkte jemandem an Land fröhlich zu. Meinte sie Jason? Begrüßte sie ihn?

Jason konnte schon ein paar Wörter lesen und seinen Namen schreiben. A l d i a n a buchstabierte er den Titel. Er stieß einen Freudenschrei aus und begann, in dem Buch zu blättern. Für den langen Text reichten seine Künste noch nicht, aber er bestaunte die wunderschönen Bilder. „Gefällt es dir?“, rissen ihn seine Großeltern aus seiner Betrachtung. Jason strahlte; es war das schönste Geschenk von allen.

„Weißt du“, hörte er seine Oma, „dein Opa hat die Geschichte von Aldiana aufgeschrieben, weil sie dir so sehr gefällt. Jetzt, wo du in die Schule kommst, wirst du sie bald selber lesen können.“ „Und deine Oma“, ergänzte Liam, „hat die tollen Aquarelle gemalt. Gestern in London hat sie dann das Layout und den Druck fertiggestellt, damit das Buch heute auf deinem Geburtstagstisch liegen kann.“ Jason verstand nichts vom Layout, aber er druckte, nein, drückte sein Geschenk fest an sich und tanzte ausgelassen und glücklich durchs ganze Haus.

„Heute Mittag fahren wir nach Poole!“, riefen ihm seine Großeltern hinterher, „da erwartet dich die nächste Überraschung!“ Jason war glücklich; von jetzt an würde er jedes Jahr fünf werden, denn mit fünf gab es anscheinend die besten Geschenke.

Mittags saßen sie dann in Poole in Jasons Lieblings- Restaurant. Seine Großeltern waren hier seit vielen Jahren Stammgäste, und die Eigentümer hatten den Tisch zu Jasons Geburtstag besonders hübsch gedeckt. Sogar eine kleine Tafel Schokolade lag auf seiner Serviette. Schon zweimal war der Kellner vorbeigekommen, um nach ihren Wünschen zu fragen, doch Liam hatte nur die Getränke bestellt und ihn dann wieder fortgeschickt. Während sich Jason noch fragte, ob ihn seine Großeltern heute an seinem Geburtstag verhungern lassen wollten, öffnete sich die Restauranttür und seine Eltern kamen herein.

Sein Vater, Rick Waterstone, war Dirigent des berühmten Sundown Orchestra und, neben seinen Verpflichtungen am Rundfunk, häufig mit seinen Musikern unterwegs. Seine Mutter Helen hingegen arbeitete als Schauspielerin am Two Pieces Theatre, das unter anderem für seine Shakespeare Inszenierungen gefeiert wurde. In den Sommerferien gingen beide auf Tournee und brachten Jason dann, zur großen Freude aller Beteiligten, zu Ricks Eltern.

Jason riss es vor Freude von seinem Stuhl. „Mama, Papa!“, schrie er durchs ganze Restaurant und stürzte ihnen entgegen. Rick und Helen hatten es geschafft, sich für diesen besonderen Tag von ihren beruflichen Verpflichtungen loszueisen und waren aus dem Ausland angereist, um mit ihrem Sohn zu feiern. Jason freute sich wie ein König, oder, präziser gesagt, wie ein Meerkönig. Es kam leider nicht sehr oft vor, dass er seine Eltern an seinem Geburtstag sah, doch stimmte es ihn nie allzu traurig, denn seine Großeltern ließen keine trübte Laune aufkommen.

Helen umarmte ihren Sohn zuerst, verwuschelte liebevoll sein Haar, während er ausgelassen quietschte und ihr schönes, schmales Gesicht betrachtete. Ihr langes, braunes Haar war so wellig wie sein eigenes, doch in ihren braunen Augen konnte man kleine Goldsprenkel sehen. Sein Vater Rick wartete geduldig, bis Mutter und Sohn ihr Begrüßungsritual vollzogen hatten, um Jason dann fest in seine Arme zu ziehen. Er war von großer und ähnlich kräftiger Statur wie sein Vater, und aus seinem markanten Gesicht mit dem dunkelblonden Haar blickten ein paar freundliche dunkelblaue Augen.

Nun war ihre Gesellschaft vollständig, und das Essen konnte bestellt werden. Endlich, dachte Jason erleichtert.

Liam erzählte gerade von ihrem Angelausflug. „Wie viele Fische habt ihr denn gefangen?“, fragte Rick scheinheilig. Er kannte die Antwort ganz genau. „Keinen einzigen“, lautete sie dann auch wahrheitsgetreu, und die beiden Angler versuchten, ein bekümmertes Gesicht zu machen. Alle lachten schallend, denn sie wussten, wie sehr Jason das Töten der gefangenen Fische hasste.

„Zeit für den Nachtisch“, sein Vater erhob sich. „Wollen doch mal sehen, ob wir für euren entgangenen Fang eine Entschädigung auftreiben können.“ Mit diesen Worten ging er zur Theke. Wenig später trug der Kellner einen Teller mit brennenden Wunderkerzen, die in einem Seestern aus Eis steckten, an ihren Tisch. So etwas Tolles hatte Jason noch nie gesehen, und während er noch staunte, ertönte sein geliebtes Geburtstagsständchen zum zweiten Mal. Was für ein großartiger Tag!

Nach dem Essen spazierten sie noch ein wenig an der Strandpromenade von Poole entlang, doch wurde es Jason schnell langweilig. Deshalb fuhren sie zum Haus seiner Großeltern, um gemeinsam im Meer zu schwimmen.

Schon bald, viel zu bald, war es für seine Eltern Zeit zum Aufbruch. Sie drückten Jason fest an sich, und als sich seine große, schlanke Mutter zu ihm herabbeugte sagte sie leise: „Bis zur Einschulung, mein Großer“, dann stieg sie zusammen mit seinem Vater in das wartende Taxi.

Es war ein so schöner Tag gewesen, trotzdem wurde Jason nun ein wenig traurig. Sarah bemerkte seinen Stimmungswechsel und schlug deshalb vor, es sich bei einem Gläschen Wein -Limonade für Jason, versteht sich- und ein paar kleinen Snacks gemütlich zu machen. Sie hatten einen aufregenden Tag erlebt und waren alle ein wenig müde, so dass ihnen ein bisschen Ruhe nicht schaden würde. Eine wunderbare Gelegenheit, um die Geschichte von Aldiana zu hören. Ihre Idee wurde begeistert angenommen, und sie waren sich schnell einig, dass Liam vorlesen sollte. Jeder kuschelte sich auf seinem Lieblingsplatz zurecht, und Liam begann:

Aldiana

Zuerst rauschten die Worte an Jason vorbei, der die Geschichte nur zu gut kannte und sich einer wohligen Schläfrigkeit überließ.

Er wusste, dass der Fluch, der durch die Entführung des Meerkönigs über dem Reich lag, gebrochen werden konnte. Dazu musste eine Königstochter einen Menschen mit reinem Herzen finden, der bereit war, ihr in ihren Palast zu folgen, um den Meermenschen bei ihrem Kampf gegen die Drachenfische beizustehen. Die Königsfamilie besaß eine Geheimwaffe, -eine Hightech-Harpune von einem gekenterten Schiff- deren Handhabung ihnen unbekannt und nur den Menschen vertraut war. Aldiana würde diese schwierige Aufgabe übernehmen und Malcolm finden, der sie begleiten und zusammen mit der Hai-Arme erfolgreich König Dorian aus den Flossen der Drachenfische befreien würde.

Doch plötzlich rissen Liams Worte Jason aus seiner Schläfrigkeit. Aldianas Geschichte hatte eine Wendung bekommen, die er nicht kannte. Aufmerksam lauschte Jason seinem Opa.

Königin Amber verkündete gerade ihren bedrückten Töchtern, dass der Retter ihres Volkes nach vollendeter Tat nicht mehr an Land zurückkehren könne:

In dem Moment, in dem er einer von euch Königskindern folgt, wird sich seine Lunge verwandeln, so dass er von nun an nur noch unter Wasser leben kann. Das weiß der Auserwählte jedoch nicht, und es wäre auch nicht klug, ihm das zu sagen. Wohl kaum einer würde sonst einer Meeresprinzessin folgen.‘

Die Mädchen blieben nach dieser Offenbarung lange stumm. Ihnen war klar, was sie bedeutete. Eine von ihnen musste Verrat an einem Menschen üben, der ihnen nichts angetan hatte, musste ihn in ihre Welt locken, aus der er niemals mehr entfliehen konnte. Dieses Wissen lastete schwer auf ihnen, doch musste es getan werden, um den Fluch von ihrem eigenen Volk zu nehmen.

Jason verschlug es die Sprache; diese Veränderung der Erzählung verwirrte ihn. Was hatte das zu bedeuten? Seit wann konnte Malcolm nach bestandenem Abenteuer nicht mehr an Land zurück? Und warum gab sich Aldiana für diesen Verrat her?

„Ist Aldiana jetzt böse geworden?“, fragte Jason unvermittelt. „Nein, eigentlich nicht“, antwortete seine Oma. „Aber das ist eine unheimlich schwierige Frage. Lass uns nach der Geschichte darüber reden.“

Sein Opa fuhr fort und Jason verfolgte aufgewühlt den Fortgang, in dem es vorläufig keine weiteren Änderungen gab. Malcolm besiegte die Drachenfische und befreite König Dorian den Zweiten. Nach beider Rückkehr in den Palast wurde ein großes Fest gefeiert.

Doch nun musste es ein neues, noch unbekanntes Ende geben. Und tatsächlich fuhr sein Großvater fort:

Ein großes Fest wurde zu Malcolms Ehren geplant, doch der wollte nur noch zurück an Land, zurück zu seiner Familie, seinen Freunden und zu Liana, seiner großen Liebe, die sich sicher schon schrecklich um ihn sorgte. Wie sollte er ihr nur sein Verschwinden erklären? Sie würde ihm nicht glauben. Er konnte doch nicht zurückkehren und ihr von einer Nixe und der Rettung ihres Reiches erzählen. Er würde sich etwas anderes einfallen lassen müssen. Malcolm suchte Aldiana, um sich von ihr zu verabschieden. Als er sie fand, verspürte er bei ihrem Anblick eine ungute Vorahnung; sie sah ihn so merkwürdig an. Irgendetwas stimmte nicht, obwohl der König und sein Reich gerettet waren. Aldiana blieb nun nichts anderes übrig, als Malcolm ihren Betrug an ihm zu beichten.

Seine Reaktion erschütterte sie, als er bleich und schreckerfüllt auf einem Felsen niedersank und dort regungslos sitzenblieb. Seine blonden, kurzen Locken bewegten sich in der sanften Strömung des Wassers, doch seine blauen Augen schienen jeden Lebensfunken verloren zu haben und sein sonst so schelmig dreinblickendes Gesicht wirkte starr wie eine Maske.

Aldiana kannte sich mit dem Verhalten der Menschen nicht aus. Nach drei Stunden beauftragte sie beunruhigt zwei Forellen, in seiner Nähe zu bleiben und für ihn zu sorgen, um ihre Eltern aufzusuchen. Er braucht Hilfe, und sie musste sie für ihn finden, das war sie ihm schuldig.

König Dorian und seine Frau Amber rührte das Schicksal dieses jungen Mannes ebenfalls, doch guter Rat war nicht in Sicht. Der König berichtete, dass es nur ein einziges Mittel zur Rettung gäbe, es aber unmöglich sei, es zu beschaffen. ‚Sag mir, was es ist, und ich werde es für ihn besorgen, Vater‘, beschwor ihn Aldiana. ‚Ich habe Malcolm aus seiner Welt gerissen; es ist meine Pflicht, ihn zu retten, koste es was es wolle.‘ ‚Das ist sehr edel von dir, meine Tochter‘, erwiderte der König, ‚doch es steht nicht in deiner Macht, ihn zu erlösen. Nur die Träne der Meeresprinzessin, die ihn in die Unterwasserwelt gelockt hat, kann seine Lunge zurückverwandeln.‘

Aldiana öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Meermenschen konnten nicht weinen; sie besaßen keine Tränen, konnten sich nicht einmal vorstellen, was das sein sollte. Es war tatsächlich hoffnungslos. Bedrückt begab sie sich zurück zu Malcolm, um für den Rest seines Lebens über ihn zu wachen und ihn zu behüten. Vielleicht würde er sich eines Tages mit seinem Schicksal abfinden und doch noch als Bewohner der Wasserwelt glücklich werden? Sie würde alles für ihn tun.

So saß Malcolm wie zur Statue erstarrt auf seinem Felsen, starrte mit leerem Blick in die Weite, aß nicht mehr und sprach nicht mehr. Die Tage vergingen, wurden zu einer Woche und einer zweiten. Nichts konnte Malcolm aus seiner Verzweiflung reißen. Dann brachten die Wellen eines Tages ein Stück Stoff zu seinem Felsen. Die Meermenschen schenkten ihm keine große Beachtung, so etwas geschah häufiger. An der groben Herstellung des Tuches konnte man erkennen, dass es menschengefertigt war. Nur Malcolms Aufmerksamkeit wurde plötzlich erregt, der den Stoff mit den Augen verfolgte. Das Tuch erinnerte ihn an Liana, seine Freundin. Wie es ihr wohl erging? Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon unter Wasser gefangen war. Ihm kam es wie Jahre vor. Gespannt beobachtete Aldiana, wie Malcolms Arme in Bewegung gerieten, als er nach dem Schal griff und ihn an sein Herz drückte. Seine Qual stand ihm ins Gesicht geschrieben. Nie zuvor hatte Aldiana etwas so Bedrückendes und gleichzeitig so Bewegendes gesehen. Plötzlich fühlten sich ihre Augen an, als wäre Sand hineingeraten. Sie brannten, schienen überzuquellen. Aldiana rieb in ihnen … und hielt zu ihrer großen Verwunderung eine wunderschöne Perle in der Hand. Seit wann drangen Perlen aus ihren Augen? Dann verstand sie: Der Anblick des trauernden Malcolm hatte sie so sehr gerührt, dass sie weinen konnte, und die Perle war die Träne einer Meerestochter. Vorsichtig schwamm sie mit Malcolm zur Wasseroberfläche und hoffte innständig, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Als sein Kopf aus dem Meer auftauchte, rang er nach Luft und vollführte hektische Bewegungen, doch dann hörte sie ihn zu ihrer Erleichterung atmen. Sie begleitete ihn an den Strand, auf den er sich erschöpft fallen ließ und beobachtete ihn noch eine Weile; sie wollte sicher sein, dass es ihm gut ging. Dann entschuldigte sie sich beschämt, sagte, wie leid ihr alles täte, und wie sehr sie sich wünschte, es hätte eine andere Möglichkeit zur Rettung ihres Reiches gegeben. Ihre Aufrichtigkeit und ihr offensichtlicher Kummer beschwichtigten Malcolm ein klein wenig. Doch wusste er nicht, ob er ihr den Verrat an ihm jemals verzeihen würde. Aldiana übergab ihm die kostbare Perle als Dank des Meervolkes und verschwand in den Fluten.

Jason wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Auge. Heulen war uncool, wenn man keine Perlen weinte. Dieses Ende seines Märchens hatte er noch nie gehört. War Aldiana nun gut oder böse? Konnte jemand beides zu gleicher Zeit sein? Doch es sah so aus, als würde er heute keine Antwort mehr auf diese Frage erhalten, die ihn gerade so sehr beschäftigte. Es war spät geworden, und Sarah schickte ihn ins Bad, damit er sich fürs Bett fertig machte.

Meermädchen

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