Читать книгу Meermädchen - Petra Vetter - Страница 7

Gefährliches Unterfangen

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In dieser Nacht schlief Jason sehr unruhig. Er war aufgewühlt, denn bisher hatte er Aldianas Geschichte immer nur in kleineren Abschnitten gehört. Die Kraft des Gesamtwerkes mit seinem neuen Ende erschütterte ihn und zeigte ihm sein Meermädchen in einem anderen Licht. Er wusste nicht mehr so genau, was er von ihr halten sollte.

…Aldiana sitzt auf ihrem Felsen. Die Sonne lässt ihr rot-blondes, hüftlanges Haar wie Kupfer glänzen. Sie scheint auf den Menschen zu warten, der ihr im Krieg gegen die grausigen Drachenfische Beistand leisten wird. Da, jetzt winkt sie jemandem am Ufer zu. Die Gestalt ist nicht zu erkennen. Sie scheint klein zu sein. Auf einmal weiß Jason, dass er dort am Strand steht. Soll er zu Aldiana schwimmen? Sie kann nicht ihn meinen; er ist doch nur ein Kind und hat nicht die Macht, ihr Reich zu verteidigen. Sie winkt erneut. Der Wind trägt ihre helle, wohlklingende Stimme übers Meer. ‚Du bist unser Retter‘, singt sie, ‚wir warten voller Hoffnung auf dich. Nur du kannst unser Volk befreien, und wir werden deine Heldentat niemals vergessen.‘

Diesem magischen Gesang kann Jason nicht widerstehen, und er stürzt sich ins Wasser, dessen Eiseskälte ihm den Atem nimmt. Damit hat er nicht gerechnet; das Meer ist sonst wesentlich wärmer. Im selben Augenblick, als er um Luft ringt, stürzen sich die Drachenfische auf ihn. Er ist in einen Hinterhalt geraten.

Aldiana schwimmt mit einem Haifischgrinsen auf ihn zu. Ihr Gebiss besteht plötzlich aus dolchartigen Zähnen, die sie, wie die Drachenfische, nach vorne klappen kann. Mit rauer, barscher Stimme weist sie ihre Verbündeten an, Jason nicht zu verletzen oder gar zu töten. Er gehöre ihr allein. Nur ihr stehe es zu, sich an ihm für seinen Verrat zu rächen. Jason wehrt sich vehement gegen den brutalen Angriff der Drachenfische…

Er strampelte wie ein Wilder und wachte auf, als er mitsamt Bettdecke, in der er sich verheddert hatte, aus dem Bett fiel. Immer noch hieb er mit den Fäusten auf seine Gegner ein, bevor er merkte, dass er in die Luft schlug. Es dauerte geraume Zeit, bis er sich aus seinem verwirrenden und beängstigenden Traum befreien konnte.

Es wurde bereits hell im Zimmer; die Morgendämmerung war schon heraufgezogen. Jason legte sich wieder hin, versuchte, noch ein wenig zu schlafen, doch es gelang ihm nicht. Kurz darauf stand er auf, denn er hatte einen Plan gefasst. Leise suchte er seine Badehose und zog sich an. Er wusste, dass er nicht trödeln durfte, denn seine Großeltern waren meist Frühaufsteher. Wenn sie ihn erwischten, war es mit seinem Vorhaben vorbei.

Er schlich sich aus dem Haus und ging zum Meer hinunter. Er war sich sicher, dass Aldiana ihn erwarten würde. Er musste mit ihr sprechen, musste herausfinden, ob sie eine hinterhältige, böse Nixe war, statt des sanften, schönen Meermädchens. Vielleicht war er, Jason, immer ihr Retter gewesen und Opa hatte sich mit Malcolm geirrt? Vielleicht würde Aldiana grausam und verbittert werden, wenn er sich mit der Hilfe noch mehr Zeit ließ, ihren Ruf nach Beistand nicht verstand? Am Strand angekommen setzte sich Jason in den Sand und hielt Ausschau. Von Aldiana keine Spur. So saß er und wartete. Wahrscheinlich waren seine Großeltern mittlerweile aufgestanden. Hoffentlich hatten sie seine Abwesenheit noch nicht entdeckt. Wenn Aldiana sich nicht bald zeigte, würde es zu spät sein.

Das Wasser glitzerte bereits in den ersten Sonnenstrahlen, als er sie endlich sah. Sie saß genau auf dem Felsen, auf dem er sie gestern erwartet hatte. Sie war so schön, wie auf Omas Bildern, umrahmt von ihren hüftlangen kupferroten Haaren und mit ihrem Fischschwanz, der tatsächlich in allen Farben des Regenbogens schillerte. Aldiana winkte ihm zu. Ihr Lächeln war so offen und freundlich, dass sie unmöglich böse sein konnte. Jason zog sich bis auf die Badehose aus und ging ins Wasser. Das Meer war kälter als gewöhnlich, doch lange nicht so eisig, wie in seinem Traum. Er war für sein Alter ein guter und ausdauernder Schwimmer, doch er schwamm und schwamm, und der Felsen wollte einfach nicht näher rücken.

Im Haus waren seine Großeltern, wie vermutet, kurz zuvor aufgestanden und hatten sich an den Frühstückstisch gesetzt. „Jason ist heute eine Schlafmütze“, sagte Liam gerade zu Sarah. „Kein Wunder“, antwortete sie, „er hatte gestern einen anstrengenden Tag.“ „Ja, man wird nur einmal fünf“, witzelte Liam. „Ich schau mal nach, ob er schon wach ist.“ Mit diesen Worten stieg er die Treppen zu Jasons Zimmer hoch und öffnete leise die Tür. Dann sein Schrei: „Sarah, der Junge ist weg!“ „Wie, weg? Was meinst du mit weg? Er kann doch nicht weg sein!“ „Aber ja, er ist weg, wenn ich es doch sage!“ „Schau im Bad nach, bestimmt ist er dort!“ „Nein, hier ist er auch nicht!“ Nun wurde auch Sarah nervös. Wo um Himmels Willen steckte Jason?

Sie suchten das ganze Haus und den Garten ab. Nichts, nirgendwo eine Spur von ihm. Liam und Sarah bekamen es mit der Angst zu tun. Sie setzten sich und überlegten. Sarahs Blick fiel auf das Aldiana-Buch.

Sollte Jason etwa …? Sie wollte den Gedanken lieber nicht zu Ende bringen. Liam war ihrem Blick gefolgt und verstand sofort, was sie dachte. Ohne ein weiteres Wort sprang er auf und lief in den Schuppen, während Sarah in Windeseile Handtücher und eine Wolldecke zusammensuchte. Inzwischen tauchte Liam mit einem Rettungsring, Schwimmflossen und einer Taucherbrille wieder auf. „Hol die Nachbarn aus dem Bett!“, rief er Sarah zu. „Sie sollen mit Sauerstofflaschen nachkommen! Beeilt euch! Folgt mir mit dem Boot, damit wir Jason schneller an Land bringen können!“ Er ignoriere Handtücher und Decke und rannte los. Sarah würde sie mitbringen.

Jason wurde langsam müde. Nie hätte er geglaubt, dass der Felsen so weit weg war. Die Entfernung sah viel kürzer aus. Aber Aldiana saß immer noch dort und lächelte ihm zu. Er würde es bis zu ihr schaffen, wollte es unbedingt.

Als Liam den Strand erreichte, entdeckte er Jason nicht. Lass ihn nicht untergegangen sein! richtete er seine verzweifelten Gedanken an alle Welt und niemanden. Lass ihn nicht untergegangen sein! wiederholte er sie wie ein Mantra. Dann endlich entdeckte er Jason. Er war schon viel zu weit aufs Meer hinausgeschwommen. Seine Bewegungen sahen kraftlos, müde aus.

Jason fiel das Atmen schwer. Er war erschöpft. Und immer noch kam der verflixte Felsen nicht näher. Eine Welle erwischte ihn, und er bekam Wasser in den Mund. Er hustete; Panik überfiel ihn. Doch dann sah er, wie Aldiana ins Wasser glitt. Sie hatte seine Not bemerkt und kam ihm zu Hilfe. Sie würde ihn nicht untergehen lassen, denn sie brauchte ihn. Jason war sich nun ganz sicher, dass er der Retter des Meerreiches war. Wenn er erst mit ihr getaucht war, würden sich seine Lungen verwandeln, und er konnte ihr nützlicher sein, als in seinem derzeitigen, etwas jämmerlichen Zustand.

Schwimmend und immer wieder nach Jason Ausschau haltend, lieferte sich Liam einen Wettkampf mit der Zeit. Er bemerkte die immer größer werdende Schwäche seines Enkels. Halt noch ein bisschen durch, beschwor er ihn in Gedanken.

Jason war am Ende seiner Kraft. Er ging das erste Mal unter, doch plötzlich bekam er einen sanften Stubs von unten. Aldiana hatte ihn erreicht und stieß ihn, jedes Mal, wenn er unter Wasser sank, an die Oberfläche zurück.

Auf einmal sah Liam Jason nicht mehr. Die Angst ließ ihm ungeahnte Kräfte wachsen. Er musste schneller schwimmen, noch schneller. Er wusste, dass Jason untergegangen war. Er würde noch das eine oder andere Mal wiederauftauchen, solange es Luft in seiner Lunge gab. Danach würde er auf den Meeresgrund sinken. Wenn sie ihn dort suchen mussten, gab es kaum noch Hoffnung. Die Strömung würde seinen kleinen Körper mit sich wegtragen, und je länger er unter Wasser blieb, umso geringer waren seine Überlebenschancen.

Dann sah er ihn. Er schlug nicht wild um sich, wie es immer in Filmen gezeigt wurde, sondern machte einen apathischen Eindruck. Liam wusste, so sehen Ertrinkende aus. Er schwamm wie ein Verrückter, haderte mit einem Gott, an den er nicht glaubte, … und hatte endlich seinen Enkel erreicht, als er gerade erneut auftauchte. Mit aller Kraft zog Liam ihn in den Rettungsring. Jason spürte einen letzten, diesmal kräftigen Stoß von Aldiana, dann fand er sich in einem Reifen wieder und wurde von starken Männerhänden gehalten.

Inzwischen waren die Geräusche eines Motorbootes zu hören. Anscheinend war Sarah auf dem Weg zu ihnen. „Halt noch ein bisschen durch“, murmelte Liam, „du hast es gleich geschafft; Rettung ist unterwegs.“

Danach ging alles sehr schnell. Sarah und die Nachbarn waren mit Tauchausrüstungen und einer Unterwasserlampe unterwegs, die sie nun glücklicherweise nicht benötigten. Sie hievten den entkräfteten Jason mit vereinter Anstrengung an Bord, hüllten ihn in Handtücher und die wärmende Decke und fuhren eilig an Land zurück. Dort warteten bereits Krankenwagen und Notarzt auf sie. Jason bekam sofort eine Sauerstoffmaske und wurde mitsamt der Decke in Folie gehüllt. Er war unterkühlt und teilnahmslos, und da er kaum Wasser aus seiner Lunge hustete, bestand der Arzt darauf, ihn mit ins Krankenhaus zu nehmen.

Erst zwei Tage später tauchte Jason aus den Erschütterungen seiner Seele wieder auf. Sein Körper hatte sich ohne bleibende Schäden weitaus schneller erholt. Als Jason die Augen öffnete, wusste er nicht, wo er war. Eine freundliche Medizinstudentin, die an seinem Bett Wache hielt, sprach ihn an. „Hallo junger Mann, da bist du ja wieder. Kannst du mich hören?“ Jason nickte. „Kannst du mir auch sagen, wie du heißt?“ „Jason Waterstone“, antwortete er krächzend. „Jason, du bist hier im Krankenhaus“, vernahm er die junge Frau erneut. „Ich habe auf dich aufgepasst, weil es dir schlecht ging. Wie fühlst du dich heute?“ „Warum bin ich im Krankenhaus?“, wollte Jason wissen. „Du erinnerst dich nicht mehr?“, kam die Gegenfrage. Jason schüttelte den Kopf. „Ich werde jetzt den Arzt holen“, entschied die junge Frau. „Er wird mit dir reden und dir alles erklären.“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum. Jason wunderte sich noch über seinen Krankenhausaufenthalt, als die Tür bereits wieder aufging und ein Arzt hereinkam. Er lächelte Jason zu, nahm sich einen Stuhl und setzte sich ans Bett. „Hallo Jason, ich bin Dr. Moore“, grüßte er. „Wie geht es dir? Meinst du, du kannst aufstehen und mich in mein Zimmer begleiten?“ Jason nickte und schwang seine Beine aus dem Bett. Dr. Moore hielt ihn am Arm und reichte ihm seinen Bademantel. Jason wunderte sich, wie sein Bademantel ins Krankenhaus gekommen war.

In seinem Zimmer bot ihm Dr. Moore einen Platz und eine Tasse mit heißem Kindertee an, ehe er sich ihm gegenüber auf seinem Drehstuhl niederließ. Er musterte Jason aufmerksam. „Erinnerst du dich, dass du ganz allein aufs Meer hinausgeschwommen bist?“, fragte er schließlich. Jason nickte. „Bin ich deshalb im Krankenhaus?“, wollte er wissen. Diesmal nickte Dr. Moore. „Aber warum? Ich wollte doch nur Aldiana retten.“ Dr. Moore zog interessiert die Augenbrauen hoch und fragte, wer Aldiana sei. Jason erzählte ihm die Geschichte, und weil Dr. Moore einen netten Eindruck machte und ihn ernst zu nehmen schien, vertraute er ihm auch seine Zweifel über Aldianas Charakter an. „Du bist also aufs Meer hinausgeschwommen, um das herauszufinden?“, hakte der Arzt nach. Jason gestand, dass er das nicht so genau wüsste. Anfangs war seine Verunsicherung der Grund gewesen, doch dann sah es plötzlich so aus, als wäre er der Retter, auf den Aldiana gewartet hatte. „Wo ist sie jetzt?“, fragte er schließlich den Arzt. „Ich weiß es nicht“, lautete die Antwort. „Niemand hat dein Meermädchen gesehen. Vielleicht zeigt es sich nur Kindern?“ „Aber dann wurde sie nicht gerettet, dann habe ich versagt“, Jason war verzweifelt. „Nun“, sage Dr. Moore sehr ruhig, „ich glaube nicht, dass du versagt hast. Du bist ein sehr tapferer, mutiger Junge, weil du für Aldianas Rettung dein eigenes Leben riskiert hast, aber trotzdem bist du noch nicht alt und stark genug, um solch schwere Aufgaben lösen zu können. Das hat nichts mit Versagen zu tun. Ich bin mir sicher, dass die Rettung des Meerreiches Malcolms Aufgabe war, so wie es dir dein Großvater erzählte. Ich denke nicht, dass Aldiana dich in Gefahr bringen wollte. Was meinst du?“

Jason war nicht sicher, was er von der Aussage des Arztes halten sollte. Möglicherweise stimmte sie; er, Jason, würde es nur zu gerne glauben. Andererseits hatte Aldiana ihm zugewunken, als sie in Gefahr war. Und konnte Dr. Moore die Situation überhaupt beurteilen, wenn er zugab, sein Meermädchen nicht zu kennen? Was sollte er glauben? Die ganze Geschichte wurde immer schwieriger. Der Einfachheit halber nickte er mit dem Kopf. Sein Arzt schien erleichtert zu sein. „Ich bin froh, dass du mir zustimmst Jason“, ließ er sich vernehmen. „Weißt du, deine Großeltern und Eltern haben sich schreckliche Sorgen gemacht und große Angst um dich gehabt. Erinnerst du dich, dass dein Großvater zu deiner Rettung aufs Meer hinausgeschwommen ist? Er konnte dich noch gerade vor dem Ertrinken bewahren. Stell dir nur vor, welche Vorwürfe deine Eltern Oma und Opa gemacht hätten, weil sie nicht gut genug auf dich aufgepasst haben.“ Jason staunte. Er verstand nicht, warum sich die Erwachsenen immer solche Sorgen machten. Aldiana war doch bei ihm gewesen und hatte dafür gesorgt, dass ihm nichts geschah. Sie war also nicht böse. Doch dann fiel ihm wieder ein, dass sie anscheinend von niemandem außer ihm gesehen werden konnte. Wie furchtbar musste es für alle anderen gewesen sein! Jason wünschte sich, er könnte ganz allein weit weg gehen, an einen Ort, an dem niemand von seiner unglaublichen Dummheit wusste. Er hatte nicht nur Aldiana im Stich gelassen, sondern auch noch die liebsten Menschen, die er kannte, zu Tode erschreckt. Er war ein riesengroßer Dummkopf, der auf ganzer Linie versagt hatte, egal, was Dr. Moore ihm einzureden versuchte.

Meermädchen

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