Читать книгу Der mondhelle Pfad - Petra Wagner - Страница 10

Die Zeit geht vorbei, ob bei Spiel oder Arbeit

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Wenn es Loranthus an diesem Tag auch nicht geglaubt hatte: Die Zeit bis zu Lugnasad verging schneller als geahnt.

Das lag wohl daran, wie gut er sich schon in Vivianes Familie fügte.

Er harkte die Gemüsefelder, ohne Blasen an den Händen zu bekommen. Seine Arme taten ihm beim Korn mahlen mit der Drehmühle nicht mehr weh und er hämmerte sogar manchmal unter dem wachsamen Blick von Arminius auf dem Amboss herum. Ein Federmesser, ein Feuereisen sowie drei Halter für eine Dachrinne hatte er schon eigenhändig gefertigt, letzteres für das neue Haus von Viviane und Silvanus. Oder vielleicht doch lieber nur für den Schuppen der beiden, weil er die Sache mit dem Feingefühl immer noch nicht richtig raus hatte. Wolle kämmen war dagegen das reinste Kinderspiel.

Mittlerweile konnte er schon eggen, säen und wusste, wann das Gemüse reif zum Ernten war. Um das Schlachten von Viehzeug hatte er sich zwar bis jetzt noch erfolgreich herum gedrückt, aber dafür hatte er das Häuten und Gerben, den Gebrauch einer Sense und das Reusen bauen genauso schnell erlernt wie spinnen und Wolle färben. Flora war richtig stolz, als er das Färber-Wau mitsamt der Wurzel ausriss und wusste, dass man damit ein kräftiges Gelb bekommt. Seine Lieblingsfarbe war allerdings Blaubeere in allen Nuancen.

Das lag daran, dass man das Abfallprodukt nach dem Saftpressen noch so schmackhaft verwerten konnte. Jedenfalls war das Großmutter Maras Überzeugung, weil er so gerne Molke oder Buttermilch mit ausgepressten Blaubeeren trank. Am liebsten zwirbelte er alles höchstpersönlich durcheinander und mit besonders viel Elan, wenn Conall und Tarian in der Nähe waren.

Eines Tages hatte er es mit diesem Getränk dermaßen übertrieben, dass er fast den ganzen Tag zwischen der Töpferscheibe, dem Brennofen und dem Abort hin und her rannte. An letzterem Ort machte er sich darüber Gedanken, warum Flora ihm getrocknete Blaubeeren in den Mund geschoben hatte, damit der Durchfall aufhörte. Sie schmeckten grässlich, aber wirkten. Und, egal ob frisch oder getrocknet, schienen sie auch seinen Geist zu beeinflussen, denn nebenbei formte er mit dem Ton einen abstrakten Tierkörper aus Stier, Hirsch und Bär, der ihm in Gesicht und Frisur erstaunlich ähnlich sah.

Bei den letzten Feinheiten entwickelte er derartiges Geschick, dass sogar Großmutter Mara ihr wiederholtes „Hab ich’s dir nicht gesagt?!“ vergaß, als er das vierte Mal vom Abort kam und ihr seine fertige Figur präsentierte.

Den Tier-Loranthus machte er als Henkel an seinem Krug fest und schob die Töpferwaren von Mara, Taberia und seine eigene Kreation zum Brennen in den Ofen. Dabei zuckte er nicht mit der Wimper und tat so, als wären die phantastischen Figuren von den beiden das Normalste von der Welt. Er hatte schon so viele seltsame Wesen aus Holz, Ton, Kupfer, Bronze, Silber, Gold oder Eisen gesehen … mittlerweile fand er weder skurrile, noch echte Tiere erschreckend.

Wagemutig kraulte er die Ochsen zwischen ihren riesigen Hörnern, selbst angriffslustig schreiende Gänse scheuchte er heldenhaft vor sich her. Nur als seine Leute Honig machen wollten, weigerte er sich hartnäckig.

Großmutter Mara duldete aber keinen Widerspruch: Wer Met haben wolle, der müsse auch Honig schleudern können, das war ihre Devise, die sie mit ihrem Finger in seine Brust einstanzte. Und als Loranthus sah, wie die Bienen freiwillig ihre Klotzbeuten verließen, schämte er sich etwas, weil er sich vor ihnen gefürchtet hatte. Wofür so ein bisschen Rauch doch gut war.

Er machte auch Fortschritte in Schwertkampf, Bogenschießen und Speerwerfen. Immerhin war er schon besser als Lavinia und Robin und blieb sogar bei Vivianes Kampflektionen stehen, manchmal. Doch in keiner Disziplin war er so gut wie im Steine schleudern. Selbst Viviane konnte da nicht mithalten.

Das galt auch für Kirschen-Ziel-Spucken. Das hatte er schon zweimal gewonnen und als er keinen würdigen Gegner mehr auftreiben konnte, kam er auf den Gedanken, den Wettstreit doch mal mit anderen Leuten zu versuchen.

So kam es, dass alle Leute der umliegenden Dörfer eines Abends, mitsamt ihren Spucknäpfen, bei ihnen am Tor standen.

Der Abstand zum Napf wurde festgelegt und jeder bekam genau ein Dutzend Kirschen.

Wer daneben traf, schied aus und die Kirschkerne häuften sich unter lautem Jubel in den Näpfen oder irgendwo in der Botanik.

Am Ende gab es ein Stechen, beziehungsweise Spucken, zwischen Loranthus und Naschu. Jeder bekam noch ein letztes Mal seine Kirschen und es dauerte nicht lange, da lieferten sie sich einen verbissenen Wettlauf zum Abort.

Loranthus war schneller und riss die Tür auf. Mit der einen Hand zerrte er seinen Hosenstrick auf, mit der anderen den Holzdeckel vom Abort.

Naschu saß schon längst auf seinem Hintern und seufzte erleichtert, als Loranthus immer noch mit seiner Hose kämpfte. Endlich hatte er sie in den Kniekehlen und plumpste so schnell auf die Fallgrube, als könne er damit seinen Rückstand aufholen.

„Beim Zeus, das war knapp“, presste er heraus und versprach sich selbst und allen Göttern, das nächste Mal lieber zwei Hände zu nehmen, statt Zeit sparen zu wollen, egal bei welcher Gelegenheit.

„Hätte ich doch bloß nicht so viel getrunken“, jammerte Naschu und krümmte sich zusammen.

Da öffnete sich die Tür ein klein wenig und die Nase von Conall erschien im Türspalt.

„Phuh! Dicke Luft!“, sagte er in ziemlich nasalem Ton und streckte seinen Kopf mit einem breiten Grinsen herein. „Aber was mich nicht tötet, macht mich noch härter!“

„Lass das Feixen und komm rein, wenn du dich traust!“, maulte Naschu zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Tür zu!“

„Ach, keine Bange“, versicherte Conall und machte die Tür sperrangelweit auf. „Die Hühner nebenan wissen alle, wie ein gluckendes Huhn aussieht − oder zwei, um genau zu sein.“ Er deutete auf Loranthus, der immer noch den Abortdeckel in der Hand hielt. „Schwachsinn, wie komm ich denn auf Huhn! Natürlich findet hier ein Kriegsrat statt! Der Rundschild steht dir gut, Loranthus, gibst einen prima Reiter ab!“

„Willst du nun reinkommen oder dummes Zeug labern“, zischte Loranthus laut und übertönte damit einige Nebengeräusche.

„Natürlich komm ich rein. Ist ja schließlich noch ein Platz frei. Wollte euch nur einen Vorsprung auf den Thron lassen. Bin ja nur der Drittplatzierte.“

Abends, als die Nachbarn weg waren, verging Conall das Grinsen, denn er bekam Bauchschmerzen. Loranthus teilte sein Leid, jammerte aber wesentlich lauter, weil er bei solchen Krämpfen eigentlich den ersten Platz verdient hätte und sich schon wieder Maras „Hab ich’s dir nicht gesagt?!“ anhören musste.

Um der eintönigen Litanei zu entgehen, schlichen sie sich schleunigst besonders mitleiderregend zur Hintertür hinaus und rannten mit heruntergelassenen Hosen zu ihrer dritten oder vierten Thronbesteigung.

Wieder zurück, empfing sie Flora mit einem Tee aus Kamille und Minze. Unter ihrem strengen Blick musste jeder seine Portion trinken, sich lang legen und nach ihrer Anweisung vom Rücken, über die Seite, zum Bauch und zur anderen Seite drehen. Derart beschäftigt mit synchronem Rollen, hatten sie ihre Bauchschmerzen vergessen. Oder waren sie gerade deshalb verschwunden?

Zum Erbsen auskneibeln war Loranthus jedenfalls wieder in Bestform und wurde einstimmig zum Erbsenkönig ernannt. Mara legte ihm einen Torques aus Erbsen um den Hals und Lavinia drückte ihm einen sauren Apfel in die Hand. Zu guter Letzt kniete Robin vor ihm nieder und überreichte einen verästelten Buchenstab, der vorher den Erbsen zum Ranken gedient hatte.

So ausstaffiert stolzierte Loranthus über den Dorfplatz und winkte seinen Erbsenzählern huldvoll zu, bis allen vor Ergriffenheit die Tränen liefen, besonders Conall, der schon wieder das Nachsehen hatte.

Die langen Tage wichen den kurzen Nächten, der Mond nahm ab und wieder zu, die Blüten der Sträucher dufteten verführerisch und bildeten Früchte aus, das Korn wiegte sich golden im strahlenden Sonnenschein und manchmal regnete es mal mehr, mal weniger kräftig, aber immer so mild, dass man sich einfach darunter stellen musste.

Nach getaner Arbeit badeten sie immer im Fluss und kamen danach meistens draußen um die Feuerstelle zum Abendbrot zusammen. Bis zum Dunkelwerden wurde erzählt, Fidchell gespielt, getanzt und musiziert.

Als Viviane, Hanibu, Lavinia und Robin das erste Mal vorspielten, was sie schon alles auf der Tin Whistle konnten, applaudierte Loranthus ganz euphorisch und verkündete: „Ich muss unbedingt auch ein Instrument lernen.“

Arminius hielt ihm gleich sein Kinnarum hin, doch das erschien ihm für den Anfang zu schwierig. Deshalb entschied er sich für die Hirtenflöte. Das musste einfacher sein, weil sie von vielen Leuten hier gespielt wurde, und außerdem: Wenn der griechische Pan das konnte, hatte er ja sozusagen einen göttlichen Helfer. Seitdem bekam er also von seinen Gastbrüdern Unterricht und entdeckte seine musische Begabung. Ja, er war auch musikalisch. Das erkannte er an wippenden Füßen und dass keiner sich die Ohren zuhielt.

Manchmal lag Loranthus aber einfach nur im Baumgarten und betrachtete die vorbeifliegenden Vögel, Bienen, Schmetterlinge … Lavinia rief ihn dann immer zum Abendbrot, doch eines Tages legte sie sich mit unter den größten Walnussbaum und deutete auf die gefiederten Blätter.

„Wenn sie sich bewegen, kann man die Finger unseres Sonnenkönigs sehen und Bruder Wind drückt die Blätter zur Seite, damit uns Vater Himmel von seiner Warte aus besser erkennt.“

„Wunderschön. Und dazu noch ein Tierstimmenkonzert.“

„Loranthus?“

„Hm?“

Loranthus starrte weiter auf die Tanzpaare aus Sonnenstrahlen und Walnussblättern.

Lavinia drehte sich zu ihm, stützte sich auf ihre Ellenbogen und sah ihm fest in die Augen.

„Wenn du viele Jahre Zeit hättest … würdest du gerne den Beinamen ‚Ildana‘ erlangen?“

„Der, der alles tut? Wie kommst du denn darauf, Lavinia?“

„Das ist doch klar wie ein Gebirgsbach. Du bist jetzt seit drei Monden bei uns. Du siehst dir alles an und machst alles nach, so lange, bis du es kannst. Und du kannst schon recht viel. Warum?“

„Warum?“

Loranthus visierte eine träge vorbeiziehende Schäfchenwolke an und schürzte die Lippen.

„Hm. Das ist eine gute Frage, Lavinia. Mein Vater sagte: ‚Mein Sohn, ich sende dich in das Reich der Hermunduren. Lerne ihr Leben kennen und kehre mit reichem Wissen zu mir zurück. Dann will ich dich aufnehmen in den Kreis der Händler, so, wie es mein Vater damals mit mir gemacht hat.“

„Dein Vater war auch schon einmal hier?“

„Nein. Sein Vater hat ihn damals nach Assur geschickt.“

„Aha. Und warum hat dich dein Vater ausgerechnet zu uns Hermunduren geschickt?“

„Das hat er mir nicht gesagt. Aber es hat Tradition in unserer Familie, den Sohn in ein fremdes Land zu schicken, bevor er in die Fußstapfen des Vaters tritt. Mein Großvater, zum Beispiel, war auf seiner ersten Reise den Euphrat entlang geschippert.“

„Warst du auch schon einmal in Assur und am Euphrat?“

„Ja, gemeinsam mit meinem Vater.“

„Dies ist also deine erste Reise ganz allein. So etwas wie eine Probe. Oder eher eine Initiation?“

„Ja, Initiation könnte man es nennen, wenn auch bei vollem Bewusstsein ohne irgendwelche Drogen.“

„Gut, du hast die Wünsche deines Vaters erfüllt. Aber warum gibst du dir solche Mühe?“

„Solche Mühe?“

„Ja. Viviane sagt, du bist wie ein Stier, der nur den Pflug auf Rädern bis zum Feld ziehen soll, aber auch noch über alle Felder rennt und die Scholle bricht.“

„Ich! Ein Stier! Ha, ha!“

Loranthus kniff prustend die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, war die Schäfchenwolke weg. Nun hätte er seinen Kopf drehen können, war aber viel zu träge. Außerdem brauchte er seine ganze Kraft zum Luft holen. Da wurde er sehr still, fast traurig. Schließlich nickte er.

„Jetzt weiß ich, was du meinst, Lavinia. Vielleicht liegt es daran, dass ihr mich so gastfreundlich aufgenommen habt?!“

Lavinia schüttelte den Kopf.

„Wir nehmen jeden gastfreundlich auf, Loranthus. Jeder Reisende, ob alt oder jung, arm oder reich, bekommt ein Obdach. So ist es Brauch. Aber du zeigst dich viel mehr erkenntlich dafür, als du müsstest.“

Nun drehte er doch bedächtig den Kopf und lächelte Lavinia an.

„Jetzt will ich dir mal was verraten, meine kleine freundliche Gastgeberin. Früher lag ich auf meiner bequemen Ruheliege, studierte die Bücher und dachte, Kreta sei der göttlichste Ort auf der Welt. Schließlich ist es die Wiege des Zeus. Ha! Kein Wunder, dass mich Viviane mit einem Stier vergleicht! Na, jedenfalls war ich überzeugt, ihr könntet nicht schreiben, nur eure Druiden wären einer gebildeten Sprache mächtig, ihr könntet einen Stuhl nicht von einem Tisch unterscheiden und würdet den ganzen Tag in zerfetzten Fellen herumlaufen. Alle paar Tage opfert ihr einen Stier, vielleicht noch ein paar Menschen hinterher und hüpft danach wie die Wilden blutverschmiert ums Feuer.“

Lavinia kontrollierte ihre Seitenlage, faltete die Hände übereinander und legte ihr Kinn darauf. Ihre Mundwinkel zuckten.

„Und? Enttäuscht?“

Loranthus stutzte. Sie prusteten gleichzeitig los.

„Was hat sich bei dir am meisten verändert?“, wollte Lavinia wissen, als sie ihre Atmung wieder halbwegs unter Kontrolle hatte.

Loranthus wischte sich schnaufend die Augen.

„Hach, beim Zeus! Meine Einstellung natürlich, Lavinia! Euer Ehrgefühl, eure Kunstfertigkeit, euer Wissen über Kräuter, Metalle, Holz … das alles verdient meine Hochachtung. Euer astronomisches Wissen ist gigantisch. Das ist mir klar geworden, als ich vor ein paar Tagen bei Afal auf dem Geißkopf war und er mir das Observatorium erklärt hat.“

„Hast du alles verstanden, was er dir erzählt hat?“

„Zum Kalendarium? Ja, logisch! Das war einfach! Schließlich bin ich schon oft mit meinem Vater auf See gewesen! Mit Sternen kenne ich mich gut aus!“

„Aha! Ich habe mich schon immer gefragt, wie ein Seefahrer seinen Weg findet, wenn nur Wasser um ihn herum ist. Woher weiß man, wo man gerade ist und woran erkennt man, wo es hingehen soll?“

„Ganz einfach!“, rief Loranthus und sprang auf, als wäre er von imaginären Ameisen umzingelt. Ein paar hatten es scheinbar bis auf seine Arme geschafft, er fuchtelte wild in der Gegend herum. „Man misst den Winkel zwischen Zenit, Schiff und Stern mit dem Himmelskompass. Zum Schätzen geht es aber auch mit den Armen. Guck!“

Er streckte beide Hände genau über sich und erstarrte in dieser Position.

„Das ist der Zenit und dort …“ Er bewegte eine Hand langsam von der anderen weg, bis er genau auf die Sonne zeigte. “ … dort ist die Sonne. Bei der Sonne ist es etwas schwieriger, weil man ihre Deklination und Kulmination mit einrechnen muss. Ich kann das auswendig, aber es gibt dafür auch Tabellen, die man zu Rate ziehen kann. Nachts ist es einfacher. Da gibt es Fixsterne. Das heißt: Sie haben immer den selben Standpunkt. Jeder Seefahrer kennt die Sternbilder, in denen sich die Fixsterne befinden. Er muss nur das erste Lineal oder den Arm, wenn er kein Lineal hat, zum Nordstern ausrichten. Das zweite Lineal, nach Berechnung der Korrekturen siehe Listen, die ein Seefahrer auswendig kennen sollte …“

„Schon gut!“

Lavinia sprang auf, streckte ihre Hände hoch, zur Seite, wieder zurück und hopste auf der Stelle, während sie rief: „Ich verstehe nur Sonne und Fixsterne! Mehr nicht! Du brauchst dich also nicht so ins Zeug legen!“

Loranthus sackte mit hängenden Schultern wieder zurück ins Gras und kippte in die Horizontale. Lavinia plumpste daneben, ging wieder in den spitzen Armbeugewinkel und tätschelte ihm mitfühlend den schwarzen Lockenkopf.

„Nicht traurig sein, Loranthus! Ich bewundere dich ehrlich, weil du dir diese komplizierten Berechnungen alle merken kannst.“

„Ach, das ist ganz einfach! Dafür gibt es Geschichten!“, erklärte Loranthus und winkte lax ab.

Geschichten?“ Lavinias Augen wurden ganz groß. Sie zog ein Schnutchen und tippte sich gegen die Unterlippe. „Weißt du, Loranthus, mir fällt gerade ein … Robin möchte doch so gerne in die Welt ziehen. Könntest du ihm vielleicht die Sterne beibringen? Dann würde er immer seinen Weg finden. Und wenn du einmal dabei bist … Kann ich auch mitmachen?“

Loranthus war so verblüfft, dass er in einem Ruck zu ihr herum schnappte und eine Weile brauchte, um mit dem Blinzeln aufzuhören.

„Natürlich!“, jauchzte er schließlich und strahlte übers ganze Gesicht. „Das wäre mir ein großes Vergnügen, Lavinia! Ach, was sag ich, eine Ehre! Endlich mal etwas, was ich jemanden beibringen kann! Heute Abend geht’s los!“

„Perfekt! Prima! Robin wird sich freuen! Also, wie steht es: Willst du nun ein Ildana werden?“

„Du meinst, so wie Lew, euer Barde? Der kann ja auch nicht mehr wie alles.“

„Lew? Der natürlich auch, aber ich dachte eigentlich an unseren Gott Lugh.“

„Euer Gott Lugh? Wegen dem ihr Lugnasad feiert?“

„Ganz genau“, gluckste Lavinia und lächelte süffisant. „Kennst du schon die Geschichte von Lugh?“

Loranthus überlegte.

„Nicht, dass ich wüsste.“

Lavinia rieb sich die Hände und rutschte näher heran.

„Soll ich sie dir mal erzählen?“

„Ich bestehe darauf.“

Wie auf Kommando legten sie sich Seite an Seite und verschränkten synchron die Hände im Nacken.

„Also, das war so“, begann Lavinia und versicherte sich mit einem Seitenblick, dass ihr Zuhörer noch nicht eingeschlafen war.

„Lugh ist ja auf ganz sonderbare Weise gezeugt worden. Seinem Großvater ist nämlich geweissagt worden, dass er durch seinen Enkel zu Tode kommt. Das wollte er natürlich verhindern und deshalb sperrte er seine Tochter schleunigst in einem Turm ein. Dem Druiden Cian gelang es aber dennoch, in diesen Turm einzudringen und ein paar Monde später wurde Lugh geboren. An dieser Stelle gehen die Geschichten auseinander. Eine berichtet davon, dass sein Großvater das hilflose Baby ins Meer schleudert. Ich glaube aber eher der Version, wo sie das Baby aus dem Turm herausschmuggeln und zu einer Amme bringen. Rein logisch gesehen, hatten Lughs Eltern genug Zeit, sich einen Plan zu überlegen; wer in den Turm hineinkam, der musste schließlich auch wieder heraus kommen.

So oder so kommt Lugh Jahre später nach Tara und will in die Königsburg eintreten. Der Wächter will ihn aber nur dann hereinlassen, wenn er eine besondere Fähigkeit vorweisen kann. Lugh ruft also nach oben: ‚Ich bin ein guter Bauer!‘ Doch der Wächter winkt ab, so einen Mann hätten sie schon auf der Burg. Da ruft Lugh hinauf: ‚Ich bin auch ein kunstfertiger Schmied!‘ Aber der Wächter winkt wieder ab und sagt, den hätten sie auch schon. Nun geht es immer hin und her: Lugh ruft hinauf, er sei ein guter Kämpfer mit einer einzigartigen Schwerthand, er könne lieblich Harfe spielen, er sei ein Poet, ein Historiker, ein Astronom, ein Magier, ein kunstfertiger Schuster und beherrsche noch viele andere Handwerke … Doch der Wächter winkt jedes Mal ab und ruft nach unten, so einen hätten sie schon. Da fragt Lugh, ob sie denn auch einen hätten, der all diese Fähigkeiten auf sich vereint. Da muss der Wächter passen und lässt ihn endlich eintreten.“

Lavinia schaute noch einmal nach, ob ihr Zuhörer die Augen offen hatte und sagte feierlich: „So wird Lugh, dank seiner besonderen Fähigkeiten, der neue König von Tara und wir feiern ihm zu Ehren Lugnasad. Lugh hat diese Feier extra für seine Ziehmutter festgelegt, weil er ihr so viel zu verdanken hat.“

„Das war aber eine schöne Geschichte“, seufzte Loranthus. „Noch ein Viertel Mond, dann beginnt Lugnasad.“

„Fährst du danach wieder nach Hause?“, fragte Lavinia und wischte sich verstohlen über die Augen.

Loranthus holte tief Luft, doch sie ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.

„Gästen gibt man immer ein Abschiedsgeschenk. Eines, was einem selbst viel bedeutet. Daran erkennt man die tiefe Freundschaft und Verbundenheit. Auch ich möchte dir ein Geschenk machen, Loranthus. Hier, guck mal!“ Sie griff hinter sich und zog etwas aus ihrem Gürtel. „Meine Puppe! Viviane und Hanibu haben sie mir genäht. Siehst du die grünen Augen? Das sind die beiden Perlen, die wir zur Sonnenwendfeier noch gerettet haben! Innen drin ist sie mit Duftkräutern gefüllt! Riecht absolut prima!“

Loranthus setzte sich ganz langsam auf und nahm die Puppe in die Hand. Nachdenklich strich er über die Zöpfe aus nussbrauner Wolle und sah Lavinia in die Augen.

„Sie sieht aus wie du“, murmelte er leise und schüttelte entschieden den Kopf. „Lavinia, ich bitte dich! Dieses Geschenk kann ich unmöglich annehmen.“

Lavinia lächelte hoch erfreut.

„Soll mir recht sein! Gleich morgen früh gehe ich mit Viviane und Robin zu Ninive. Sie bekommt bald ihr Baby und Viviane hat uns versprochen, dass wir mal das Hörrohr an ihren Bauch halten dürfen. Dann lauf ich gleich zu Sünna.“

„So, so. Um was willst du unsere Quellgöttin bitten?“

Lavinia lächelte verschwörerisch und stand auf. Er hatte ‚unsere‘ Quellgöttin gesagt. Damit kam sie der Erfüllung ihrer Bitte schon ein Stückchen näher.

„Das darf man doch nicht verraten, Loranthus. Sonst ist Sünna beleidigt und stellt sich quer. Aber dafür lüften heute Medan und Hanibu endlich ihr Geheimnis. Immerzu stecken die beiden ihre Köpfe zusammen, und wer weiß was noch! Hanibu hat bei der Quellgöttin auf Medan gewartet und sie haben sich zusammen bei ihr bedankt, weil sie ihnen geholfen hat. Jetzt sind sie endlich da und nach dem Abendbrot kann es losgehen. Also, aufgehört mit der Träumerei!“

Lavinia sprang auf und wollte Loranthus hinter sich herziehen, aber er war schon auf den Füßen, schnappte sie und schwang sie auf seinen Rücken. Lavinia quietschte hocherfreut und rief: „Hüa, Loranthus, mein stolzes Ross! Der Braten ruft!“

„Hm, Ziegenbraten! Den Bock habe ich selbst abgezogen, Lavinia!“

„Ja, ich weiß, dass du beim Schlachten auf dem Abort gesessen hast!“

„Die Blätter zum Abwischen waren alle und keiner hat mich rufen hören!“

„So ein Zufall! Nun aber schnell! Schwing die Hufe, mein edles Ross! Sonst isst uns der König noch alles weg!“

Loranthus erstarrte mitten im Schritt.

„Was will denn der König bei uns?“

„Amaturix hat ihm von dem Geheimnis erzählt, weil er Medan doch dabei geholfen hat. Königin Elsbeth und Elektra sind natürlich genauso neugierig.“

Ha!“, japste Loranthus, knickte kurz ein und rannte los.

So schnell war Lavinia noch nie geritten, außer auf Dina.

Der Bratenduft füllte das ganze Langhaus aus, doch alle standen auf dem Vorbau und warteten auf Arminius, der am äußeren Tor die Königsfamilie empfing.

Loranthus bekam Bauchkrämpfe vor Aufregung und rannte zum Abort. Zum Glück war der gleich hinter dem Haus. Schnell wie der Wind war er wieder da, am Brunnen Hände waschen, zurück auf den Vorbau springen, da kam auch schon der Besuch durchs Torhaus geschlendert.

Ein Abendessen mit der Königsfamilie hatte er sich viel gezwungener und langweiliger vorgestellt, mit Gerede und überschwänglicher Gastfreundschaft. König Gort bedankte sich aber nur sehr höflich bei Arminius und Flora für die Einladung, alle umarmten sich auf dem Vorbau, Loranthus erwischte Elektra sogar zwei Mal, und schon ließen sie sich den Braten schmecken.

Einhellig lobte der Besuch das saftige Fleisch und die wohlschmeckenden Kräuter, das zarte Gemüse und das frische Brot. Wahedon war auch mitgekommen und Loranthus stellte fest, dass er im Gegensatz zu manch anderem Krieger perfekte Essmanieren hatte. Es sah sogar gediegen aus, als er wie die anderen mit einem langen Holzstab das Mark aus den Knochen pulte und so lange schlürfte, bis nichts mehr raus kam.

Nach dem Essen verteilten Lavinia und Robin die Tonbecher, nun wurde erzählt.

Den König interessierte alles: Gesundheit, Viehzeug, Felder … die bevorstehende Getreideernte. Er stakste sogar mit Vivianes Stelzen durch den Raum und wettete mit Amaturix, wer wohl länger darauf balancieren konnte. Natürlich traten auch Königin Elsbeth und Elektra in Wettstreit. Danach saßen sie japsend vor Lachen auf den Bänken und tranken noch einen Becher Tee.

Loranthus hob seinen Becher in die Höhe und rief laut: „Hast du Ackerschachtelhalm im Tee, sind alle Runzeln schnell passé!“

Elektra wäre vor Lachen fast von der Bank gerutscht, wenn sie der König nicht festgehalten hätte, und Flora musste noch eine neue Kanne Tee kochen, weil plötzlich jeder mächtigen Durst hatte.

Um die Wartezeit zu überbrücken, ging Lavinias Stoffpuppe von Hand zu Hand und Königin Elsbeth lobte das rote Kleidchen aus dem Garn, welches sie Hanibu geschenkt hatte. Danach musizierten Viviane, Lavinia und Robin auf der Tin Whistle.

Dass Hanibu und Medan verschwunden waren, bemerkte Loranthus erst, als die beiden zusammen die Treppe herunterkamen und Viviane ihr Lied besonders schwungvoll beendete. Alle rutschten sich erwartungsvoll auf ihren Plätzen zurecht und vergaßen sogar ihren frischen Tee.

Mit offenen Mündern verfolgen sie, wie Medan mit zwei Leintüchern wedelte und diese in einen kleinen schwarzen Holzkasten schob, den Hanibu ihm hinhielt. Der Holzkasten hatte wohlgemerkt keinen Deckel und auch keinen Boden, er war nach vorne und hinten offen, aber die Leintücher waren trotzdem verschwunden.

Lavinia sollte nachsehen und suchte erst einmal den Fußboden um Hanibu ab, dann inspizierte sie misstrauisch die Innenwände vom Kasten und hielt plötzlich ganz verblüfft ein kleines Küken in der Hand. Erst als Robin darin herumwühlte, kamen die Tücher wieder zum Vorschein.

Nachdem das Johlen sämtlicher Zuschauer verklungen war, klapperten Bronzemünzen in hastig leer getrunkenen Tonbechern und verschwanden spurlos. Nicht einmal der König konnte sie herausschütteln, wohl aber Elektras Ohren.

Als nächstes durfte Königin Elsbeth einen sehr langen Strick in zwei Hälften zerschneiden. Hanibu band sich die entstandenen kürzeren Stricke um den Hals und Amaturix sollte mit Wahedon an den Enden kräftig ziehen. Argwöhnisch beäugten beide die Schlinge um Hanibus Hals und weigerten sich, bis Hanibu schwor, dass ihr nichts geschehen würde. Um es ihnen leichter zu machen, legte Medan die Leintücher über ihren Nacken. Also zogen sie … es knackte verdächtig … und sie hielten einen einzigen langen Strick in den Händen. Elektra schrie erschrocken auf, machte daraus jedoch schnell ein Jauchzen und Wahedon begutachtete Hanibus Hals mindestens drei Mal.

Medan schmunzelte wegen seiner Besorgnis, stellte sich neben Hanibu und reichte ihr eine bauchige Kanne aus Zinn, die eine schöne Gravur aus Spiralmustern aufwies.

„Jetzt kommen wir zum Höhepunkt des Abends! Hanibu wird nun Met in Wasser verwandeln! Wer will seinen Met hergeben?“

Medan sah sich erwartungsvoll um, alle hielten ihre Becher fest und der König rief: „Wird das so wie mit den Münzen? Kommt danach bei Elektra Wasser aus den Ohren heraus?“

Amaturix klatschte ihm die Hand auf die Schulter.

„Lass dich überraschen, Bruder! Wenn ich die Kanne nicht selbst mit Medan gegossen hätte, würde ich es auch nicht glauben.“

Hanibu schaute Amaturix, Medan und alle anderen dankbar an, ihre Augen wurden glasig.

„Hanibu! Geht’s auch mit Tee?“, rief Robin schnell.

„Natürlich“, krächzte Hanibu und räusperte sich. „Du musst ihn selber in die Kanne schütten. Ich halte sie fest.“

Stolz postierte sich Robin vor Hanibu und ließ seinen Tee in die Kanne fließen. Nun sollte er seinen Becher festhalten und Hanibu schüttete ihn wieder voll. Robin sah fasziniert zu, trank einen Schluck und rief erstaunt: „Es ist wirklich Wasser!“

Medan sah triumphierend in die Runde und bedeutete Robin, bei ihm zu bleiben.

„Wer möchte aus seinem Met jetzt Tee machen?“

Viviane flüsterte Silvanus etwas ins Ohr. Er flüsterte zurück. Sie schienen zu handeln. Ein wenig zögerlich ging Silvanus zu Hanibu und schüttete seinen Met so langsam in die Karaffe, als würde er jeden Tropfen nachzählen. Heraus kam … Tee. Silvanus nahm es mit dem Nachmessen nicht so genau, zwinkerte Viviane zu und zeigte ihr grinsend den Becher.

Medan hielt Robins Becher mit Wasser in die Höhe.

„Und jetzt: Wasser in Met!“

König Gort trank schnell seinen Becher leer.

„Beim Geweih von Cernunnos! Den muss ich probieren!“

Medan wollte das Wasser in die Kanne schütten, doch der König nahm ihm mit einem listigen Grinsen den Becher ab, probierte sicherheitshalber noch einmal und füllte den Inhalt selbst um. Triumphierend hielt er seinen Becher hin und beobachtete Hanibu ganz genau, als sie ihm eingoss. Er schnupperte argwöhnisch, prostete allen zu und trank genüsslich. Mit einem anerkennenden Lächeln für Hanibu schlenderte er wieder zu seiner Sitzbank und lehnte sich zufrieden zurück.

„Was gibt es besseres als schmackhaften Met! Wenn ich auch nicht gesehen habe, wie ihr das Kunststück fertig gebracht habt.“

Hanibu und Tarian verneigten sich.

„Wir haben noch eine letzte Vorführung, einen Entfesselungstrick. Dafür brauchen wir zwei Freiwillige mit viel Humor, die sich fesseln lassen.“

Alle sahen sich an und überlegten mit deutlichem Vorbehalt im Blick. Tarian klopfte Conall auf die Schulter.

„Komm, Bruder! Jetzt sind wir dran!“

Hanibu nahm einen langen Strick und band ein Ende um Tarians rechtes, das andere um sein linkes Handgelenk.

„Soll ich damit Seil springen?“, fragte er ernsthaft und kontrollierte, ob die Länge reichen würde.

Hanibu schüttelte den Kopf, zog seine Hände auseinander und führte einen anderen Strick hinter dem seinen durch. Diesen band sie an Conalls Handgelenken fest.“

Medan trat nun hinzu und zeigte weit ausholend auf den Verlauf der Seile.

„Wie ihr seht, seid ihr jeder für sich an seinem eigenen Seil gefesselt und nur durch die Seilführung miteinander verbunden. Ihr stellt praktisch die Zahl acht dar. Nun sollt ihr euch voneinander befreien, dürft euch aber nicht losbinden oder gar die Seile durchschneiden. Wenn ihr es nicht schafft, hilft euch Hanibu.“

Mit diesen Worten hatte er natürlich den Ehrgeiz seiner Brüder geweckt. Sie betrachteten ihre Hände und den Verlauf der Seile, schon hatte Conall die Lösung gefunden.

„Nichts leichter als das! Tarian, geh mal mit deinen Händen ein Stück runter! Ich muss über dein Seil steigen!“

Tarian bückte sich und ließ sein Seil extra durchhängen, Conall machte einen großen Schritt, drehte sich und hob die Seile über seinen Kopf. Triumphierend schaute er nach oben und Tarian lachte. Nichts war passiert.

„Lach nicht! Lass dir lieber auch was einfallen! Ich mach mich hier doch nicht alleine zum Deppen! Los, Bein hoch! Ich muss mich da durchschieben!“

Und so begann ihr Seiltanz. Sie drehten sich, kletterten übereinander, schoben sich untereinander, machten die Arme und Beine lang und quetschten sich durch … Ihre Zuschauer johlten und gaben gut gemeinte, aber unnütze Ratschläge. Es dauerte eine Weile, bis sie sich so umgarnt hatten, dass sie sich nicht mehr bewegen konnten.

„Hanibu!“, schnaufte Conall, der Tarian fast huckepack trug. „Jetzt brauchen wir deine Hilfe!“

Hanibu war sofort zur Stelle und begutachte mit fachmännischem Blick das Desaster.

„Wir müssen euch erst einmal aus diesem Knäuel befreien! Erst danach kann ich euch zeigen, wie ihr es machen müsst.“

„Ja, Hanibu! Dafür wäre ich dir sehr dankbar.“

Hanibu fasste nach seinen Handgelenken.

„Schneidet der Strick zu sehr ein, Conall?“

„Nein, du hast ihn gut gebunden. Es tut nicht weh.“

„Gut. Also, dann musst du erst einmal mit deinem linken Arm unter dem rechten Bein von Tarian durch.“

„Wenn’s weiter nichts ist …!“

Alle Zuschauer grölten, bis ihnen die Tränen liefen und schlugen sich begeistert auf die Schenkel. Immer wieder zeigten sie japsend auf Hanibu, die Conall und Tarian hin und her dirigierte. Die beiden Gefesselten lachten mit, denn sie bezogen den Übermut ihrer Zuschauer auf die Verrenkungen, die sie machen mussten, um sich aus dem Gewirr zu befreien.

Was sie nicht bemerkten war, dass ihnen Hanibu nebenbei die Gürteltaschen leerte.

Nagelschneider, Pinzetten, Kämme, Zahnwolle, Zunderschwämme, Feuersteine, Feuereisen, Lederriemen, Schnupftücher, Hörner, Messer, sogar Armbänder nahm sie ihnen ab, ohne dass sie es merkten. Ihre Beutestücke reichte sie sofort an Medan weiter, der immer in ihrer Nähe stand, um im Notfall eingreifen zu können, wie er es ausgedrückt hatte. Nun, ja. Er hatte nicht einmal gelogen.

Strahlend hielt er alle entwendeten Dinge noch einmal hoch, damit sie auch wirklich jeder Zuschauer gut sehen konnte und verstaute sie in einem Korb neben dem Ofen. Dabei legte er sich immer wieder feixend den Finger auf den Mund, damit niemand etwas verraten sollte.

Natürlich wurde sein Rat befolgt. Als Medan sich zwei kleine Bronzemünzen unter die Augenbrauen klemmte und Tarians Zopfband als Schnurrbart benutzte, trommelte König Gort johlend mit seinen Fäusten auf dem Tisch herum und Wahedon wälzte sich nach Luft japsend auf den Eichenbohlen.

„Conall, es hat keinen Zweck! Ich weiß mir keinen Rat mehr“, gestand Hanibu und zog Conalls Kopf unter Tarians linken Arm durch, was beide stark ins Wanken brachte, weil Conalls restlicher Körper unter Tarians rechtem Bein fest klemmte.„Ich übernehme deine Fesseln und zeige euch, wie es einfacher geht.“

„Ha! Da bin ich aber mal gespannt! Von wegen einfach …!“

Hanibu löste den ersten Knoten an Conalls Hand und er band das Seil um ihr Gelenk. Dann kam der zweite Knoten, wobei Conall sorgsam darauf achtete, dass Hanibu nicht schummeln konnte. Sicherheitshalber überprüfte er noch einmal den Seilverlauf und war zufrieden. Nun stand also Hanibu an seiner Stelle und Tarian sah sie erwartungsvoll an.

Hanibu überlegte kurz und hob ein Bein, das sie unter seinem ausgestreckten Arm durchschieben wollte. In diesem Moment schien ihr aber eine bessere Lösung einzufallen und sie klatschte erfreut in die Hände.

„Schaut alle her! Einfach in die Hände klatschen, schon seid ihr frei!“

Hanibu trat zwei Schritte zurück und präsentierte ihr Seil. Tarian betrachtete sein eigenes höchst misstrauisch. Kein Zweifel, sie waren getrennt.

Conall kam sofort zu ihnen und überprüfte die Knoten an ihren Handgelenken. Triumphierend hielt er Hanibus Hand hoch und rief: „Hoch lebe Hanibu, die Entfesselungskünstlerin!“

„Hoch lebe Hanibu!“, jubelten alle und hoben ihre Becher.

Auch Conall und Tarian griffen gewohnheitsmäßig nach ihren Hörnern. Irritiert betasteten sie die leeren Schlaufen und sahen schockiert an sich herunter.

„Mein Horn!“

„Meines ist auch weg und mein Messer!“

„Was?! Meines auch! He! Wo ist mein Lederarmband?“

„Keine Ahnung“, murmelte Tarian und fasste sich nachdenklich ins Genick. Da stellte er reichlich spät fest, dass sein Zopf aufgegangen war. Verwundert schüttelte er seine lange braune Mähne.

„Das gibt’s doch nicht! Ich habe mein Zopfband verloren! Na, zum Glück habe immer einen Ersatz!“ Schwungvoll öffnete er eine seiner Gürteltaschen, stutzte und öffnete die nächste.

„Meine Taschen sind leer! Alle!“

„Was?! Die Taschen?“ Conall zerrte die Lasche über seinen Hirschhornknopf und lugte lange in seine leere Tasche, hastig in die nächste und übernächste. „Beim Geweih von Cernunnos! Meine auch!“

„Alles ist weg. Wir haben nichts gemerkt, weil wir so mit den Seilen beschäftigt waren“, kombinierte Tarian und wollte eine besonders lustige Verrenkungen nachstellen. In dem Moment rutschte ihm die Hose runter. Da sah er in die grinsenden Gesichter ihm gegenüber, knuffte Conall und beide prusteten los. Tarian bekam vor Lachen kaum eine Schleife in seinen Hosenstrick.

Medan präsentierte den beiden seinen Korb und erklärte, wie ihre Sachen dorthin gekommen waren. Tarian sortierte sofort sein Eigentum aus und tat alles wieder dahin, wo es hingehörte, Conall musste sich erst mal setzen.

„Jetzt wird mir alles klar wie ein Gebirgsbach!“, gluckste er.

König Gort trat nach vorne, klopfte beiden lachend die Schultern und schenkte ihnen eigenhändig Met ein.

„Auf Hanibu und Medan! Noch nie habe ich einen solchen Spaß gehabt!“

Am nächsten Morgen begann die Getreideernte und Medan brauchte nicht zu Amaturix, was ihn sehr ärgerte. Loranthus bekam seine schlechte Laune nicht mit, er saß mit abwesenden Blick beim Frühstück.

Viviane schnippelte ihm Zwiebeln in seinen süßen Hirsebrei, er kratzte seine Schale leer. Lavinia streute ihm Petersilie in seine Milch, er schmatzte genüsslich. Medan erklärte ihm zweimal, dass er heute Holzschuhe brauchte, weil die Halme sonst die Füße zerschnitten, er ging barfuß weiter und holte mit Conall, Silvanus und Tarian die Ochsen von der Weide. Ochsenmäßig trottete er hinter Arminius in die Scheune und sah verträumt zu, wie dieser ein Öl getränktes Leintuch von etwas Großem herunterzog.

Da wachte er endlich auf und zwinkerte ungläubig.

„Was ist denn das für ein riesiges Ding?“

Arminius schleuderte die Plane schwungvoll hoch und legte sie mit geübten Griffen zusammen.

„Unser Mähwerk natürlich!“

„Euer Mähwerk? Ich dachte …“

Er zeigte auf ein viel kleines Mähwerk gleich neben dem Tor. „Flora mäht doch mit dem Mähwerk dort immer das Gras im Dorf. Ich dachte, das ist euer Mähwerk?“

Silvanus lachte schallend.

„Das kleine Ding? Nun, ja, für das Gras im Dorf ist es ganz zweckdienlich, aber ein richtiges Mähwerk ist wesentlich größer und die Schneiden sind auch viel weiter oben. Damit schneidet man nämlich nur die Ähren am Getreide ab und nichts anderes.“

„Aber ihr habt doch auch zu dem kleinen dort …“ Loranthus zeigte anklagend zum Tor. „ … Mähwerk gesagt! Was stimmt denn nun!?“

Silvanus winkte beschwichtigend ab.

„Kannst du dich noch an die Geschichte mit den Brennnesseln erinnern, Loranthus?“

„Klar. Du hast dir als Kind ein Mähwerk äh … ausgeborgt, damit bist du einen Hang runtergefahren, unten in die Brennnesseln reingeprescht und an einem Stein hängengeblieben. Bei dem vielen Schwung hast du leider das Mähwerk zerschmettert.“

„Genau. Heimlich zurückstellen ging zu meinem Leidwesen nicht mehr. Die Eisenschneiden waren aber noch einigermaßen zu gebrauchen und auch etwas Holz war heil geblieben. Daraus bauten Großvater und ich ein viel kleineres Mähwerk mit tiefsitzenden Schneidebalken. Damit musste ich zur Strafe immer das Gras im Dorf mähen. Großvater meinte, ich würde mich gut als Ochse machen, und ich hab natürlich immer ordentlich dazu geschnaubt.“

Silvanus sah verträumt vor sich hin.

„Ach, unser Großvater Anu … Ich habe ihm nie verraten, wie viel Spaß ich als Ochse hatte. Sogar Großmutter Dana wollte sich das kleine Mähwerk mal ausborgen, weil sie angeblich nicht so gerne mit der Sense Gras mähte. Sie kam extra mit einem Ochsenkarren zu Besuch und hat es mit in ihr Königreich genommen. Ein Jahr später hatte Großvater drei neue Aufträge für ein kleines Mähwerk, weil auf den Höhenzügen von Raino plötzlich etliche Leute nicht mehr mit einer Sense umgehen konnten.“

Loranthus kicherte und tat so, als wolle er mit einer Sense mähen, was er wirklich noch nicht so gut konnte.

„Dein Großvater hat also immer die Wagen bei euch gebaut.“

„Ganz genau. Er konnte alles bauen, was Räder hatte.“

„Und das hier …“ Loranthus klopfte auf das große Mähwerk. „ … ist also ein neues, echtes Mähwerk von deinem Großvater. Sieht es genauso aus wie das alte?“

„Ja, natürlich! Die gleiche Konstruktion und ich musste beim Bauen helfen. Vater hat übrigens die Messerschienen geschmiedet.“

Loranthus schürzte anerkennend die Lippen und schlenderte um das breite Mähwerk herum. Seine Hand glitt von den scharfen Messerzacken über das große Rad zu einem Holzkasten mit enormen Fassungsvermögen.

„Diese Konstruktion … einfach genial! Wenn ich das richtig sehe, funktioniert das Ganze folgendermaßen: Der Ochse schiebt das Mähwerk vor sich her. Dabei drehen sich die Räder, die Messerschienen laufen gegeneinander … und weil sie so weit oben sind, schneiden sie das Korn gleich unter der Ähre ab. Die Ähren fallen nach hinten in den großen Kasten und den braucht ihr nur ausleeren. Ohne großen Aufwand bekommt ihr schnell viele Säcke voll und stapelt sie auf einem anderen Wagen. Wenn ihr es richtig anstellt, seid ihr so hurtig mit der Getreideernte fertig, wie der Ochse das Mähwerk vor sich herschiebt.“

„Korrekt, Loranthus“, rief Silvanus, trabte auf der Stelle und wischte sich hechelnd über die Stirn, als würden dort Bäche von Schweiß rinnen. „Wenn der Ochse schneller gehen täte, würde ich alle Getreidefelder an einem Tag schaffen! Aber ich darf ihn ja nicht überfordern. Schließlich bin ich der beste Ochsenführer weit und breit. Einen Wettkampf im Getreideernten würde ich garantiert gewinnen, vorausgesetzt meine Helfer kommen hinter mir her.“

Loranthus nickte eifrig und bemühte sich um eine ehrfürchtige Miene. „Aber wie hast du dieses Riesending den Hang hinauf befördert, Silvanus? Du warst doch damals noch klein?!“

„Nur ein Stückchen kleiner!“, korrigierte Silvanus und hörte auf zu traben. „Aber wozu habe ich ältere Brüder!? Viviane und ich hatten gewettet, wer von uns schneller den Hang wieder unten ist. Sie, wenn sie rennt oder ich mit dem Mähwerk. Noeira war damals auch schon mit von der Partie und hätte Conall das Mähwerk am liebsten auf den Rücken gehievt, wenn wir dadurch schneller den Berg hochgekommen wären. Weil das schlecht ging, haben wir es abwechselnd mit unseren Freunden hochgezerrt.“

„Naschu und Ninive waren also auch mit dabei?“

„Sogar noch viele mehr! Beth, Harthu, Nora, Oen, Susanne, Mirja … sogar Nion und Medan sind uns hinterher geschlichen, obwohl beide damals kaum über die Tischplatte gucken konnten, Medan jedenfalls nicht.“

„Gar nicht wahr!“, kam es von draußen, aber Medan hatte wohl gerade etwas anderes zu tun, als die Angelegenheit richtig zu stellen.

„Ich kann euch förmlich vor mir sehen …“, feixte Loranthus und drückte mit aller Kraft gegen das große Mähwerk. „ … wie ihr alle zusammen den Berg hinauf keucht. Als die Griechen das hölzerne Pferd vor Trojas Tore gezerrt haben, ging es ihnen bestimmt genauso.“

Loranthus musste über seinen eigenen Vergleich lachen und entdeckte dabei ein technisches Problem.

„Aber es hat ja nur zwei Räder! Wie bist du denn damit einen Hang runter gefahren, Silvanus? Das kippt doch sofort!“

„Ach, ich habe ein paar Bretter zurecht gezimmert und eine Achse mit kleinen Rädern festgemacht. Du weißt doch, Loranthus: Die Räder, die wir unter die Eggen machen, um sie auf die Felder zu fahren. Die Konstruktion habe ich mit Stricken am Mähwerk festgebunden. Auf dem Brett konnte ich gut stehen und mit den Stricken sogar lenken.“

Loranthus musterte Silvanus nachdenklich und begann zu kichern. Er wurde immer lauter. „Kein Wunder …“ quietschte er die ersten verständlichen Wörter. „ … wenn dich dein Großvater ‚Ochse‘ genannt hat! Du warst ja wirklich der Ochse!“

Loranthus imitierte Stierhörner, muhte und alle lachten, bis auf Silvanus.

„Ja, ja! Lacht ihr nur! Bald habt ihr keine Luft mehr dafür, wenn ich den Ochsen führe und ihr hinter mir her rennen müsst! In drei Tagen könnt ihr nur noch japsen und keuchen! Und euer Gemuhe schrumpft zu einem kläglichen quaaak!“

Loranthus klatschte ihm versöhnlich die Hand auf die Schulter.

„Das kann ich mir vorstellen, oh erhabenster Führer aller Ochsenfrösche!“, säuselte er und sprang schnell hinter Arminius in Deckung. „Was macht ihr eigentlich mit den Halmen, die stehen bleiben?“

Silvanus tat so, als hätte er nichts gehört, drehte sich um und prüfte die Schärfe des Messerbalkens mit einem Strohhalm, während sich Arminius der Frage von Loranthus widmete.

„Kommt drauf an. Das Vieh kann es abweiden oder es wird mit der Sense abgeschnitten. Für Strohmatten, Körbe, Seile, Schuhe, Einstreu für die Tiere im Winter, für unsere Betten und was man sonst noch so alles gebrauchen kann. Es eignet sich auch hervorragend als Dämmstoff, wenn ein Haus gebaut wird. Das Stroh kommt zusammen mit Mist in den Lehm für die Flechtwände und auch mit Laub und Astwerk ins Fundament unter die Dielenbretter. Weil Viviane und Silvanus bald ihr Haus bauen, werden wir also diesmal alles absensen.“

„Ihr könntet auch eure Häuser damit decken. Anderswo machen sie das auch.“

Arminius schüttelte den Kopf.

„Hierzulande sind Tannenschindeln besser. Und jetzt auf, an die Arbeit! Vom Schwatzten trägt sich das Korn nicht in die Scheune! Es muss alles ordentlich gewogen sein und die Wagen müssen wir auch noch schmücken, wenn wir die Abgaben zur Burg hochfahren.“

„Schon wieder Blumen pflücken“, maulte Tarian.

Conall tätschelte ihm mitfühlend die Schulter.

„Diesmal sind es nur Kornblumen, das geht doch schnell. Und da ist noch das Gastmahl beim König!“

Tarians Augen leuchteten auf.

„Braten, Musik, Tanz … und Met bis zum Umfallen. Ich seh schon Medans Gesicht vor mir.“

Medan lugte zum Tor herein und kicherte höchst belustigt.

Tarian hatte erwartet, er würde sich über seinen Spott ärgern und zumindest auf ein störrisches Aufstampfen mit dem Fuß gehofft. Leider fehlten bei Medan jegliche Anzeichen von Wut und das ließ ihn seine jüngsten Bruder ins Visier nehmen.

„Was gibt’s denn da zu lachen?“, fragte er argwöhnisch und kniff die Augen zusammen. Medan grinste von einem Ohr zum anderen.

„Ich habe für Mutter die Schere geschliffen.“

„Die hatte es ja auch nötig nach der letzten Schafschur“, meinte Arminius. „Und ich bin sicher, dass sie nun wieder schön scharf ist, bei deinem Talent, mein Sohn.“

Medans Augen leuchteten über das Lob, aber Tarian konnte sich gar nicht für seinen kleinen Bruder freuen. Er wusste jetzt Bescheid und überprüfte seinen geflochtenen Zopf auf herausragende Haare.

„Ich wollte heute Abend mal zu … Onkel Wadi. Genau. Onkel Wadi.“

Arminius sah ihn verblüfft an.

„Heute Abend noch so weit weg? Was willst du denn bei Wadi?“

„Er hat … gerade eben eine Taube geschickt, weil … bei ihm ein Tischbein kaputt gegangen ist. Das will ich schnell reparieren.“

Arminius sah Tarian immer noch mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Ein Tischbein? Das schafft Wadi bestimmt auch alleine!“

„Nein!“, schrie Tarian und schob sich seinen Zopf unters Hemd. „Nein, das war doch eines von meinen, die ich für ihn gedrechselt habe! Da muss ja schließlich … das Muster zu den anderen Tischbeinen passen. Muster sind wichtig. Was sollen die Leute denken, wenn sie bei Wadi am Tisch sitzen und die Flechtmuster passen nicht.“

„Tarian.“ Arminius legte seinem zweitältesten Sohn schwer die Hände auf beide Schultern und setzte eine mitleidvolle Miene auf. „Nimm lieber noch ein Tischbein als Ersatz mit, sollte eins zerbrechen. Deine Mutter wollte nämlich heute Abend auch in Wadis Haus, zu Fanar. Weiberkram. Du verstehst? Die neuesten Frisuren und so.“

Er zog ganz langsam Tarians Zopf wieder aus dem Hemd und seufzte.

„Also würde ich mir das mit dem Tischbein reparieren lieber noch mal gut überlegen. Wenn du Pech hast, verbünden sich die Weiber womöglich noch. Stell dir bloß vor, Flora und Fanar fallen gemeinsam über dich her. Du weißt: Meine Schwester, deine Tante, Fanar, ist nicht gerade zimperlich. Noch schlimmer wird es für dich, wenn Rivus Weib auch da ist. Störrische Männer erledigt die mit einem Schlag.“

Tarian stöhnte auf und jammerte vor sich hin.

Arminius tätschelte mitfühlend seinem Sohn den Kopf und ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Tarian, du musst der Tatsache ins Auge sehen. Um die Schere kommst du nicht drum herum. Da fällt mir ein: Heute gibt es frisch gerupftes Hähnchen.“

Aus Tarians Jammern wurde ein Jaulen. Loranthus verstand das nicht, er fand geschmorte Hähnchen absolut schmackhaft. Also bat er Arminius um eine Erklärung und der tätschelte Tarian noch einmal den Kopf, damit er endlich Ruhe gab.

„Flora schneidet jedem die Haare, wenn es auf Lugnasad zugeht. Tarian konnte das noch nie leiden. Schon als kleines Kind hat er gebrüllt, als koste es sein Leben, wenn sie mit der Schere auf ihn zukam.“

Loranthus verzog das Gesicht.

„Bei Hera! Stell dich nicht so an, Tarian! Deine Haare sind so lang, da kommt es auf ein paar Fingerbreit nicht an!“

„Ja, genau!“, grölte Conall und deutete hinter sich. „Ich hab’s schließlich auch geschafft und nicht geheult. Und bei mir wäre das immerhin gerechtfertigt gewesen.“

Arminius klopfte seinem ältesten Sohn tröstend die Schulter.

„Noeira meinte zu Flora, es sähe ungleichmäßig aus.“

Conall wedelte erschrocken mit den Händen.

„Nein! Das bildet sie sich nur ein! Mutter muss sich mit meinen paar Fransen nicht noch extra Arbeit aufbürden! Schließlich soll sie sich schonen. Zu viel stehen …“

„Nun ist es aber gut!“, mischte sich jetzt Silvanus ein und warf viele kleine Stückchen Stroh in die Höhe. „Ich bin immer als Erster dran und ihr wisst doch ganz genau, dass Mutter für meine Haare den ganzen Abend braucht. Und außerdem war ich es, dem sie schon mal ins Ohr geschnitten hat und nicht einer von euch! Also. Seht ihr mich jammern? Nein.“

Ich jammre auch nicht, Silvanus!“, rief Loranthus und machte winkend auf sich aufmerksam.

„Das solltest du aber, Loranthus! Auch für dich kommt der Abend“, weissagte Medan und nickte wissend.

„Jeden Tag wird es Aben … Was?!“

Loranthus sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um, aber Conall lehnte ganz entspannt und ziemlich schräg am Tor. Bei seinem gehetzten Blick fand Tarian seine eigenen Leiden nur noch halb so schlimm, doch so schnell gab sich Loranthus nicht geschlagen. Hastig zerrte er eine Strähne seiner Locken in die Länge und maß sie mit seinen gespreizten Fingern.

„Drei Handspannen! Bei mir lohnt sich das doch gar nicht!“

„Nur keine falsche Bescheidenheit!“, feixte Tarian. „Ich würde schon sagen, dass sie ganz ordentlich gewachsen sind, seid du bei uns bist. Wenn du sie so in die Länge ziehst, gehen sie immerhin schon bis zu deinen Schultern!“

Loranthus ließ sofort los und die Strähne schnappte zurück. Sicherheitshalber stauchte er seine Haare an der Stelle noch extra zusammen.

„Ich wollte doch mit Flora das Glücksbrot ansetzen! Da bleibt gewiss keine Zeit mehr für solch aufwendige Unterfangen!“

„Glücksbrot? Ha! Das ich nicht lache!“, grölte Conall. „Das bisschen Mehl, Milch und Honig habt ihr beide im Handumdrehen zusammengerührt und dann muss der Teig erst mal ruhen! Also bleibt genug Zeit.“

Loranthus zupfte an seinem schwarzen Wuschelkopf.

„Aber damit muss Flora nicht ihre Zeit verschwenden!“

Arminius tätschelte ihm beruhigend die Schulter.

„Keine Panik. Flora verschwendet weder ihre Zeit, noch deine paar Ringellöckchen! Elektra hat ihr ganz genau gesagt, wie viel bei dir weg soll.“

Alle Bauern im Königreich nutzten das schöne Wetter aus und bald hallten rund um den Uhsineberga die Schergeräusche von Messerbalken und Sensen. Die Männer füllten die Körner in Säcke und warfen sie auf die Wagen, die Frauen drehten sich Stricke und bündelten das Stroh. Das warfen sie wiederum auf Wagen mit besonders hohen Seitenteilen. ‚Leiterwagen‘ sagten sie dazu.

Oben standen die jungen Maiden und pressten alle Ballen sorgfältig ineinander. Das war eine sehr wichtige Prozedur, denn das Stroh war zwar leicht, konnte aber, je höher es lag, einen Wagen zum Kippen bringen. Die Kinder pflückten Kornblumen oder hoben liegengebliebene Halme auf und machten daraus einen Wettstreit.

Am dritten Tag genossen sie ihr Mittagessen auf dem Feld hinter dem Birkenwäldchen und flochten nebenbei Kränze aus Kornblumen. Das ging recht schnell und danach war Mittagsruhe.

Alle Männer hatten die Köpfe bei ihren Frauen in den Schoß gebettet und die Augen geschlossen.

Silvanus zückte seine Hirtenflöte, Conall und Tarian spielten mit. Viviane, Lavinia, Robin und Hanibu teilten sich die Tin Whistles und fügten sich in die Melodie ein.

Loranthus schielte auch zu seiner selbst gemachten Flöte, überlegte es sich anders und ließ stattdessen lieber seinen Blick über das abgeerntete Feld schweifen. Aus den Augenwinkeln betrachtete er seine Gastfamilie.

Arminius und Flora hielten sich an den Händen. Noeira stillte die kleine Belisama, die es sich auf der Stirn ihres Vaters bequem machte. Armanu hockte bei Tarian auf dem Bauch und kaute sabbernd auf einer Brotrinde herum. Das ging auch ohne Zähne und Taberia passte auf, dass sie keine Brocken verschluckte.

Loranthus bekam glasige Augen, lehnte sich an die Eiche und blinzelte durch die vergoldeten Blätter zum Himmel. Hanibu beobachtete ihn, nahm die Tin Whistle von Robin entgegen und lächelte.

Sie wusste genau, wie er sich jetzt fühlte.

Hier hatten sie beide ein neues Leben gefunden und mussten wieder zurück in ihr altes. Loranthus würde sie mit nach Kreta nehmen und dort würde sie eine Sklavin von vielen sein. Aber Loranthus war ein guter Herr. Sie hatte keine Angst. Allerdings würde sie Viviane vermissen, ihre Familie und … Lew. Hanibu reichte die Tin Whistle an Robin zurück. Sie brachte keinen Ton mehr heraus.

Wenigstens würde sie Lew noch ein letztes Mal sehen. Viviane hatte ihr erzählt, dass zu Lugnasad alle Königreiche in einem großen Lager zusammenkamen. Die wandernden Barden zogen bei den Königen mit, denen sie gerade ihre Künste darboten. Bei diesem Fest würden sogar alle Barden in einen Wettstreit treten und Hanibu hoffte, dass Lew gewann. Er spielte auf seiner Harfe so herrlich wie ein Gott − so schön, so klug, so königlich. Man konnte ihn nur lieben.

Der mondhelle Pfad

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