Читать книгу Der mondhelle Pfad - Petra Wagner - Страница 7
Fragen sind der Anfang allen Wissens
ОглавлениеAls wäre Viviane nie weg gewesen, erhob sie sich bei Sonnenaufgang und ging mit Hanibu, Lavinia, Flora und Großmutter Mara die Kühe melken. Sie mussten zwar jetzt ein kleines Stück länger gehen, weil die Mutterkühe auf einer anderen Weide grasten, aber das war nicht weiter schlimm. Der Morgen war herrlich, die erwachende Göttin der Morgenröte winkte mit einem goldenen Tuch über die Thuringer Berge und die Vögel zwitscherten so lautstark, als hätten sie einen Wettstreit im Jubilieren auszutragen.
Den Rückweg liefen sie so beschwingt, dass sie sich sogar im Imitieren der Vogelstimmen versuchten und danach Großmutter Mara zur Zaunkönigin wählten. Immer noch trällernd, stellten sie die gefüllten Milcheimer ins Langhaus, gingen zum Fluss und wuschen sich.
Noeira und Taberia kamen ihnen nach und schmunzelten, als sie ihre Babys in den großen Weidenbaum hängten. Der hieß jetzt nämlich Kinderbaum, weil nun schon zwei Kinder in ihren Tragetaschen dort dran hingen. Lavinia hatte diesen Einfall gehabt und sie damit jeden Morgen aufgeheitert. Denn wenn eines gefehlt hatte in der Zeit, als die Männer und Viviane fort waren, dann war es die Heiterkeit.
Doch nun standen sie alle unter den Weiden und machten ausgiebige Dehnübungen. Die hatten sie auch ohne Viviane weiter gemacht, weil sie sich einbildeten, dass sie ihnen tatsächlich halfen. Großmutter Mara war sogar felsenfest davon überzeugt, dass sie sämtliche Glieder nicht nur besser bewegen konnte, sondern auch mehr Kraft hatte als früher.
Sie blinzelte durch die Augenlider, beobachtete Viviane bei ihren geschmeidigen Bewegungen und sagte: „Kind, du machst mir heute irgendwie einen angespannten Eindruck.“
Viviane atmete lange ein, noch langsamer wieder aus und ging mit geschlossenen Augen in den Spagat.
„Da gebe ich mir extra Mühe …“, seufzte sie und vollführte kreisende Bewegungen mit ihrem Oberkörper. „ … und du merkst es trotzdem, Großmutter. Wie machst du das nur?“
„Jahrelange Übung“, gluckste Mara und deutete auf Vivianes Gesicht. „Also, warum kneifst du die Augen zusammen, als müsstest du nachdenken, wie du etwas Unmögliches schaffst, weil du Silvanus diesmal nicht als deinen Komplizen hast?“
Noeira hielt in ihrer letzten Pose inne, streckte die Arme besonders weit in den Himmel, die Augen in die Gegenrichtung und grummelte: „Sag’s uns, Viviane! Ich fühle mich auch schon ganz angespannt!“
„Er soll Tinne nicht mit zur Sonnenwendfeier nehmen“, brummte Viviane, stemmte ihren gesamten Körper nur mit den Fingerspitzen ein Stück weit über den Boden und machte endlich die Augen auf.
Noeira stemmte die Hände in die Hüften und schnaubte: „Das erlaubt er niemals! So etwas hat es noch nie gegeben!“
Viviane schnappte mit einem Ruck hoch, stellte sich betont aufrecht hin und reckte entschlossen das Kinn.
„Mich hat es auch noch nie gegeben. Wenn alle Stricke reißen, muss ich ihn eben bestechen.“ Sie legte den Kopf schief und lugte nachdenklich zur einzigen Wolke am Himmel. „Ich könnte ihm natürlich auch was zu trinken anbieten …“
„Ha! Du kannst ihm auch ein Pferd schenken! Immerhin hast du mehr Beute gemacht als er!“
„Das wäre wirklich eine gute Idee, Noeira! Aber wenn wir unser eigenes Land bekommen, müssen wir sowieso Abgaben darauf zahlen.“
„Ach. Und die leistest du in Pferden?“
„Ja, jedes Jahr zwei Fohlen seiner Wahl.“
„So viel geschenktes Land und zwei Fohlen als Gegenleistung? Das soll alles sein?!“
„Natürlich nicht. Er und unser Hochkönig dürfen Arion zur Zucht nehmen.“
„Oh, oh. Ich ahne Schreckliches …“
„Wieso?“, fragte Viviane verständnislos. „Das ist doch wirklich der günstigste Handel, den es gibt!? Wir müssen nur den Anteil von Silvanus abtreten.“
Noeira winkte ab.
„Ist doch klar. Immerhin bist du eine Druidin, da brauchst du dich nicht mit solch profanen Sachen wie Abgaben belasten. Silvanus muss zwar Abgaben leisten, aber ich wette mit dir, dass er ab und zu ein gutes Hirschhündchen extra übrig hat und noch ein paar Glasarmbänder oder Glasperlen, oder mal einen neuen Streitwagen, oder andere Wagen, oder ein neues Mähwerk … ganz zu schweigen von einem Paar neuer Schuhe, doppelt genäht mit wasserdichter Schweinsblase dazwischen, für den Winter mit Schafwolle …“ Noeira fuchtelte lax mit der Hand, als könnte sie noch ewig weiter aufzählen, nur sei der Tag nicht lang genug.
„Aber das mein ich doch nicht, Viviane! Guck dich doch mal um!“, rief sie und deutete auf die Berggipfel um sie herum. „Wenn sich das mit Arion erst herumspricht, kommen alle Könige mit ihren Stuten und wollen sie bei ihm auf die Weide stellen. Dann hat er schrecklich viel zu tun und natürlich schrecklich viel … Spaß.“
Noeira stellte diesen Spaß sogleich gestenreich dar, damit auch jeder wusste, was sie meinte. Alle lachten und prusteten los, als sie es mit einem Pferdegesicht in Ekstase versuchte. Ihre Augen quollen vor, ihre Zunge hing sabbernd heraus und wippte im Takt ihrer Hüften auf und ab … Großmutter Mara musste sich sogar gegen die Weide lehnen und die Augen wischen.
Viviane winkte schnaufend ab und gluckste.
„Es hat sich schon herumgesprochen, Noeira. Was meinst du, was man da alles geboten bekommt, damit Arion seinen Spaß haben kann.“
Noeira holte ihre Augen und Zunge wieder in Normalposition zurück, nickte überzeugt und wackelte Achtung heischend mit dem Finger.
„Das kann ich mir vorstellen! Da sind sicher die tollsten Sachen dabei!“
Mara klatschte schallend in die Hände und alle drehten sich zu ihr um.
„Mir ist etwas eingefallen, mit dem du König Gort bestechen kannst! Glaube mir, der erfüllt dir jeden Wunsch, wenn er nicht zu abwegig ist. Da brauchst du ihm nicht mal was untermischen.“
„Was zu trinken? Was da genau …?“
Viviane visierte ihre Großmutter an, aber die rieb sich nur die Hände und grinste verschlagen.
„Lass dich überraschen! Ich gebe dir nach dem Frühstück einen Krug mit auf die Burg.“
Zu ihrer aller Verdruss war auf dem Rückweg ins Langhaus nichts aus Großmutter Mara herauszubekommen. Also aß Viviane ein gekochtes Ei und Haferbrei mit Ahornsirup und starrte grübelnd vor sich hin. Daneben Noeira, die grübelte jedoch nicht, weil sie damit beschäftigt war, Großmutter Mara nicht aus den Augen zu lassen, die wiederum so tat, als wäre sie weitsichtig.
Medan brach die erwartungsvolle Spannung, indem er vom Tisch aufstand, um auf den Dietrichsberg zu Amaturix zu gehen. Viviane hatte plötzlich zu Ende gegrübelt.
Sie sprang auf, strich alle Eierschalen zusammen und huschte nach draußen, um sie zerbröselt ins Hühnergehege zu werfen. Beschwingt rannte sie hinter Medan her und dirigierte ihn zur Pferdekoppel um.
Als er die vielen Pferde sah, seufzte er traurig und ließ die Schultern hängen.
„Meinst du, ich soll sie mir noch mal ansehen, Viviane? Denn wenn ich heute Abend wiederkomme, sind sie schon mit ihnen weggeritten und ich habe wieder das Nachsehen wie immer.“
Medan trat gegen einen Stein, dass er im hohen Bogen ins Gras hüpfte. Viviane tätschelte ihrem jüngsten Bruder beschwichtigend die Schulter.
„Eigentlich wollte ich dich um etwas bitten, Medan …“
„Ja, ja, das wollen sie alle!“ Er spuckte aus. „Medan, nimm die Sense, der Weinberg muss gemäht werden und bring vom Heimweg gleich noch Wasserflöhe mit, wir wollen rote Wolle machen, weil das Blau schon alle ist. Medan, bring feinen Flusssand, wir haben frischen Essig gemacht und wollen die Tontöpfe scheuern. Medan, wir müssen Leinsamen pressen, unsere Schweinsblasen an den Fenstern brauchen bei der Hitze eine Ölung. Medan, räucher die Bienen aus, wir wollen Honig schleudern …“ Er hob flehend die Hände zum Himmel. „So ging es die ganze Zeit, als ihr nicht da wart! Beim Geweih von Cernunnos! Es ist wirklich anstrengend, das Oberhaupt im Dorf zu sein.“
Viviane tätschelte ihn immer noch.
„Jetzt ist Vater wieder da und du hast ihn würdig vertreten. Dafür sind wir dir sehr dankbar und deshalb …“
„Ja, ja. Ich weiß“, seufzte er, steckte die Daumen in seinen Gürtel und schob den nächsten Stein in Schussposition. „Jetzt kann ich wieder hoch zu Amaturix und weiterlernen, damit ich ein guter Eisengießer und Schmied werde. Amaturix meinte sogar, ich könnte auch mal ein Druide des Pheryllt-Ordens werden, so wie er. Stell dir das mal vor, Viviane! Ich lerne, wie ich meinen Namen ins Schwert hinein schmieden kann, ohne die Klinge zu stempeln! Erze mischen für den perfekten Härtegrad! Aber dann müsste ich ja ganz lange und ganz weit weg – bis nach Irland! Das ist noch weiter als Place in Britannien, wo du warst! Kannst du dir das vorstellen, Viviane? Ich, der ich nicht mal ordentlich Griechisch kann, soll in die Fremde ziehen?!“
„Na, ja. Ich muss zugeben, dein Griechisch ist wirklich miserabel, es will einfach nicht in deinen Kopf hinein. Aber vielleicht musst du gar nicht weg, um ein Druide der Metallurgie zu werden. Amaturix kann dich doch ausbilden! Ich und Amaturix machen nämlich eine Schule fürs Drachenschwert auf. Jeder, der ein Druide ist, kann da eintreten. Wir nehmen natürlich alle Sparten der Druiden, egal ob Arzt, Metallurge, Philosoph, Richter, Astronom, Barde oder Seher … Aber ich schätze mal, so viele werden es trotzdem nicht werden. Wer will schon als Druide dem Schwert verpflichtet sein. Druiden haben doch so ein schönes und sicheres Leben. Keine Abgaben, kein Kriegsdienst …“
Medan japste nach Luft und schnappte ihre Finger, die mit Aufzählen beschäftigt waren.
„Und das sagst du mir erst jetzt?! Das ist ja perfekt! Besser geht’s gar nicht mehr! Jetzt lauf ich ganz schnell hoch zum Dietrichsberg und werde der beste Schüler, den Amaturix je gehabt hat und bei dir lerne ich die Kampfkunst und dann bin ich Druide des Pheryllt-Ordens und gehöre zum Bund des Drachenschwertes. Beim Geweih von Cernunnos, ich werde ein Elitekrieger! All meine Wünsche … all meine Träume! Ich muss sofort Sünna mein Opfergeschenk schmieden! Vielleicht zeigt mir Amaturix das Kunststück mit dem Namenszug einlegen jetzt schon, denn später muss ich das ja mit zwei Drachen können, die sich um den Baum des Lebens winden!“
Medan umarmte Viviane und lief los, doch sie hielt ihn am Gürtel fest, was ihn zu einer Art Verbeugung mit gekeuchtem „He!?“ veranlasste.
„Du brauchst dich nicht so zu beeilen, Medan.“
Er versuchte, loszukommen und stemmte sich gegen sie, da ließ Viviane abrupt los und er konnte gerade noch sein Gleichgewicht halten.
„Ich habe keine Zeit für Kinderkram, Viviane!“
„Warte noch einen Augenblick, ich will dir nur was sagen.“
„Später! Ich muss mich beeilen! Ich muss doch schnell mit Amaturix alleine reden und außerdem will ich ab jetzt immer der Erste sein!“
„Keine Sorge, das wirst du.“ Viviane zeigte auf die Pferde. „Such dir eins aus!“
„Was?“
„Na, ein Pferd! Such dir eins aus! Du kannst jeden Tag ein anderes nehmen, schließlich brauchen sie Bewegung.“
Medan beäugte Viviane, als könne er plötzlich nicht nur Griechisch, sondern auch seine eigene Muttersprache nicht mehr verstehen. Dann lachte er auf, umarmte sie stürmisch und sprang gekonnt über das Gatter. Strahlend nahm er sich ein Halfter vom Weidengeflecht und ging damit zielstrebig auf eine schöne braune Stute zu. Beiläufig bückte er sich und warf einen Stein exakt in die Mitte des Weges. Viviane nickte anerkennend und Medan verbeugte sich lachend.
„Viviane, du bist die beste Schwester, die mir Mutter und Vater schenken konnten!“, rief er und warf das Zaumzeug über die lange Mähne der Stute.
Viviane machte das Tor auf und ließ ihn hinaus reiten. Medan winkte ihr glücklich zu und schnalzte mit der Zunge. Er ließ es langsam angehen, streckte seinen Rücken durch und saß so entspannt obenauf, als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes getan als zu reiten. Die Stute gehorchte ihm willig, obwohl sie von ihrem Vorbesitzer einen ganz anderen Reitstil gewöhnt war.
Im Hinterherwinken sah Viviane plötzlich wieder ihren Speer fliegen, der durch den Schild des Unglücklichen schlug und sich in sein Auge bohrte …
Als sie wieder beim Langhaus angekommen war, schüttelte sie immer noch traurig den Kopf und wischte sich die Hände an ihrem frischen Überkleid ab, obwohl sie gar nicht blutverschmiert waren.
„So, Viviane. Jetzt wird aber nicht geguckt wie sieben Tage Regenwetter!“, trällerte Großmutter Mara, hielt ihr einen Tonkrug hin und schmunzelte verschwörerisch.
Sofort richtete Viviane ihre Gedanken wieder auf die Gegenwart. Zögernd nahm sie den Krug, zog den Pfropfen ab und lugte hinein. Sie stutzte und schnupperte.
„Das ist ja Himbeersaft, ganz gemeiner Himbeersaft!“ Ungläubig sah sie Großmutter Mara an und schielte übertrieben misstrauisch in den Krug. „Und da ist nichts drin? Nicht die kleinste Droge?“ Sie sog noch einmal argwöhnisch Luft ein, um selbst die winzigste Nuance zu wittern, die nicht wie Himbeere roch.
Großmutter Mara stemmte entrüstet die Hände in die Hüften.
„Heiße ich Flora oder Viviane?! Ich bin Mara, die Töpferin, und kein Giftmischer! Schon lange nicht mehr in dich gegangen, Viviane, was?! Also: Nein. Natürlich ist da kein Gift drin! Ich vergreif mich doch nicht am König! Die Götter würden mich allesamt verdammen! Und deine Mutter hätte mir auch garantiert keine, wenn auch noch so schwache, Droge gegeben.“ Mara schüttelte vehement den Kopf und tätschelte Vivianes Wange. „Vertrau deiner alten Großmutter! Bring deine Argumente vor und der König wird dir deine Wünsche erfüllen.“
Viviane kräuselte zweifelnd die Stirn, drückte aber den Pfropfen fest in den Krug und nickte.
„Das werde ich, Großmutter, und verzeih mein Misstrauen. Da sind wohl die Pferde mit mir durchgegangen. Also, dann mal los! Auf ins Gefecht der Worte! Ist Hanibu fertig?“
„Die ist schon mit den Kindern zur kleinen Weide.“
„Gut. Bis nachher!“
Viviane ging zur kleinsten Wiese, auf der nur Dina und Arion grasten. Sie waren schon aufgezäumt und Hanibu lehnte wartend am Gatter. Lavinia und Robin kamen ihr entgegen, jeder ein paar Himbeeren futternd.
„Nimmst du uns mit, Viviane? Wir wollen auch mal so ein winziges Baby sehen!“
„Nein, das geht heute noch nicht.“ Viviane schüttelte entschieden den Kopf. „Außerdem müsst ihr doch wieder auf die Weiden und nebenbei Himbeeren sammeln, damit wir zur Feier genug Saft für euch und alle anderen Kinder haben. Das ist sehr wichtig.“
Lavinia und Robin ließen enttäuscht die Köpfe und Schultern hängen, murrten aber nicht. Viviane wuschelte ihnen ein wenig die Haare.
„Wenn es dem Baby gut geht, nehme ich euch morgen mal mit.“
„Ja! Da freuen wir uns, Viviane! Und heute sammeln wir so viele Himbeeren, dass wir ganz viel Saft pressen können!“ Robin streckte seine Hände weit auseinander und rieb sich übertrieben den Bauch. „Mmmh, Himbeermarmelade schmeckt gut, getrocknete Himbeeren sind genauso lecker, aber Himbeersaft … mmmh … Himbeersaft könnte ich fässerweise trinken!“
„Na, dann mal los ihr zwei, auf dass wir genug Fässer voll kriegen!“
Lavinia zog Robin hinter sich her.
„Wir lassen euch wieder welche übrig!“
Viviane war bei Tinne schneller fertig, als sie gedacht hatte. Die kleine Germania schlief friedlich in der Hängewiege und machte einen gesunden und zufriedenen Eindruck. Es war eben ein großer Vorteil, dass Tinne schon einen kleinen Sohn hatte und genau wusste, was zu tun war.
Noch ein Vorteil war, dass sie eine Sklavin besaß. Die kümmerte sich um den Haushalt und spielte mit dem Jungen. So konnte sich Tinne ganz ihrem Töchterchen widmen. Sie kam gut mit dem Wickeln und Füttern zurecht und hatte die Kleine auch schon erfolgreich angelegt, denn trotz ihrer Winzigkeit hatte sie einen kräftigen Zug. Daher konnten sie alle das Beste hoffen, verabredeten sich für den nächsten Tag und Viviane ging mit Hanibu den Fuhrweg weiter nach oben.
Hanibu betrachtete das Haus von Wahedon, der als erster Krieger des Königs ein noch etwas größeres als Tinne besaß. Vor dem Haus des obersten Druiden klappte ihr allerdings die Kinnlade herunter. Es war mindestens dreimal so groß wie ihr Langhaus im Dorf.
„Was macht Afal eigentlich, wenn er nicht gerade Opferzeremonien oder Feste leitet?“
Viviane drehte ihr den Kopf zu und Hanibu erschrak wegen des seltsamen Mienenspiels, dass sich ihr bot.
„Hätte ich das nicht fragen dürfen?! Ist das ein Geheimnis?!“
Viviane prustete los und winkte beschwichtigend ab, weil Hanibus Augen schon feucht zu glänzen begannen.
„Nein, nein! Das ist kein Geheimnis und natürlich darfst du mich alles fragen, was du wissen willst. Aber ich war gerade in Gedanken, und du bist übrigens die Erste, die das wissen will! Keiner fragt danach!“
„Vielleicht denken alle, dass man so was nicht fragen darf?“, hakte Hanibu nach und kämpfte die aufsteigenden Tränen erfolgreich zurück.
„Du meinst, weil Afal der oberste Druide in unserem Clan ist und deshalb über allem steht?“
„Genau.“ Jetzt war alles wieder gut.
„Da hast du einen totalen Denkfehler, Hanibu. Auch er muss sich verantworten, sogar mehr als jeder andere Mensch: vor dem gesamten Clan, vor dem König und natürlich vor den Göttern. Das ist seine absolute Pflicht. Und glaube mir, Hanibu: Nur derjenige wird oberster Druide, der seiner Verantwortung vollkommen gerecht wird.“
„Ich verstehe. Kann eigentlich jeder Druide oberster Druide werden?“
Viviane wiegte den Kopf.
„Theoretisch, ja. Aber meistens sind das weise Druiden, die das Universum studiert haben, zumindest die Rechtsprechung oder die Philosophie. Diese Künste stehen im höchsten Rang bei uns Druiden und bringen daher das meiste Ansehen in unseren Kreisen. Ich persönlich gebe der Astronomie den Vorrang. Die Sterne zu berechnen und was sonst noch dazu gehört, halte ich nämlich für besonders kompliziert. Das wäre nichts für mich. Wahrscheinlich würde ich, an Afals Stelle, die Sommersonnenwende in den Winter verlegen, Beltaine käme zu früh zur Frühjahrstagundnachtgleiche und außerdem würde ich den ganzen Tag über Nackenschmerzen jammern.“
„Nackenschmerzen? Ach so! Aber vielleicht hat Afal ja ein dickes, weiches Schaffell und beobachtet die Sterne im Liegen?“
Viviane kicherte und nickte anerkennend.
Hanibu strahlte.
„Afal ist also ein hoch angesehener Astronom.“
„Ja. Er berechnet die Bahnen der Sterne. Nachts beobachtet er sie bei ihrem göttlichen Tanz und hat für jede Sternenkonstellation ein Knotenmuster parat. Wie er das ganze Knüpfwerk auseinander hält, ist mir zwar schleierhaft, aber er kann sogar Sonnenfinsternisse auf dreihundert Jahre vorausberechnen. Stell dir das mal vor, Hanibu! Dreihundert Jahre im Voraus! Mondfinsternisse gibt es ja viel öfter und sie sind auch leichter zu berechnen, aber irgendwie habe ich es trotzdem nie verstanden, obwohl ich schon mal dabei war, als sie die Sterne vom Himmel geholt haben.“
„Sterne? Vom Himmel? Geholt?“
„Das geht, glaube mir! Du brauchst nur einen Teich, ein riesengroßer Bottich geht aber auch. Da gehen eben weniger Sterne rein.“
„Sterne rein? Wie?“
„Ganz einfach. Du musst nur Stricke spannen und dort, wo sich die Sterne im Wasser spiegeln, da machst du einen Knoten. Wenn du das übers Jahr verteilt machst, erkennst du die Wanderung der Sterne. Nicht umsonst gibt es den See der Weisheit in unseren Mythen. Die Welt von Vater Himmel spiegelt sich bei uns hier unten auf der Mutter Erde wider.“
„Aha, das ist wirklich interessant.“
„Ja, das ist es, Hanibu. Es geht alles, wenn man weiß wie, auch Sterne vom Himmel holen. Und im Winter lehrt Afal zusätzlich die älteren Kinder Schreiben, Rechnen und Griechisch. Sein Weib, Fea, ist für die jüngeren zuständig, musst du wissen. Ach! Und dann überprüft Afal auch noch gemeinsam mit dem König wie viele Rinder, Schafe, Schweine, Ziegen und Gänse es in den Dörfern gibt, Getreide und Gemüse natürlich auch. Daraus wird errechnet, was die Dörfer abgeben müssen.“
„Und wenn der König zu viel von euch verlangt?“
Viviane schüttelte den Kopf.
„Dafür ist Afal ja gerade zuständig. Der König verwaltet zwar seine Güter selbst, aber Afal überprüft alles zur Sicherheit und steht mit seinem Wort für jede Forderung ein. Keiner kann dann behaupten, der König würde zu viel verlangen. Verstehst du? Afal ist praktisch die Kontrolle für König und Clan.“
Hanibu nickte.
„Wie du vorhin schon gesagt hast: Er muss sich mehr verantworten als andere. Ja, ich verstehe. Aber wer legt die Abgaben fest? Wenn sie zu hoch sind, meine ich.“ Viviane nickte verstehend und schüttelte dann den Kopf.
„Jedes Jahr zu Samhain wird der König neu gewählt, beziehungsweise bestätigt. Natürlich ist es wichtig, dass ein König Verbündete hat und hoch angesehen ist, aber was meinst du, was passiert, wenn sein Clan unzufrieden ist?“
Viviane zog scharf die Luft ein und überließ es Hanibus Fantasie, was man mit einem König alles anstellen könnte, der sein Volk übers Ohr haut. Hanibu fasste sich auch prompt an die Gurgel.
Viviane fühlte sich nun doch zu einer Erklärung genötigt, denn Lew würde ja auch eventuell König werden. Hanibu sollte keine schlaflosen Nächte haben, wegen der Vorstellung, ein aufgebrachter Haufen Bauern würde Lew aus ihren Armen zerren.
„Keine Angst, Hanibu! Das ist wie beim Melken! Wir nehmen bei jeder Kuh doch auch nur ein bisschen Milch weg. Sonst würden wir uns ja ins eigene Fleisch schneiden. Und König Gort nimmt auch nur einen kleinen Teil. Er muss ja schließlich die Krieger und die Druiden mit ernähren.“
„Warum gehen die nicht selbst auf die Felder?“
„Oh, das tun sie ja! Sie haben jeder ein kleines Stück Land, das sie eigenhändig bewirtschaften. Alle Krieger, Druiden und Könige können pflügen, säen, ernten, mit einem Ochsen umgehen und was man sonst noch als Bauer können muss. Einige sind auch ganz passable Handwerker, aber die Felder zu beackern ist eben nicht ihre Hauptaufgabe. Jeder in unserem Clan hat seine ganz persönlichen Pflichten. Stell dir mal vor, was passieren würde, wenn ein ängstlicher Bauer plötzlich als Krieger fungieren müsste oder ein König sein Organisationstalent beim Schafe- und Ziegenhüten vergeuden täte! Das wäre doch absurd! Das wäre …“
Viviane suchte nach einem passenden Vergleich.
„Das wäre so verkehrt, als wenn ich Arion tragen täte statt er mich.“
Hanibu kicherte und Viviane fügte noch hinzu: „So etwas nennt man Hierarchie, Staatsgefüge, was bedeutet: Jeder fügt sich in die Gemeinschaft und nutzt ihr mit seinen Talenten.“
„Ich glaube, ich verstehe, was du meinst, Viviane. Du bist ja das beste Beispiel: Die Tochter eines Schmieds und einer Kräuterfrau kann zwar keine Sterne berechnen, aber dafür hat sie ein höchst seltenes Talent, das aus ihr eine Ärztin und Kriegerin macht und sie so ganz vortrefflich ihrem Clan nützt. Aber wie ist dieses … Staatsgefüge entstanden? Ich meine: Warum ist es gerade so und nicht anders?“
Viviane blieb stehen und sah Hanibu erneut seltsam an. Die verzog verlegen das Gesicht und lächelte entschuldigend.
„Bin ich wieder die Erste, die das wissen will?“
Viviane lachte und sah sich um.
„Ich amüsiere mich immer prächtig, wenn du in einem Kauderwelsch aus drei Sprachen sprichst“, erklärte sie Hanibu und schob sie vor sich her. „Aber um deine Frage zu beantworten: Ja, du bist wieder die Erste. Das liegt vielleicht daran, dass es für uns eben schon immer so war. Du kommst aus einem anderen Land. Da ist es nur verständlich, dass dich so etwas interessiert. Mir ist auch gerade eingefallen, wie ich dir das am besten erklären kann. Guck!“
Viviane winkte zwei junge Maiden heran, die gerade mit Holzeimern voller Wasser an ihnen vorbei laufen wollten und sich nebenbei tief verbeugten. Sie erklärte ihnen, was sie vorhatte und fragte, ob sie ihr dafür die Wassereimer zur Verfügung stellen wollten. Die beiden jungen Mädchen verstanden zwar nicht sogleich den Zusammenhang, waren aber sehr erpicht darauf zu sehen, wie man Hierarchie mit Wasser erklären konnte und hockten sich neben Hanibu vor die Eimer.
Schmunzelnd tauchte Viviane die Hand in einen der Eimer, spreizte die Finger und ließ das Wasser hindurch rinnen.
„Das sind die Menschen, wenn jeder für sich arbeitet.“
Viviane deutete auf ihre nasse Hand.
„Es bleibt zwar was hängen, aber man muss viel zu oft schöpfen, wenn man seinen Durst löschen will. Da kommt der König und sagt ‚Schart euch um mich und ich werde euch leiten, zusammen schaffen wir alles, was unserem Vater Himmel zur Ehre gereicht und die Götter werden uns gnädig sein.‘ Also hören die Leute auf ihren König und siehe da …“
Viviane schloss langsam ihre gespreizten Finger, tauchte die hohle Hand ein und deutete auf das Wasser, das sich darin gesammelt hatte.
„Wenn man sich etwas erschafft, dann muss man es natürlich auch schützen. Sonst nutzt ein anderer die Gelegenheit und denkt sich ‚Ach! Ich warte, bis die Schwächlinge ihre Ernte einfahren‘ und dann schwupps …“
Viviane holte aus und gab ihrer eigenen Hand einen kräftigen Schlag. Das Wasser schwappte heraus und spritzte in alle Richtungen davon. Ihre drei Zuschauer gegenüber quietschten.
„Wie ihr seht … Verteidigung ist wichtig und dafür braucht die Gemeinschaft Krieger. Sie müssen immer – ich betone immer – kampfbereit sein und beschützen uns mit ihrem Leben. Für diesen Dienst sollten ein paar Abgaben gerechtfertigt sein, denke ich.“
Viviane nahm ihr Horn aus der Gürtelschlaufe.
„Dann gibt es einige Menschen, die sind schlauer als die anderen. Sie beobachten alles von Mutter Erde, die Gestirne von Vater Himmel, die Allmacht … Sie achten die Götter und hüten das Wissen, das sie uns vor langer Zeit gebracht haben. Sie tun den Menschen viel Gutes.“
Hanibu nickte verstehend, eine der jungen Maiden zeigte auf das Horn.
„Da passt natürlich noch mehr rein, als in die hohle Hand und einfacher geht es auch.“
„Ganz recht, junge Maid“, lobte Viviane und bot Hanibu das Horn zum Trinken an.
Als sie danach greifen wollte, zog sie schnell die Hand zurück. Hanibu sah sie verständnislos an, bis ein Lächeln ihr Gesicht erhellte.
„Aha! Jetzt verstehe ich! Damit die Druiden das alles leisten können, müssen sie natürlich auch einen Teil von den Abgaben bekommen. Sonst hat man am falschen Ende gespart und bekommt sein Horn nicht voll.“
„Genau, Hanibu. Nun hast du das System begriffen! Und meine anderen aufmerksamen Zuhörer? Wie steht es mit euch?“
Die beiden jungen Mädchen nickten eifrig. Viviane erklärte ihnen, dass die Lektion nun beendet sei und fragte, ob sie ihr noch einen Schluck Wasser gönnten, was die beiden zum Strahlen brachte. Viviane bückte sich ziemlich umständlich und konnte sich nicht entscheiden, aus welchem Eimer sie denn nun das Wasser nehmen sollte. Endlich hatte sie ihr Horn voll und die beiden Mädchen gingen mit neuem Elan ihrer Wege. Mit einer Hand im Rücken drehte sich Viviane zu Hanibu um und prostete ihr zu.
„Vorhin diente es einem anderen Zweck, aber ich lasse dich trotzdem nicht mehr aus meinem Horn trinken.“
„Aber das hast du doch sonst auch immer gemacht!?“
Hanibus Augen begannen wieder verdächtig zu glänzen, doch Viviane übersah es diesmal, trank genüsslich ihr Horn leer und steckte es umständlich in die Schlaufe zurück. Danach schloss sie die Schnallen an ihrer prall gefüllten Arzttasche. Hanibu leckte sich derweil die trockenen Lippen. Sehnsüchtig pendelte ihr Blick zwischen den entschwindenden Wassereimern und Vivianes Horn. Ihre Augen wurden abgelenkt und weiteten sich überrascht, als Viviane ein wunderschön verziertes Horn in die Höhe hielt.
„Du brauchst mein Horn nicht mehr. Du hast jetzt ein eigenes. Und hier …“ Sie hob ein reich verziertes Lederteil hoch. „ … hab ich auch noch die passende Gürtelschlaufe dazu.“
Hanibu blinzelte hektisch.
„Viviane! Das ist … das ist …!“
„Für dich, ganz recht! Hab ich aus meiner Kriegsbeute ausgesucht. Gefällt es dir nicht?“ Viviane beugte sich zu Hanibu und sah ihr von unten her in die Augen. „Du brauchst doch nicht gleich weinen! Ich habe noch mehr davon, da wählst du dir nachher selbst eins aus. Das hier hat mir bloß am besten gefallen.“
Hanibu schniefte, schüttelte den Kopf und wischte sich mit einem Zipfel ihres Überkleides die Augen. Dann krächzte sie: „Ist es dir gar nicht aufgefallen?“
„Was?! Ist doch ein ordentliches, solides Trinkhorn! Absolut auslaufsicher, wenn man es richtig rum hält.“
Viviane betrachtete das Horn von unten und drehte es prüfend zwischen den Fingern. Hanibu räusperte sich und deutete zitternd darauf.
„Es ist innen drin mit Silber ausgegossen und hat außen herum dünne Goldfäden im Schliff!“ Hanibus Stimmlage wurde genauso dünn wie die Goldfäden und schraubte sich, passend zu den Verzierungen, immer höher. „Die Gürtelschlaufe hat sogar ein punziertes Knotenmuster und der Feststellknopf ist ein riesiger Bernstein.“
Wenn Hanibu jetzt weiter piepsen täte, bekäme der Bernstein einen Sprung und sie Atemnot. Daher stellte Viviane ihre Ohren auf Durchzug und fächelte ihr schnell den ankommenden Luftstrom zu.
„Ach so! Doch, doch! Ist mir alles aufgefallen! Deshalb hatte es mir ja so gut gefallen. Ich hab auch ein weißes, was innen vergoldet ist und außen mit Perlmuttintarsien, aber das fand ich dann doch zu protzig. Und die Gürtelschlaufe dazu erst noch! Am oberprotzigsten!“
Viviane winkte ab. „Wenn du das lieber haben willst …“
Hanibu schluchzte: „Ich bin doch nur eine Sklavin, Viviane! Hast du das vergessen!? Ich bin nicht würdig …“
„Ach. Jetzt weiß ich, woher der Wind weht! Einen kurzen Augenblick dachte ich wirklich, ich stehe auf deinen Zehen.“
Viviane drückte Hanibu bestimmend das Horn in die zitternden Hände und klammerte die ihren fest darum, sodass jeder Widerstand zwecklos war.
„Hör mir gut zu, Hanibu! Ich, Viviane, Dar Arminius und Flora vom Clan des stolzen Cernunnos, Hermundurin und Abkömmling der mächtigen Sueben, kann meine Kriegsbeute verteilen an wen ich will und wie ich will. Ich habe mir alles redlich erkämpft. Der Sieg über meine Gegner gibt mir das Recht dazu. Verstanden?“
„Ja, Viviane. Ich habe dich verstanden“, nuschelte Hanibu, zog den Kopf ein und ihre Hände wurden schlaff.
Viviane drückte sie energisch um das Horn und hielt ein kleines Kupferröhrchen hoch.
„Sollte natürlich irgendjemand dir dieses Geschenk streitig machen wollen, habe ich schon mal vorgesorgt. Da steht übrigens dasselbe drin, was ich gerade eben gesagt habe, bis auf das ‚Verstanden‘, versteht sich. Aber das hier drin …“ Viviane wedelte mit dem Kupferröhrchen. „ … begreift selbst der dümmste Dieb. Es ist nämlich in Ogham und trägt mein Siegel. Jeder, der das Schriftstück zu Gesicht bekommt, weiß dann Bescheid. Und wer es nicht lesen kann, gib es sowieso freiwillig zurück. Schon allein aus Angst, es könnte ein Fluch mit drin stehen. Was auch der Fall ist. Nur so als kleine Rückversicherung, da es das Geschenk eines Chattenkönigs ist, genauer, das meines angeheirateten Onkels Nyht. Die anderen Hörner habe ich übrigens von seinen Bündnispartnern als Geschenk bekommen, was eindeutig nicht unter Kriegsbeute zählt.“
Hanibu bekam ganz große Augen, Viviane tätschelte das Horn.
Übertrieben wackelte sie mit dem Röhrchen und schnippte einen Finger dagegen, so dass es einen feinen Klang von sich gab. „Es ist übrigens das erste Mal, dass ich mein Siegel benutzt habe. Das wollte ich noch dazu sagen, weil man es wegen dem Röhrchen nicht sieht. Ist ja auch eigentlich für Rezepte gedacht. Wir Hermunduren sollen schließlich nicht zurückstehen, bei den vielen Rezepturen, die sonst überall kursieren.“
Ehrfurchtsvoll nahm Hanibu das Röhrchen entgegen, sah auf und lächelte endlich wieder.
„Ich nehme dein Geschenk an und will es immerdar ehren und achten wie dich selbst, meine hoch angesehene Freundin Viviane.“
„So!“ Viviane klatschte in die Hände, wobei sie hektisch zwinkerte. „Dann hätten wir ja alles geklärt. Nein, halt! Natürlich musst du es noch ausprobieren! Hoffentlich hast du nicht so sehr rein geheult. Da schmeckt ja sonst das schöne Bergwasser unserer Quellgöttin Pauline ganz salzig.“
Übertrieben genau beäugte sie das Innere vom Horn, befand es für annehmbar und bedeutete Hanibu mit großer Geste, sie dürfe nun daraus trinken.
Schmunzelnd beobachtete Viviane, wie Hanibu erst zögerlich, dann genüsslich trank.
„Und jetzt auf zum König! Mal sehen, ob Großmutter Mara recht hat.“
„Soll ich lieber hier warten?“
Viviane schwang herum und sah strafend auf Hanibu herab, die sich noch nicht von der Stelle gerührt hatte.
„Hast du Leim an den Füßen?! Soll ich dich mal ordentlich an den Ohren ziehen?“
Hanibu drehte das Horn nervös zwischen den Fingern hin und her.
Viviane verdrehte dazu passend die Augen.
„Du brauchst doch keine Angst vor dem König zu haben. Ich bin schließlich dabei!“
„Du hast ja recht“, seufzte Hanibu. Aber verstecke bitte das Horn wieder in deiner Tasche, damit es der König nicht an mir sieht.“
„Ach, König Gort wird es dir garantiert nicht wegnehmen. Der hat selbst so eines.“
Hanibu drückt Viviane das Horn in die Hand. Mit eingezogenem Kopf schielte sie den Weg hinauf und sagte ganz leise in der Sprache der Hermunduren: „Eben.“
Unverständliches Zeug vor sich hin brummelnd, steckte Viviane das Horn wieder in ihre Tasche zurück und dirigierte Hanibu weiter den Berg hinauf. Sie hielt nicht einmal an, um mit daherkommenden Leuten ein Schwätzchen zu halten, sondern erklärte lautstark, sie hätte keine Zeit, der König erwarte sie. Nach der dritten Wiederholung wurde sie ein wenig leiser, nach der siebten oder neunten jedoch wieder lauter. Als sie hinter Afals großem Haus zu einer Wegbiegung mit Felsplateau kamen, knurrte sie „Endstation“ und deutete auf ein riesiges Langhaus, das dort stand wie auf einem steinernen Thron. Hanibu betrachtete es mit offenem Mund. Sie sah weit nach vorne, doch das Haus des Königs nahm kein Ende. Kopfschüttelnd beugte sie sich zur Seite und auch hier konnte sie nicht dahinter sehen. Vivianes Schmollmund verformte sich zu einem Schmunzeln.
„Ich staune auch jedes Mal über seine Größe, Hanibu. Als Kind habe ich es genauso angestarrt wie du jetzt.“
Hanibu seufzte.
„Du hast mir erzählt, dass hier manchmal viele Leute wohnen, wenn sich die Könige treffen und ihre Krieger mitbringen oder wenn andere hochrangige Gäste untergebracht werden müssen, Barden zum Beispiel. Du hast mir mal gesagt, dass ein Barde immer eine sehr gute Unterkunft braucht, sonst wandert er zum nächsten König und singt dort Schmählieder über den geizigen König und schadet so dessen Ruf.“
Drei Kinder mit Reisigbündeln liefen eilig an ihnen vorbei, neigten artig die Köpfe und riefen „Guten Morgen!“
Sie grüßten zurück und schlossen sich ihnen an, immer dem Weg folgend, der sich durch ein paar lang gestreckte Steinstufen das Felsplateau hinauf wand. Als Viviane weiter redete, sorgten die Kinder gleich dafür, dass sie nicht außer Hörweite gerieten.
„Könige und ihre Krieger wollen standesgemäß untergebracht werden, Barden erst recht. Solche Schmählieder darf man nicht unterschätzen, Hanibu. Es soll wirklich schon Barden gegeben haben, die wegen schlechter Bewirtung einen König so verunglimpft haben, dass er sein Amt abgeben musste. Es fällt schließlich auf den ganzen Clan zurück, wenn jemand über dessen König herzieht. Daher hat unser Königshaus sogar ein eigenes Abteil, mit allem drum und dran, extra für einen wandernden Barden. Damit demonstriert König Gort nicht nur seinen Respekt für Barden, sondern sein Langhaus ist auch so etwas wie ein Prestigeobjekt.“
„Aha, ich verstehe!“ Hanibu trat von der letzten Stufe auf die Freifläche und besah sich die Aussicht über das Tal. Mit weit ausholender Geste deutete sie auf die umliegenden Berge. „Es geht um euer Ansehen bei den anderen Clans.“
„Genau, Hanibu. Es ist natürlich auch prunkvoller ausgestattet als ein normales Langhaus. Es hat mehrere Schwitzbäder mit genügend Waschzubern und auch mehrere Aborte. Innen gibt es sogar abgeteilte Räume. So richtig mit Holzwand! Nicht nur Flechtwand oder Vorhang! Der König hat auch einen eigenen Brunnen, extrem tief, und seine Küche ist in einem Extrahaus. Was meinst du wohl, wie viel Platz sie im Keller haben? Der ganze Berg unter der Küche ist ausgehöhlt!“
Viviane stampfte mit dem Fuß auf und horchte, ob es hohl klang. Da nichts zu hören war, deutete sie auf den Weg, der vor dem Langhaus entlang ging.
„Komm, wir zählen mal die Schritte von der Außenkante bis zur Treppe, die ist genau in der Mitte.“
Sie stellten sich nebeneinander und Hanibu zeigte auf den Vorbau.
„Prunkvoll ist das richtige Wort. Das erkennt man schon am Vorbau. Der ist ja nicht wie bei euch offen, sondern geschlossen und geht von einem Ende zum anderen.“
„Das liegt an der Höhe. Bruder Wind treibt es hier oben gerne ein wenig toller. Es hat also mehr einen praktischen Effekt.“
„Ein Windschutz, ich verstehe. Aber so schöne Schnitzereien habe ich noch nie gesehen! Wie wird es da wohl erst drinnen aussehen?“
Mit einem „Wirst du gleich selbst sehen“ von Viviane gingen sie näher heran und besahen sich die Bilder und Ornamente in der Holzvertäfelung. Dabei vernahmen sie Musik und sahen auch bald die Köpfe von Königin Elsbeth, Elektra, Fea, Madite und des Barden über den Windfang ragen. Als sie an der Treppe ankamen, hatten sie eine vollständige Sicht auf die dort versammelten.
„Vierzig“, flüsterte Viviane und verbeugte sich erst vor dem Barden, dann vor Königin Elsbeth.
„Was?“, raunte Hanibu zurück und verneigte sich ebenfalls, nur viel tiefer und länger.
„Vierzig Schritte bis zur Hälfte, was bedeutet, dass das Haus achtzig Schritte misst“, wisperte Viviane. „Also ist es fünfmal länger als unser Langhaus und würde noch nicht mal in unsere Umfriedung passen! Das muss man sich mal vorstellen.“
Hanibu antwortete mit einem Keuchen, denn ihr brach der Angstschweiß aus, als Königin Elsbeth sich erhob. Sicherheitshalber verbeugte sie sich gleich noch einmal.
Die Königin kam die Treppe herunter, umfasste Vivianes Hände und schenkte sogar Hanibu ein freundliches Lächeln, als diese endlich wieder aufsah. Würdevoll geleitete sie die beiden die Treppe hinauf, und Elektra winkte ihnen grinsend zu.
Hanibu verneigte sich noch einmal vor allen Anwesenden, doch der Barde machte sich nicht die Mühe, von ihr Notiz zu nehmen. Viviane schenkte er umso mehr Beachtung und konnte gar nicht aufhören, sie zu drücken und zu tätscheln, bis er endlich seine Leier weiter zupfte. Fea, die Frau von Afal, und Madite, die Seherin, hatte Hanibu schon zu Beltaine kennengelernt. Mit einer gewissen Genugtuung stellte sie fest, dass beide ihr freundlich zunickten.
In diesem Augenblick stand ihre Meinung über den Barden fest und beim nächsten Wimpernschlag hatte sie ihr eigenes Schmählied im Kopf, was sie aber sofort wieder vergaß, weil der Besuch beim König nun einen Hergang annahm, mit dem nicht einmal Viviane gerechnet hatte.
***
„Was? Du hast mit dem König an einem Tisch zu Mittag gegessen?“
„Er hat nur einen Tisch, Noeira. Allerdings einen ziemlich großen.“
Noeira lehnte sich kraftlos gegen die Wand vom Langhaus, wo sie gerade eben noch gestanden und gesponnen hatte. Höchst angestrengt richtete sie ihren Blick auf den Uhsineberga, um dort den großen Tisch von König Gort eventuell zu erkennen.
„Was isst denn ein König so zum Mittag?“
„Eigentlich das Gleiche wie wir, Noeira. Es gab Brot, frische Butter, kalten Braten, Käse, Zwiebeln, junge Erbsen und Möhren …“
Noeira zog die Nase kraus und lugte jetzt sichtlich enttäuscht den Berg hinauf.
„Und ich dachte immer, die essen da oben …“
„Was? Den ganzen Tag nur Hirschschinken und Lammkeulen und Weißbrot mit einem Berg Butter obendrauf?“
Noeira zuckte die Schultern.
„Ja, so ähnlich.“
„Ha! Dann gäbe es bald kein Wild mehr in den Wäldern und kein Vieh mehr auf den Weiden! Aber ich hätte nicht mal im Traum daran gedacht, dass uns Königin Elsbeth dazu einlädt!“
„Uns? Hanibu saß auch mit …?“
„Nein! Nicht ganz! Eine alte Sklavin hat sie in den Raum mitgenommen, wo die Sklaven essen. Aber da hat es ihr auch gefallen. Beim Essen hat übrigens kein Sklave bedient. Sie haben nur den Tisch gedeckt und sind gegangen. Das ist praktisch für König Gort, so erhält er sich einen großen Teil seiner Privatsphäre. Man konnte sich ungestört unterhalten.“
„Was unterhält man sich denn so mit dem König, wenn man nicht gerade den Mund voll hat?“
„Königin Elsbeth und Elektra wollten viel wissen. Ich musste ihnen von Großmutter Dana erzählen, von Königin Birgie und natürlich von Lothaar, von unserem Lagerplatz, dem Spähtrupp und dann noch von den Vorkämpfen und der Schlacht …“
„Da wundert es mich aber, dass sie dich nicht gleich zum Abendbrot dabehalten haben – dem morgigen, versteht sich.“
„Da ist doch Mittsommer. Bis dahin sind ihnen sicher noch ein paar Fragen eingefallen.“
„Und was hat Hanibu die ganze Zeit gemacht?“
„Das Selbe wie du, Noeira. Sie hat mit den anderen Weibern draußen auf dem Vorbau gesponnen. Königin Elsbeth war ganz begeistert.“ Viviane drehte sich zu Hanibu und nickte ihr zu. „Hanibu! Zeig Noeira mal dein Geschenk!“
Hanibu hielt Noeira strahlend einen Stoffbeutel hin.
„Oooh! Der ist aber schön gewebt, mit Ornamenten und einer feinen Kordel“, seufzte Noeira und drehte den Beutel hin und her. Ach, ein Bär und ein Hirsch sind auch noch eingewebt! Hast ihn wohl von Elektra bekommen?“
Hanibu nickte begeistert und erklärte langsam: „Von Königin Elsbeth habe ich das geschenkt bekommen, was drinnen ist.“
Noeira zog an der Kordel und lugte hinein.
„Beim Geweih von Cernunnos! Das nächste Mal nimmst du mich auch mit, Viviane, wenn du wieder zum König musst! Eine geschnitzte Spule aus Lindenholz und auch noch bis zum Geht-nicht-mehr mit feinstem roten Lein voll!“
Viviane lachte auf.
„Das Garn hat Hanibu selbst gesponnen, als sie bei den Weibern draußen saß. Königin Elsbeth wollte ihr etwas zu tun geben, solange sie auf mich warten musste. Als sie dann Hanibu beobachtet hat, war sie so zufrieden mit ihr, dass sie ihr die Spule geschenkt hat. Und damit sie die nicht den ganzen Heimweg in der Hand tragen muss, hat ihr Elektra noch ein Täschchen geschenkt.“
Das dünne Garn ging von Hand zu Hand, wurde gebührend gelobt und natürlich wollte jeder wissen, wie es Hanibu bei Königin Elsbeth ergangen war.
Hanibu redete in der Mundart der Hermunduren, Griechisch, Äthiopisch und mit Gebärden. Flora und Taberia hörten aufmerksam zu, Noeira saugte förmlich jedes ihrer Worte und Gesten in sich ein – so wie sie dastand: nach vorne gebeugt, mit offenem Mund.
Großmutter Mara nahm derweil Viviane am Arm und zog sie Richtung Backofen.
„Und?“
Viviane feixte.
„Es hat besser funktioniert, als ich erhoffen konnte. Ich habe ihm erklärt, wie wichtig das Baby für Tinne ist und dass ich von diesem Glücksfall viel lernen kann. Er hat auch eingesehen, dass man mit so einem Winzling weit vorsichtiger umgehen muss, als mit einem normalen Baby. Wir haben einen Kompromiss geschlossen. König Gort will Tinne selbst das Essen vorbeibringen. Stell dir vor, was für eine Ehre! Dann nimmt er Tinne mit zum Göttertanz und ihre Sklavin bleibt so lange bei Germania. Für den Segen haben wir auch eine Lösung gefunden. Afal kommt extra für die Kleine mit geweihtem Wasser zu Tinne ins Haus. Aber er wird nur ihre Stirn benetzen und im nächsten Jahr bekommt sie ihre richtige Lebensweihe.“
Großmutter Mara nickte anerkennend.
„Und was hat er zu deinem Geschenk gesagt?“
Viviane prustete los.
„Gesagt?! Er hat in den Krug hineingeschaut, tief eingeatmet und dann hat er gefragt, ob Großmutter Mara noch mehr so extravagante Muster auf ihren Krügen hätte. Dieses hier wäre ganz vortrefflich gelungen. Er hat den Krug auf das höchste Regal gestellt, wahrscheinlich, damit niemand außer ihm ran kommt, und immer mal einen bewundernden Blick darauf geworfen, wenn er gedacht hat, ich sehe es nicht.“
Großmutter Mara gluckste und sah verträumt vor sich hin.
„Er hat als Kind schon so gerne Himbeersaft getrunken. Kaum war sein Horn leer, stand er wieder am Fass, gemeinsam mit Arminius. Die beiden haben oft zusammen gespielt … und gestritten … und sich geprügelt. Ach ja, die wundervolle Zeit der Kindheit …“
Viviane nickte schelmisch und wackelte mit ihrem Zeigefinger. „ … jetzt verstehe ich.“
Sie gingen wieder zurück zu den anderen, wo Noeira schon aufgeregt winkte.
„Viviane! Elektra will sich auch mal anhören, wie ihr auf der Tin Whistle spielen könnt. Lew hat ihr davon erzählt und sie hat Hanibu gefragt, ob ihr noch übt.“
Viviane lachte und schaute zur Sonne.
„Wenn unsere kleinen Schafhirten heimkommen, kann es gleich losgehen. Wo bleiben die beiden eigentlich?“
Flora winkte ab.
„Die baden auf dem Heimweg mit den Männern zusammen. Ihre Weide ist gleich oberhalb der Festwiese und weil die Männer ohnehin dort sind, wollten sie die große Badestelle ausnutzen. Wie du siehst …“
„Ja, ja. Sie denken sehr praktisch. Was da wohl länger dauert? Das Grasen der Pferde oder das Baden der seeehr verschwitzten Männer, die noch zwei junge Fohlen beaufsichtigen müssen. Wenn sich das herum spricht, stehen die Sklaven bei mir Schlange, um einen Posten als Pferdewirt zu ergattern.“
Flora drehte sich sofort zur Burg.
„Jetzt, wo du das sagst … bei dir würde es einem Sklaven richtig gut gehen.“
„Wieso? Hat jemand seinen Ehrenpreis verloren?“
„Noch nicht. Aber das Weib von unserem ältesten Krieger, der gefallen ist, hat keine Kinder. Ich könnte mir vorstellen, dass sie bald nicht mehr alleine zurechtkommt. Und in ihren Mutterclan will sie nicht wieder zurück. Das hat sie mir jedenfalls erzählt, als ich mich mit ihr unterhalten habe.“
Viviane sah ihre Mutter fragend an.
„Da warst du gerade zur Reinigung oben im Heiligtum, Kind.
„Oh, daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Ich war so damit beschäftigt, für Tinne eine brauchbare Lösung zu finden … Aber ich werde ihr natürlich gerne eine Arbeit bei mir anbieten, die ihrem Alter entspricht.“
Flora legte Viviane die Hand auf die Schulter.
„Bei dir kann sie unbesorgt alt werden, da bin ich mir sicher.“
„Hm, aber vielleicht nimmt sie sich auch wieder einen neuen Mann? Dann gebe ich sie frei und zwar ohne Rückkauf vom Ehrenpreis.“
Flora tätschelte dankend Vivianes Schulter und die nutzte die Gunst der Stunde.
„Ich will nach dem Abendessen zu Baria.“
Floras Hand rutschte kraftlos an Vivianes Arm herab, und das Lächeln gefror ihr im Gesicht.
„Heute Abend schon? Sonst gehst du doch immer vor Sonnenaufgang? Ist irgendwas passiert? Hast du sie unterwegs im Wald wieder gerochen?“
„Nein, nein, keine Bange, und gerochen hab ich sie auch nicht. Sie weiß doch, dass sie mich nur rufen muss, wenn sie mich braucht.“
„Warum willst du dann so früh los?“
Viviane winkte ab.
„Keine Sorge, Mama! Ich will auf der Lichtung noch meditieren, bis sie zu mir kommt!“
„Was!? Du bist wohl nicht ganz bei Trost!? Hast du nicht gesagt, wenn jemand zwischen den Welten wandert, dann bekommt er nichts mehr um sich herum mit, weil der Geist den Körper verlässt? Und da willst du dich in die Höhle des Löwen setzen!?“
Flora fuchtelte wild mit den Händen über Vivianes Kopf herum und schnaubte: „Dein Geist flattert irgendwo in der Gegend herum und dein Körper ruft: Kommt alle her und fresst mich! Ich kann mich nicht wehren!?“
Viviane hielt beschwichtigend die Hände ihrer Mutter fest und zog sie nach unten.
„Jetzt übertreibst du aber, Mama, von wegen Höhle des Löwen …“
„Na, ist doch egal, ob du nun von einem Wolf gefressen wirst oder … da laufen ja auch noch Wildschweine im Wald rum und Luchse und Bären und …“
„Oder ich setze mich aus Versehen in einen Ameisenhaufen und schnipp-schnapp …“
Viviane schlug die Zähne aufeinander. „ … bin ich abgenagt. Jetzt ist es aber gut, Mama! Es hat eben seine Vorteile, wenn man in der Höhle des Löwen meditiert.“
„Ach! Was sollte daran von Vorteil sein?!“
„Na, denk doch mal nach! Wer ist das gefährlichste Raubtier im Wald?“
„Na, eben doch! Der Wolf!“
„Und würdest du als Wildschwein oder Bär freiwillig in die Nähe von einem Wolf gehen?“
„Äh … nein. Da wäre ich ja lebensmüde!“
„Na also! Dann kannst du heute beruhigt schlafen und ich beruhigt wandern.“
Flora gab es auf.
„Ich press noch schnell den letzten Tropfen Saft aus meinen Himbeeren. Das kommt mir jetzt gerade recht. Du willst bestimmt mit den Kindern auf der Tin Whistle üben, wenn sie heim kommen.“
„Ganz recht. Ich gehe mit ihnen in den Baumgarten, da bin ich dir aus dem Weg. Ich habe auch schon ein schönes, beruhigendes Liedchen im Sinn. Es heißt praktischer Weise ‚der heulende Wolf‘.“
Als die Männer heimkamen, summte Flora an ihrer Saftpresse eine melancholische Melodie mit, die von Vivianes kleiner Zinnpfeife ausging, bis die Kinder zu üben begannen. Aber es dauerte gar nicht lange, da hörte sich auch ihr Spiel richtig gut an und sie versuchte es noch einmal mit summen. Nach dem Abendbrot war sie so gut gelaunt, dass sie sich an Vivianes neues Fidchellspiel erinnerte, und schon lagen alle draußen auf den Kuhhäuten, genossen den lauen Sommerabend und gaben Lavinia und Robin nebenbei gute Ratschläge. Damit es nicht zu lange dauerte, hielten sie die Wege kurz und die Kuhhäute eng zusammen. Es war ein ziemliches Gefuchtel und Gerede, doch die beiden wollten gar nicht mehr aufhören, obwohl sie gegen jeden Gegner, der sich ihnen gegenübersetzte oder -legte, verloren.
Verlieren war prima, denn wer verlor, durfte zum Trost den rosa Elefanten, Rosvinia, drücken und mit seiner schlechten Laune füttern, weshalb Rosvinchen sich ihren Bauch mit enorm viel Frust der Verlierer vollfraß. Kaum war sie satt, konnte das nächste Spiel beginnen, bis Robin das Rosvinchen beim Füttern selbst verschlingen wollte.
Im Angesicht dieser drohenden Gefahr für wohlgenährte rosa Elefanten, erklärte Arminius den Abend für beendet und Viviane sprang auf die Füße. Silvanus zerrte sie gleich mit hoch.
Flora stutzte.
„Ich denke, Silvanus darf nicht mit, wenn Baria sich zeigen soll?!“
Silvanus winkte ab.
„Ich begleite sie nur ein Stückchen, Mutter. Da kann ich gleich noch mal nach unseren Pferden sehen.“
Arminius sah von seiner allerallerletzten Partie Fidchell mit Lavinia auf, hielt ihr jedoch sicherheitshalber die Hände fest.
„Aber dass mir keine Klagen von den … Pferden kommen, Silvanus!
Alle um ihn herum kicherten und Conall schlug dabei mit der Hand so kräftig auf die Kuhhaut, dass die kleinen Holzschildkröten in die Luft flogen. Lavinia johlte begeistert und konnte sie schnell zu einem neuen Spiel arrangieren, bevor Arminius eine besonders weit hüpfende Pantherschildkröte eingefangen hatte. Nachsichtig schüttelte er den Kopf über so viel Eifer.
Silvanus griente, hob Viviane wie ein Kind auf die Arme und stolzierte mit folgenden Worten zum Tor hinaus: „Ich trage deine Tochter auf Händen, Arminius, und werde mich bemühen, dass sie sich nie über mich beschweren muss.“
Arminius überprüfte seine enormen Armmuskel.
„Recht so, mein Sohn. Was anderes hatte ich auch nicht erwartet.“
Viviane winkte lachend und Silvanus trug sie durch das Tor um die Palisaden herum.
„Jetzt kannst du mich wieder runter lassen, Silvanus.“
Silvanus schüttelte den Kopf.
„Erst, wenn wir da sind.“
„Aha. Und wo ist das: da?“
„Lass dich überraschen.“
Silvanus ging an den Gattern der Ziegen, Schweine und Gänse vorbei. Selbst bei ihren erbeuteten Pferden machte er nicht halt, lief durch das offene Eichentor zum Dorf hinaus und am kleinen Bach entlang. Der Stier, in seiner Umfriedung aus Hainbuchensträuchern, muhte ihnen kurz nach und graste weiter.
„Warum haben wir erst jetzt das Tor zugemacht? Ich dachte, ihr habt das vorhin gleich erledigt, als ihr von eurem Ausritt gekommen seid?“
„Ich habe Vater gesagt, wo ich hin will, damit er sich keine Sorgen um dich macht.“
„Und, was hat er gesagt?“
Silvanus griente sie vielsagend an.
„Ach, er hat nur gesagt, ich soll das Tor nicht vergessen, sonst muss er noch mal raus und es zumachen. Und das wollen wir doch vermeiden. Dann hat er gelacht.“
Viviane verschränkte die Arme, kniff die Augen zusammen und linste Silvanus durch einen kleinen Spalt heraus an.
„So, so. Und was hat er wirklich gesagt?“
„Viviane! Sehe ich aus wie ein Lügner!? Wenn ich mich recht entsinne, warst du bei unseren Kinderstreichen immer diejenige, der man genauer zuhören musste!“
Vivianes Blick hatte sich noch nicht verändert. Silvanus verdrehte die Augen zum Abendhimmel.
„Na gut, na gut. Aber das ist eigentlich nur was für Männer.“
„Ich hab schon einiges erlebt, was eigentlich nur für Männer ist, Silvanus. Also …“
„Warte bis wir da sind, dann sag ich’s dir.“
Viviane legte ihm wieder die Hände um den Hals, zog einen Schmollmund und kraulte seinen Nacken.
„Nur, wenn’s nicht allzu lange dauert.“
Silvanus seufzte.
„Immer diese Ungeduld von den jungen Stuten. Apropos: Ich hatte zwar auch ein schönes Plätzchen bei unserer Festwiese gefunden, aber damit wäre Vater garantiert nicht einverstanden gewesen. Und meine Arme auch nicht. So, da wären wir schon.“
Silvanus schlängelte sich geschickt durch eine Ansammlung junger Birkenbäume, kniete nieder und legte Viviane ins weiche Moos. Doch sie ließ seinen Hals nicht los, zog ihn neben sich und kuschelte sich schnell in seine Achsel. Den Rest von Silvanus klammerte sie mit einem Bein fest und betrachtete die unzähligen kleinen Birkenzweige um sich herum.
„Das hätte ich mir eigentlich denken können. Unser alter Platz, wo wir früher immer die Wolkenbilder von Vater Himmel beobachtet haben.“ Sie strich über das weiche Moos. „Damals war hier mehr Gras und die Birkenbäumchen waren auch noch nicht da.“
„Hm, hat sich verändert in den paar Jahren und ist richtig schön dicht mittlerweile. Sieht ein bisschen wie unser Birkenhain bei der Festwiese aus, nur in Miniaturformat und von außen uneinsehbar.“
Viviane nickte verschmitzt.
„Fehlt nur noch der Stein unserer Fruchtbarkeitsgöttin, dann ist es perfekt.“
Silvanus öffnete seine Gürteltasche und legte Viviane einen flachen, schwarz-weißen Kieselstein in die Hand.
„Auch eine Miniatur, aber sonst …“
Viviane strich über die glatte ovale Fläche, drehte ihn um und besah sich die schwarze Unterseite.
„Der ist ja fast zweigeteilt. Wo hast du ihn denn gefunden?“
„In der Badestelle, als ich heute vor Loranthus geflüchtet bin.“
Viviane lachte.
„Das kann ich mir gut vorstellen. Du Armer. Und?“
„Was, und!? Ich bin ihm natürlich entkommen und Conall hat ihn erwischt.“
Viviane schob sich halb auf Silvanus und schlang ihr Bein noch fester um ihn.
„Ich meinte eigentlich, was Vater zu dir gesagt hat.“
Silvanus verdrehte die Augen.
„Also gut! Wenn du’s unbedingt wissen willst! Er hat gesagt, ich kann’s ruhig laufen lassen, es wäre ja eh schon alles zu spät.“
Viviane prustete los, warf sich ganz auf Silvanus und kicherte an seinem Hals weiter.
„Vater ist immer so praktisch veranlagt. Aber wenn du denkst, er wäre damit der Einzige, dann hast du dich getäuscht. Nora hat das auch zu mir gesagt, als ich beim Großopfer bei ihr und Harthu gesessen habe.“
Jetzt prustete auch Silvanus los.
„Kann ich mir denken. Bei denen ist ja auch schon alles zu spät.“
Viviane fummelte am Haken seines Gürtels herum. Das schwere, kupferne Knotenmuster klappte zur Seite und sie schnurrte ihm ins Ohr: „Na, dann wollen wir mal die Gelegenheit ausnutzten, wenn wir so schön alleine sind.“
Silvanus packte die Hand, die ihm gerade das Hemd hochziehen wollte.
„Erst will ich von dir wissen, wie du dir das nachher vorstellst, bei Baria.“
„Sag ich dir. Aber nur, wenn du das Hemd ausziehst.“
„Warum? Muss man beim Meditieren das Hemd aus haben?“
Viviane lächelte geheimnisvoll und raffte ihm das Hemd über den Kopf.
„Quatsch. Aber mir gefällst du ohne Hemd besser.“
„Gut. Aber dann auch du!“
Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da war Viviane auch schon aufgesprungen, hatte ihren Gürtel aufgehakt und riss sich Überkleid und Unterkleid vom Leib. Silvanus schüttelte grinsend den Kopf und leckte sich die Lippen.
„Gierig wie eine siebenköpfige Raupe.“
„Also pass auf!“ ermahnte Viviane mit hochgehobenem Zeigefinger und setzte sich neben ihn. „Die gierige Raupe setzt sich so in den Runensitz und schließt die Augen.“
Silvanus besah sich Vivianes verschränkte Beine und schlug umständlich seine eigenen ineinander.
„Hm. Ich glaub, meine Beine sind für solche Verrenkungen viel zu lang!“
„An dir ist alles … lang“, säuselte Viviane, hielt aber die Augen geschlossen. „Mit ein bisschen Übung ist das gar nicht so schwer. Jetzt die Hände auf die Knie und entspannen!“
Silvanus fuchtelte mit seinen Händen vor Vivianes Nase herum und zog Grimassen.
Viviane lächelte, ohne die Augen zu öffnen, und knurrte: „Entspannen, hab ich gesagt!“
Silvanus kniff die Augen fest zu und legte betont artig seine Hände auf die Knie.
Viviane brummte zufrieden und gab ihrer Stimme einen beruhigenden Klang.
„Jetzt hörst du den Grillen zu, fühlst den warmen Sommerabend, schmeckst das Aroma des Windes, riechst die Düfte, die dich umgeben und denkst an eine schöne, langsame Melodie. Dein Geist wandert vom Gehirn über deine Augen, deine Nase, deine Lippen, deine Ohren, deinen Hals und über die Schultern, bis hinab in deine Fingerspitzen. Dort gibst du ihn frei und lässt ihn fliegen, weit hinauf zu Vater Himmel.“
Viviane linste durch ihre Wimpern und betrachtete Silvanus’ Hände. Seine Handflächen zeigten nach oben, seine Fingerspitzen spreizten sich auseinander. Er war wirklich entspannt.
„Du kannst jetzt deinen Geist überall hin fliegen lassen und er wird dir die Antworten bringen, die du suchst.“
Silvanus’ Kopf kippte leicht nach hinten und seine Lippen öffneten sich. Viviane griente und streichelte mit ihrer Hand über seinen Rücken.
„Ich suche beispielsweise die Antwort auf die Frage, wann wir endlich die Gelegenheit ausnutzen. Ich wollte nämlich nicht erst durch den Wald stolpern, wenn es dunkel ist.“
„Mmmh, mach nur weiter so. Mein Geist kommt schon angeflattert“, brummte Silvanus, schlug ein Auge auf und schielte zu ihr rüber. „Da gibt es nur ein Problem: Ich bekomm den Knoten in meinen Beinen nicht wieder auseinander.“
„Welch eine Misere!“, seufzte Viviane, stand auf, beugte sich über ihn und besah sich höchst nachdenklich seine Stellage. Mit einem „So könnte es gehen“ zog sie seine Hände hoch auf ihre Brüste, empfahl ihm, sich daran fest zu halten und biss sachte in sein Ohrläppchen, während ihr Körper an seinem Bauch hinunter glitt und sie sich auf seinen Knien abstützte.
„Sind deine Beine schon frei? Nein? Nun, wir sollten einfach das Beste draus machen“, hauchte ihr Atem an seinem Hals.
Viviane griente immer noch vor sich hin, als sie schon längst auf dem schmalen Wildwechsel unterwegs war, der sie direkt zu Baria führte. Sie kam schnell voran. Selbst als das Blätterdach dichter wurde, konnte sie alles deutlich erkennen und hörte die Geräusche der Waldbewohner. Obwohl sie sehr leise ging, wurde sie natürlich auch von ihnen bemerkt, aber nicht als Bedrohung wahrgenommen. Nur ein junger Rehbock schreckte bellend auf und huschte mit einer Ricke davon ins Dickicht. Kaum waren sie verschwunden, knackten dort die Zweige und ein leises Quieken verriet, dass eine Rotte Wildschweine ebenfalls flüchtete.
Viviane übersprang dagegen geräuschlos-leichtfüßig den kleinen Gebirgsbach und kam bald darauf zum Rande der Lichtung, auf der sie und Baria immer zusammentrafen.
Abwartend blieb sie stehen, strich sachte über ihre Lieblingsbirke und sog deren typischen Geruch ein. Sie war in den paar Jahren noch ein Stück gewachsen, das war ihr bisher noch gar nicht aufgefallen, wohl wegen der sonst herrschenden Dunkelheit. Auch die blaugrünen Gräser wiegten sich heute nicht silbrig schimmernd im Nachtwind, sondern verschmolzen mit dem blaubeerfarbenen Abendhimmel. Ihre winzigen Ähren standen filigran über den weichen Grasbüscheln wie zarte Kunstwerke, geschaffen von Meisterhand.
Viviane betrat die Wiese, ließ ihre Finger darüber streifen. Flauschige Hummeln brummten behäbig an ihr vorbei und auch die flinken Bienen schwirrten noch emsig zwischen rotem Klee und blauen Lupinen hin und her, während sie ihre Schritte bedächtig setzte, um sie nicht zu stören.
Langsam bewegte sie sich auf ihren alten Baumstumpf zu, doch diesmal setzte sie sich nicht darauf, sondern davor ins Moos. Lächelnd strich sie darüber, sah sich noch einmal auf der Lichtung um und zog die Beine ineinander. Die Hände legte sie auf ihre Knie, den Kopf lehnte sie an das alte Holz, seufzend schloss sie die Augen.
Das Moos war angenehm warm und weich, Gras und Kräuter verströmten ihre Düfte, Bienen summten leise, friedlich. Die Vögel zwitscherten wesentlich lauter und machten das Lied der Dämmerung vollkommen.
Viviane öffnete leicht ihre Lippen, atmete langsam ein. Die laue Nacht legte sich auf ihre Zunge. Die Mondgöttin rief ihren Geist zu sich.
Behäbig floss er durch ihren Körper und quoll hinaus wie ein Bach aus seiner Quelle. In einem schmalen Rinnsal rann er zum Waldrand, schlängelte sich zwischen den Buchen und Birken hindurch und rieselte knisternd über die trockenen Nadeln unter den mächtigen Tannen. Das gleichmäßige Summen blieb auf der Wiese zurück, auch das Tschilpen wurde leiser wie ein abklingendes Harfespiel, gezupft auf göttlichen Saiten, sanft, einfühlsam.
Die Vögel verstummten ganz und sahen neugierig dem Rinnsal hinterher, das sich an den knorrigen Wurzeln der alten Eichen entlang wand, immer weiter, bis es sich endlich mit dem klaren Gebirgsbach vereinigte. In diesem Augenblick legte die Göttin der Nacht ihren diamantbesetzten Mantel über ihren Vater Himmel und der Bachlauf erstrahlte im Glanz der Gestirne, spielte mit ihnen Verstecken. Bald aber standen die Bäume so dicht, dass selbst das helle Mondlicht ihre Wipfel nicht mehr durchdringen konnte und der Bach gewann das Spiel.
Freudig umspülte er die Steine und passte sich sanft den Windungen seines alten Bettes an. Von überall her kamen kleine Rinnsale herbei und vereinigten sich mit ihm, ließen ihn anschwellen, manchmal sogar ein wenig tosen. So plätscherte der Gebirgsbach lange im Dunkeln dahin, ohne den Verlauf zu sehen, einfach nur, weil es sein ureigener Weg war, den er immer nahm.
Ganz allmählich öffnete sich der düstere Wald zu einer Aue.
Silbern schwankten lange Gräser im diffusen Licht der Mondgöttin und wiegten sich in den Armen von Bruder Wind. Der Bach aber wand sich nun nicht mehr in engen Kurven, sondern wurde breiter, ruhiger. Gemächlich strömte er an großen Felsblöcken vorbei, die zwischen seinem Bett und einem schmalen Wiesenweg lagen. Etwas Animalisches ging lautlos darauf, bewegte sich geschmeidig.
Der Rhythmus seiner Schritte passte sich der Geschwindigkeit des Wassers an. Mühelos übersprang es die Felsen, trennte sich nie vom Bach und schaute auf das Ende des Weges, wo das Mondlicht in einem stillen See glitzerte. Der Bach ergoss sich hinein, kam zur Ruhe, schlief ein.
Am anderen Ufer ragte ein riesiger Opal empor. Ein Schwert steckte darin. Die Göttin der Nacht strich mit ihren silbernen Fingern über die beiden Drachen, die darauf eingraviert waren und sich um einen Baum wanden. Das Wasser spiegelte das Mondlicht, warf es gegen das glänzende Schwert und es sah fast so aus, als würden sich die Drachen im Takt der Strömung bewegen.
Lautlos, bedächtig trat eine Wölfin aus den Schatten der Nacht und legte eine Pfote auf den schwarzen Edelstein. Schon tasteten sich die Finger der Nachtgöttin ganz sanft an den Krallen entlang, streiften den Lauf und warfen schließlich behutsam einen Mantel aus Mondlicht über ihr gesamtes grau-braunes Fell. Vollkommen still verharrte die große Gestalt der Wölfin in majestätischer Würde, kraftvoll, animalisch, überflutet von einer Aura aus Silber. Selbst ihre wachsamen, klugen Augen beobachteten erhaben das schlafende Wasser, das sich in ihnen widerspiegelte, sie schimmern ließ wie polierte Bernsteine.
Viviane schlug die Augen auf, sah ihrerseits in die gelb-braunen Augen von Baria und lächelte. Auch die Wölfin schien zu lächeln und als Vivianes Hand sich auf ihre Pfote legte, schloss sie ihre Augen. Ein wohliger Laut kam aus ihrem tiefsten Inneren. Viviane ahmte den Laut nach, kniete sich vor die Wölfin und umarmte sie.
Baria schmiegte ihren Kopf an Vivianes Hals und beide sogen den unverwechselbaren Duft der anderen ein. Gemächlich legte sich Baria ins Moos, ließ sich von Viviane streicheln und kämmen und lauschte der ruhigen Stimme ihrer Mutter.
Später verstaute Viviane die ausgekämmten Haare in einem Holzdöschen und legte sich ebenfalls ins Moos. Baria rollte sich neben ihr zusammen und schob ihren Kopf in Vivianes Achsel. Eine Pfote legte sie auf Vivianes Unterbauch.
Schweigend genossen beide die wohlige Wärme des geliebten Wesens, bis es plötzlich gegen Barias Pfote klopfte. Viviane hob den Kopf und sah verdutzt auf Barias Pfote, doch die Wölfin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Dann begriff auch Viviane, wer da gegen ihren Bauch geklopft hatte.
„Das war das erste Mal, dass ich es selbst gespürt habe“, flüsterte sie strahlend und kraulte Baria mit der einen Hand die Ohren. Die andere legte sie über ihre Pfote.
„Weißt du, es ist schon seltsam, dass ich mich deine Mutter nenne, Baria. Wo du doch viel früher gemerkt hast, dass ich ein Kind erwarte, als ich selbst. Da kannst du mal sehen, wie viel mein menschlicher Instinkt wert ist gegen deinen animalischen. Hm. Woran das wohl liegt, dass ich da nicht mithalten kann. Vielleicht, weil mein Leben einfacher ist als deines. Du bist der Jäger, immer auf der Hut, um zu überleben. Und ich …“
Viviane gluckste leise und sah Baria in die wachsamen Augen. „ … kann noch viel von dir lernen. Doch nun steigt Ostara über den Horizont, umhüllt von ihren schönsten goldenen Gewändern. Es wird Zeit für uns.“
Baria erhob sich und legte ihrer Ziehmutter die Pfote auf die Schulter, so, wie es Viviane mit ihr machte, wenn sie sich hinlegen sollte. Viviane verstand und wartete geduldig, bis Baria wiederkam.
Sie war nicht allein.
Drei kleine Wölfchen folgten ihr und tapsten zielstrebig auf Viviane zu. Sie beschnupperten ihre Hände, kletterten über ihre Beine und drehten sich ein paar Mal um sich selbst. Nach kurzem Gerangel hatte jeder einen Platz auf Vivianes Kleid gefunden und sie kuschelten sich eng aneinander. Viviane streichelte Baria mit der einen und ihre Jungen mit der anderen Hand.
Nach einer Weile erhob sich Baria und trug ihre Kleinen der Reihe nach wieder in den Bau. Sie kam noch einmal zurück und legte Viviane ihre Pfote aufs Knie. Viviane legte ihre Hand darüber.
„Wenn du mich rufst, werde ich da sein. Wenn ich dich rufe, wirst du da sein. Bis bald, meine Tochter.“