Читать книгу Darwin - Petra Werner - Страница 8
III.
ОглавлениеSchon das Papier des Briefumschlags, den ihm der Postbote auf dem sauber geharkten Weg vor dem Haus übergab, zeigte durch seine fremdartige gelbe Farbe und die grobe, ungewöhnliche Struktur die exotische Herkunft an, ebenso die bunten Briefmarken und zahlreichen Schmutzflecken, die scharf nach Schwefel rochen. Darwin hielt den verschlossenen Umschlag für einen Moment unter die Nase. Seine Erinnerung täuschte ihn nicht – es war der unvergessliche Geruch von Vulkanen, jene abenteuerliche Mischung aus Verbranntem, Schimmelkäse, frischen Erdbeeren, Kloake und einer Komponente, die man nie herausbekommen würde, vielleicht handelte es sich um Reste eines tödliches Gases, das aber auf dem weiten Weg durch die Poststationen verflogen war.
Das Schreiben war tatsächlich auf Ternate, einer Vulkaninsel im Malayischen Archipel, aufgegeben worden und hatte den Schwefelatem seiner Umgebung angenommen. Der Absender hieß Alfred Russel Wallace. Darwin kannte den begabten jungen Naturforscher und wusste, dass er zurzeit allein durch Malaysia, Borneo und andere Gebiete des Archipels reiste. Eine Persönlichkeit wie Wallace vergaß man nicht: Auf den ersten Blick wirkte er elegant wie ein Dandy, aber sein gewölbter Brustkorb und die krummen Beine verrieten Mangelernährung, wie sie in den Armenvierteln der wachsenden Großstädte und auf Schiffen üblich war, seine Bewegungen wirkten in Momenten, in denen er sich nicht unter Kontrolle hatte, eckig. Sein Gesicht erinnerte an ein nicht entgratetes Metallstück aus einer der vielen Manufakturen seiner Geburtsstadt Usk, auch seine Hände schienen Metallgeruch auszuströmen. Seine Augen strahlten gierig von verschwimmender Ferne und dem Wunsch, große Entdeckungen zu machen. Darwin las die Briefe von Wallace gern, weil der es verstand, seine Reiseerlebnisse farbig und mit einem unschuldigen Hang zur Dramatik zu schildern, der die feinen Härchen auf seinem Oberarm sträuben machte.
Darwin empfand, in seinem Garten stehend und von der Bläue des Frühsommertages eingehüllt und durch sie gestärkt, den noch ungeöffneten Brief in den Händen, freudige Erregung, etwa so, als schaue er auf den Einband eines Abenteuerromans. Seine, Darwins, Abenteuer fanden seit Jahren, Jahrzehnten gar, im Kopf statt, seine Reiselust trat nur zuweilen und als Anfall auf und zeigte ihm, dass die Begierden noch nicht erloschen waren. Das Außerordentliche, der unerwartete Reiz, das Dämonische blieben seiner Phantasie vorbehalten. Aber sobald ein bestimmtes Wort fiel, etwa »Macchiabusch« oder »Meeresleuchten« oder jemand erwähnte in der Kneipe zum »Georg, dem Drachentöter«, heiser vor Sehnsucht, den Namen eines Vulkans, vielleicht nur, weil er über dessen Ausbruch in der Zeitung gelesen hatte, begannen sich Erinnerung und Phantasie zu einem eng gewobenen Gebilde zu verknüpfen. Dann sah sich Darwin wieder in der Steppe liegen, nur die Sterne in kalter Klarheit über sich, ein Eigenbrötler, gebettet auf die Gewissheit, dass das ganze Universum ihn beherrsche, besitze und verlasse zugleich, oder, was häufiger vorgekommen war, an der Reling stehen, eingehüllt in den Mantel des Windes, das Gesicht der salzigen Gischt ausgesetzt, und unbekannte, unbewohnte Inseln ohne Namen, die nur drei Menschen vor ihm, wenn überhaupt, jemals gesehen hatten, zogen in langer Reihe vorüber. Gelegentlich genügte Darwin auch ein Wort, das jemand falsch aussprach, eine Verwechslung, eine akustische Täuschung, eine Silbe, die im Nebel hängen geblieben war wie eine dunkle Frucht, um den intensiven Geruch nach Schweiß, gebratenem Fleisch, Gewehröl und Verwesung, dominiert von Minze- und Macchiaduft, zu imaginieren.
Und nun der Brief vom jungen Wallace, der erschien wie ein als Poltergeist verkleideter Erzengel. Hohe Luftfeuchtigkeit. Dickdunstiger roter Himmel, in dem eine riesige Sonne schlagartig untergeht und nur Dunkelheit zurücklässt. Hitze. Das Gebrüll von Affen. Der Singsang von Zikaden, dieses ewige Hintergrundgeräusch der Tropen.
Nein, in den Dschungel hatte es Darwin nie gezogen. Er liebte das Offene, die freie Fläche, die der Phantasie Raum gab. Darwin hatte sich mit Kollegen über diese seltsame Vorliebe unterhalten, mit Christian Gottfried Ehrenberg zum Beispiel, der Wüsten liebte, und Alexander von Humboldt, der beides kennengelernt hatte, tropische Fülle und die Kargheit der Ebenen Patagoniens und sich im Zweifelsfalle immer für Patagonien entschied. Diese Ebenen konnten nur durch Abwesendes beschrieben werden: ohne Wohnstätten, ohne Wasser, ohne Bäume, ohne Berge trugen sie meist zwerghafte Pflanzen, und Darwin fragte sich oft, warum ausgerechnet diese baum- und strauchlosen Ebenen einen so festen Platz in seinem Gedächtnis errungen hatten. Darwin konnte für sich selbst diese Empfindung kaum verstehen, war jedoch davon überzeugt, dass hier der Einbildung volle Freiheit gegeben war. Die Ebenen Patagoniens waren ohne Grenzen, sie waren kaum zu durchschreiten und daher unbekannt, über Jahrhunderte hatten sie so bestanden, wie er sie gesehen hatte, und es schien ihm so, als bestände keine Grenze für ihre Dauer durch künftige Zeiten. »Wenn die flache Erde, wie die Alten vermuteten, von einem unüberschreitbaren Gürtel von Wasser oder von Wüsten umgeben wäre, die bis zu einem unerträglichen Übermaß erhitzt wären, wer würde nicht auf diese Grenzen für die Kenntnisse des Menschen mit tiefen, aber schwer bestimmbaren Empfindungen hinblicken?« Hatte er das bei Humboldt gelesen?
Wallace dagegen reizten Licht und Schatten, fettes, abenteuerlich wucherndes Kraut mit giftroten Blüten, das Versteck, in dem die Überraschung lauerte, ein unerwartetes Rascheln in den Baumkronen, Scharen von Fledermäusen, die seltsame Muster in den Himmel malten, kreischend über ihm dahinflogen und auf den Palmen dicke Krusten stinkenden Kots zurückließen. Große Vögel, die mit langen Hälsen und seltsam geformten Schnäbeln gravitätisch zwischen milchweißen Seerosen hindurchschritten, Blüten, die bei leisem Wind jenen Sahnetuffen auf Torten glichen, die sich in der Hitze auflösen und am Ende an Tröpfchen von Mondspucke erinnerten. Wallace konnte fünf Minuten lang fasziniert und ohne Anflug von Angst oder gar Mitleid zuschauen, wie sich im Gebüsch eine Korallenotter einer Maus näherte, in der Weite dagegen, so hatte Wallace einst gesagt, fühle er sich ausgeliefert wie ein Wurm auf einer Mauer. Außerdem bedeute der Dschungel Fülle, Artenreichtum, Vielfalt an Farben und Formen. Wenn Darwin Wallace’ Briefe las, staunte er stets, welche seltsamen Tiere es doch auf der Welt gab, welche verdrehten Formen, Hervorhebungen einzelner Organe, Anpassungen von Farben an die Umgebung! Ihm fielen winzige, hundeartige Raubtiere mit riesigen Ohren ein, Heuschrecken, die Blütengebinden aus grünen und roten Paradies- oder Teufelsblumen glichen, und Kröten, die den Gesichtsausdruck alter, grimmiger Männer zeigten. Und erst die Käfer. Ihm fiel die Begegnung mit einem alten Bauern aus seiner Heimatstadt ein, der das erste Mal in seinem Leben im Londoner Zoo war. Dort hatte er Elefanten und Tiger gesehen und, nach Hause zurückgekommen, ausgerufen: nein Kinder, das müsstet ihr aber mal sehen, da laufen lebendige Tiere herum, die es gar nicht gibt!
Darwin öffnete genussvoll und langsam den Umschlag des soeben eingetroffenen Schreibens und nahm das blaue, sehr dünne Briefpapier in die Hand. Es war so hauchzart, dass die Sonne hindurchschien, die Schatten der Büsche zu sehen waren, und so blau, dass es die Bläue des Himmels verstärkte. Diesmal schilderte ihm Wallace seine Beobachtungen über Baumkängurus und Flugfrösche und legte sogar eine Zeichnung bei. Äußerlich wirkten diese Lebewesen, so Wallace, wie eine Fehlkonstruktion der Natur, so seltsam plump und ohne Proportion der Gliedmaßen. Die weiblichen Tiere seien etwas größer als die Männchen, auch die Aufzucht ihrer Jungen, so Wallace mit ironischem Unterton, betrieben sie merkwürdig und unlogisch. Das Junge komme zu früh zur Welt und bliebe als Frühgeburt fünf Monate lang im Beutel, aus dem es ab und zu den Kopf herausstecke. Warum nicht?, dachte Darwin. Immerhin bedeutete ein Beutel die Sicherheit einer Höhle.
Auch Flugfrösche hatte Wallace eindrucksvoll geschildert, beobachtet auf Sumatra, Borneo und in Thailand. Diese Tiere hatten sehr große, vorstehende Augen, Haftscheiben an den Fingerspitzen und Schwimmhäute zwischen den Zehen. Die Schwimmhäute benutzte der Frosch nach Beobachtung von Wallace jedoch nicht zum Schwimmen, sondern spannte sie wie kleine Fallschirme auf. Wallace selbst hatte den Frosch damit im tropischen Regenwald von Baum zu Baum schweben sehen und auch beobachtet, dass die Flugfrösche ausschließlich zur Paarung die Baumkronen verließen. Die Weibchen produzierten ein Sekret, das sie mit den Beinen zu Schaum schlugen, um daraus ein Nest zu formen.
Diese Gegenden der Welt, in denen Wallace Kängurus, Frösche, Käfer und Spinnen sammelte, würde er, Charles Robert Darwin, nie sehen. Wenn er eines im Leben verloren hatte, so war es die Fähigkeit der Jugend, sich kurz entschlossen auf eine weite, gefahrvolle Reise zu begeben, über sich nur den Himmel.